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Dieser Artikel ist in der MSZ 12-1984 erschienen.

Die "Neubelebung" der Westeuropäischen Union
DIE BUNDESREPUBLIK MACHT IN EUROPA MOBIL

1948, gleich nach dem Ende des 2. Weltkriegs, wurde der "Brüsseler Pakt" abgeschlossen, ein militärisches Bündnis mit "automatischer Beistandspflicht", das unter Federführung der beiden westeuropäischen Siegermächte, Frankreich und Großbritannien, entstand. Belgien, Luxemburg und die Niederlande schlossen sich an.

Das Vertragswerk richtete sich ursprünglich gegen ein "Wiederaufleben deutscher Aggression", also gegen ein mögliches Wiedererstarken Deutschlands mit faschistischem Weltmachtanspruch. Außerdem wurde die Sowjetunion, der ehemalige Verbündete gegen Hitler-Deutschland, zum neuen Feind definiert:

"Der Vertrag... war klarer Ausdruck des Gefühls wachsender Bedrohung durch die UdSSR."

1954 wurde durch den Beitritt der frisch gegründeten BRD sowie Italiens zum "Brüsseler Pakt" ("Westunion") die WEU ("Westeuropäische Union") gegründet.

Grundlage für diese Entscheidung war das von den Amerikanern systematisch betriebene Interesse, die BRD zum sowohl ökonomisch als auch militärisch potenten Frontstaat gegen die "russische Bedrohung" auszubauen. Deutsche Politiker, allen voran Konrad Adenauer, sahen darin die historische Chance, Deutschland wieder zu höchsten nationalen Ehren zu verhelfen:

"Es muß das höchste Ziel einer deutschen Regierung sein, die Souveränität und Gleichberechtigung innerhalb des westlichen Lagers zu erreichen."

1955 trat die BRD in die NATO ein.

1984, im Oktober, verkündeten die Außen- und Verteidigungsminister der sieben Mitgliedsstaaten der WEU in ihrer "Erklärung von Rom" den Willen, dieses Bündnis "neu zu beleben":

"Das außerordentliche Treffen zum 30jährigen Bestehen der WEU, dem turnusmäßig Bundesaußenminister Genscher vorsitzt, soll das Bündnis wieder aktivieren." (Süddeutsche Zeitung)

Konkret wurde zunächst beschlossen, sämtliche noch bestehenden Beschränkungen für die deutsche Rüstungsindustrie aufzuheben - ausgenommen ABC-Waffen:

"In der Praxis erhält die deutsche Rüstungsindustrie mit der Aufhebung der Produktionsbeschränkung das Recht, Überwasserschiffe von mehr als 6000 Tonnen Verdrängung für den Eigenbedarf zu bauen."

Das Verbot der Produktion strategischer Raketen und Langstreckenbomber war bereits im Juli gestrichen worden. Endlich ist es also offiziell besiegelt, daß die Nation, die aus ihren paar Rüstungsbeschränkungen ein Plus gemacht und die modernste und stärkste konventionelle Armee Europas auf die Beine gestellt hat, nun gleichberechtigt auch auf den Feldern der größeren Waffen in die Rüstungskonkurrenz eingreifen darf.

Der Kommentar von Minister Genscher:

"Mit den Beschlüssen von Rom sind die Weichen für ein kraftvolles Europa gestellt."

Ein schöner F ortschritt! Der ehemalige Verlierer des 2. Weltkriegs ist der Vorreiter eines "kraftvollen Europa".

Europäische Weltmacht BRD

Offenbar ist der BRD ihre bisherige Rolle im Bündnis eine Nummer zu klein geworden: "Bloß" die Aufrüstungsvorgaben der USA zu erfüllen und dabei das leuchtende "Vorbild" für die restlichen NATO-Mitglieder zu spielen, reicht deutschen Führern heute nicht mehr aus. Hat die Republik doch gerade durch die stets mustergültige Erfüllung ihrer NATO-Aufgaben einen Machtzuwachs erhalten, der die Ansprüche steigert. In Sachen "Stärke" und "Bedrohung" des Hauptfeindes mißt sich die Bundesrepublik bereits am NATO-Führer und deswegen kommt Genscher wieder einmal auf die Idee Europa:

"Europa und Amerika bilden die beiden Pfeiler, auf denen das atlantische Bündnis ruht, beide müssen stark und tragfähig sein... Nicht die USA sind zu stark, im Bündnis, sondern Europa bringt sein Gewicht zu wenig zur Geltung."

So drückt der deutsche Außenminister den Willen aus, in der NATO einen Weltmachtanspruch zur Geltung zu bringen. In der "Bündelung" der militärischen, militärpolitischen und militärtechnologischen Schlagkraft aller WEU-Staaten wittert die Regierung nämlich die Chance, die nationale Schlagkraft weltweit zu erhöhen! Schließlich hat die Bundesrepublik eine florierende Wirtschafts- und Finanzkraft in die Waagschale zu werfen und gewinnt - nun militärpolitisch gleichberechtigt - gleich doppelt: an entscheidendem Einfluß auf die europäischen Mitstreiter in der WEU und an Gewicht bei den USA durch die engere europäische Kooperation.

Alles gute bundesdeutsche Gründe, daß Genscher dazu aufrief, "sich für eine verstärkte Abstimmung in der Verteidigungspolitik einzusetzen". Die ist jetzt kein Wunschtraum mehr. Der Ministerrat der WEU hat halbjährliche Treffen der Außen- und Verteidigungsminister und eine engere sicherheitspolitische Zusammenarbeit sowie eine

"gezielte Zusammenarbeit der WEU-Mitglieder im Bereich der wehrtechnischen Grundlagenforschung und bei der industriellen Wartung eingeführter Waffensysteme"

beschlossen. Außerdem hat man die feste Absicht bekundet, daß

"die europäische Leistungsfähigkeit und ihre Reserven durch intensive Zusammenarbeit wirkungsuoller genutzt werden, auch bei den Rüstungskapazitäten. Außer einem Impuls für gemeinsame Projekte strebt die WEU auch an, das bisherige riesige Übergewicht Amerikas bei Rüstungslieferungen an Europa (7:1) angemessen auszubalancieren."

Auf der einen Seite kann sich keine europäische Nation diesem deutschen Anspruch entziehen, will sie nicht in der innerimperialistischen Konkurrenz an Boden verlieren:

"In Europa selber hat die gewünschte Renaissance der WEU keineswegs von Anfang an begeistert. Als Paris Anfang des Jahres ein Memorandum über die künftige Ausgestaltung der Organisation vorlegte, schreckte Groß britannien zurück. Erst die Erkenntnis, daß es den Anschluß an eine nicht aufzuhaltende Entwicklung verpassen könnte, stimmte die englische Diplomatie um." (Die Zeit)

Auf der anderen Seite aber können die USA zufrieden sein mit der militärischen Stärkung ihrer Bündnispärtner und dem Machtzuwachs ihrer vorgeschobenen Raketenstation BRD; sie selbst drängen schließlich beständig auf größere Rüstungsanstrengungen Europas und haben unter dem Ansinnen nach einer gerechteren Bilanz der Rüstungsgeschäfte noch nie gelitten; schon gar nicht, wenn sie mit ihrer Führungsrolle in der NATO die einschlägige Industrie in allen Staaten anheizen.

Bündnisstärkende Konkurrenz

Für die USA hätte es die Beteuerungen,

"daß eine Stärkung der WEU nicht gegen die USA gerichtet sei, sondern der Verbesserung der Zusammenarbeit in der NATO diene, der die WEU-Länder angehören",

also sicher nicht gebraucht. Den wahren Adressaten solcher Äußerungen hat die Öffentlichkeit mit ihrem nationalistischen Stolz ganz von selbst herausgefunden.

Ein "Zeit"-Journalist klärt stellvertretend für alle darüber auf, wofür Europa "zu schwach" ist und gegen wen sich die neue Stärke richtet:

"Gegenüber dem Orten könnten sie ihre Positionen stärken, indem sie alle Moskauer Spekulationen zusammenbrechen lassen, daß die Europäer einfach Vasallen Amerikas sein möchten oder sich von ihrer Führungsmacht abkoppeln möchten."

Die imperialistische Konkurrenz um Macht und Einfluß im NATO-Bündnis schwächt eben nie und nimmer dieses Bündnis!

Kaum aus Rom zurückgekehrt, stellte Genscher in einer Regierungserklärung fest: "Bonn will keine strategischen Waffen bauen." Waren der Mann und seine Kabinettskollegen etwa bloß scharf auf die Erlaubnis, diese Machtmittel unter bundesdeutscher Regie herstellen zu dürfen? Sollten sie das Recht, sich zu stärken, mit seiner Wahrnehmung verwechseln? Oder wollten sie es sich garantieren lassen, weil sie es auf keinen Fall anwenden wollen?

1991 - Frau von Weizsäcker tauft den ersten Flugzeugträger der Bundesmarine auf den Namen "Berlin"! Oder ist es ein U-Boot einer neuen Größenklasse? Oder ein strategischer Bomber?...