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Dieser Artikel ist in der MSZ 9-1987 erschienen.


Ein Rationalist phantasiert

Popper ist zeitlebens nicht müde geworden, die paar gar nicht kühnen wissenschaftstheoretischen Einfälle seines Lebens zu wiederholen - und vor allem zu popularisieren: "Ich glaube ein wichtiges philosophisches Problem gelöst zu haben: das Induktionsproblem. (Ich muß die Lösung etwa 1927 gefunden haben.)" - so läßt er sich 1971 vernehmen. Seine "Lösung" stellt er so vor: "Ich glaube also, daß beide Formulierungen (des Problems!) einfach unkritisch sind, und ähnliches würde für viele andere Formulierungen gelten. Meine Hauptaufgabe wird also sein, das Problem neu zu formulieren, das nach meiner Auffassung hinter dem traditionellen Induktionsproblem steht." (Hervorgehoben von Sir Karl)

Was kümmern einen Popper die Analysen eines Hume, der mit der Induktion nicht zurechtkam, weil er sie für einen Weg von der Erfahrung zum Wissen hielt und doch diesen Weg für ungangbar hielt! Er formuliert einfach neue "Probleme", stößt bei ihrer Lösung auf wieder neue, die sich als die alten entpuppen - so daß er 1973 schon wieder etwas Altes von sich über das Verhältnis von Erfahrung und Hypothese in Druck gibt. Nicht ohne sich freilich in die kindgemäße amerikanische Art, Wissenschaftstheorie zu treiben, eingelebt zu haben: Er bemüht die gesammelte Vorstellungskraft des Publikums, indem er ihm die Frage zur Entscheidung anbietet, ob das Erkennen eher wie ein Kübel oder wie ein Scheinwerfer gehe. Und daß Wissenschaft so funktioniert wie so ein Gerät, genügt ihm noch nicht einmal bei seinen Plausibilitätsbemühungen. Er erklärt sie auch als schlichte Fortsetzung jener praktischen "Problemlösungsverfahren", die bei der Amöbe ihre Premiere hätten. Und das mit einem einzigen verkehrten Gedanken, dem des "Vorher oder Nachher" als Argument. Wir geben die nur für Hartgesottene verträgliche Darbietung im Original wieder, in der Hoffnung, daß wenigstens die bemerken, daß dieser geadelte Spinner weniger "Probleme gelöst" hat als die dümmste Amöbe:

"Die Frage, was zuerst kommt, die Hypothese oder die Beobachtung, erinnert natürlich an die Frage, was zuerst kommt, die Henne oder das Ei. Aber sie ist lösbar. Die Kübeltheorie läßt natürlich die Beobachtung der Hypothese immer vorausgehen (ganz wie das Ei, ein einzelliger Organismus, der Henne vorausgeht), da sie diese als eine Art von Resultat auffaßt, das aus den Beobachtungen durch Generalisation oder Assoziation oder Klassifikation entsteht. Im Gegensatz dazu werden wir sagen, daß die Hypothese oder Erwartung oder Theorie, oder wie wir es nennen wollen, der Beobachtung vorausgeht, wenn auch die Beobachtung, falls sie die Hyothese falsifiziert, Anlaß zu einer neuen (und damit späteren) Hypothese werden kann.

Das alles gilt insbesondere auch für die wissenschaftliche Hypothesenbildung. Wir erfahren ja erst aus den Hypothesen, für welche Beobachtungen wir uns interessieren sollen, welche Beobachtungen wir machen sollen; die Hypothese wird zum Führer zu neuen Beobachtungsresultaten.

Ich bezeichne diese Ansicht als die "Scheinwerfertheorie", im Gegensatz zur "Kübeltheorie". (Nach der Scheinwerfertheorie sind Beobachtungen Hilfshypothesen.) Die Beobachtungen werde zu Fällen, an denen die Hypothese (kritisch) geprüft wird. Wenn sie die Prüfung nicht besteht, wenn sie von den Beobachtungen falsifiziert wird, dann müssen wir uns nach einer neuen Hypothese umsehen - dann folgt die neue Hypothese jenen Beobachtungen nach, die zur Falsifikation der alten Hypothese geführt haben. Aber was den Beobachtungen Interesse und Relevanz verliehen hat, und was den Anlaß gegeben hat, sie überhaupt zu machen, das war eben die alte (jetzt verworfene) Hypothese.

In dieser Hinsicht ist also die Wissenschaft durchaus die Fortsetzung der vorwissenschaftlichen Arbeit an den Erwartungshorizonten. Sie beginnt niemals mit nichts, sie kann niemals als voraussetzungsfrei bezeichnet werden, sondern sie setzt in jedem Moment einen Erwartungshorizont voraus - den Erwartungshorizont von gestern, sozusagen. Sie baut auf der Wissenschaft von gestern auf (und ist damit das Ergebnis des Scheinwerfers von gestern), diese wieder auf der Wissenschaft von vorgestern, usw.; und die älteste Wissenschaft baut auf vorwissenschaftlichen Mythen auf, und diese schließlich auf älteren Erwartungen. Ontogenetisch (das heißt, im Hinblick auf die Entwicklung des Einzelorganismus) kommen wir so zum Kleinkind, phylogenetisch (im Hinblick auf die Entwicklung der Art, des phylum) zu den einzelligen Organismen. (Von einem verbotene unendlichen Regreß kann hier aus mehreren Gründen keine Rede sein - schon deshalb nicht, weil ja ein Horizont von Reaktionsbereitschaften jedem Organismus angeboren ist.) Von der Amöbe zu Einstein ist, sozusagen, nur ein Schritt." (Karl R. Popper, Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg 1973, S.374f,)