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Dieser Artikel ist in der MSZ 6-1982 erschienen.

Systematik

Hans Jochen Vogel
KANDIDAT FÜR GLAUBWÜRDIGKEIT MITTEN IN DER SPD

"Gemausert? Natürlich habe ich auch dazugelernt. Ich mag die Leute nicht, die von sich behaupten, sie hätten mit 21 Jahren den äußersten Gipfel der Erkenntnis erreicht, und seitdem seien sie stehengeblieben. Natürlich habe ich mich geändert. Aber eine stärkere Überzeugungskraft wächst einem nicht aur durch die Argumente zu, die man verwendet, sondern vor allem auch durch das Vertrauen, das man sich auf seinem Lebensweg erworben hat."

Vertrauen und Glaubwürdigkeit sind vielgesagte Vokabeln des Kanzlerkandidaten der SPD. Hans Jochen Vogel hält sie nicht nur überhaupt für Attribute, die sich demokratische Herrschaft anstecken muß, er sagt sie nicht so daher, sondern will sie in seiner Person verkörpert wissen: "Das eigene Beispiel ist wichtig. "Der Oberbürgermeister von München, der Präsident des deutschen Städtetags, der Minister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, der Bundesjustizminister, der Regierende Bürgermeister von Berlin, der Fraktionschef der SPD in Berlin hat es geschafft, das berechnete Selbstlob der Vertrauenswürdigkeit als Politiker nicht nur aus der erfolgreichen Kontinuität in Amt und Würden abzuleiten - wer über 20 Jahre hohe Ämter im Lande innehat, der kann kaum umhin, das Vertrauen der von ihm Regierten zu genießen -, sondern auch und vor allem sich selbst in seinem eigenen untadeligen Einsatz für die Pflicht des Regenten und über seine Untertanen (gemäß der natürlich unterschiedlichen Moral dieser so ungleichen beiden Seiten) als eigentlichen Grund seiner Glaubwürdigkeit vorstellen zu können.

Hans Jochen Vogel gibt damit an, ohne daß dasselbe als anmaßende Angabe aufscheint, daß sein politischer Lebensweg und die Prinzipien, mit denen er ihn verfolgt habe, ihn auf jeden Fall für eine SPD-Kanzlerkandidatur qualifizieren. Und obwohl das schon Werbung für den eigenen und SPD-Erfolg ist, weiß Vogel den Eindruck zu erwecken, als wäre seine Tour keine politische Taktik, sondern alleiniger Ausfluß seiner politischen Moral, die so unvereinbare Dinge wie Herrschaft und Pflicht in einer Person verbinden will. Wie kriegt das nur ein Mensch, genuer, ein Politiker wie Vogel zustande?

Dazugelernt

Der auf der ganzen Linie seines Bildungswesens ein "Bruch-Einser", der als Jurist in der SPD an die Spitze der Münchner Kommunalpolitik gelangte, wo ihm in Wahlerfolgen von 64 und 78 Prozent die Herzen seiner Münchner Untertanen zuflogen, weil er als Mann mit scharfem Geist galt, als Autorität, die ihren Beamtenapparat straff führte, als Kommunalpolitiker, der seine Pläne für Wohnungsbau, Münchner Verkehrsverbund, Fußgängerzone und Olympische Spiele zielstrebig anpackte, als guter Anzapfer auf dem Oktoberfest - dieser 1960 fast mit einem Schlag zum fähigen Politiker avancierte Mann machte selbstverständlich in der Ausübung seiner Macht seine Lernfortschritte. Kaum im Amt, wußte er schon, daß man sich durch das konsequente Anpacken der Führungsaufgaben und mit der Herrschaftsideologie, von niemandem etwas zu verlangen, was man nicht auch von sich selbst verlangt, Gunst erheischen kann. Vogel setzte sein Oberbürgermeistergehalt unter das des 74-jährigen Vorgängers Thomas Wimmer. In Sachen Durchsetzung der Staatsgewalt gelangte er eben durch die Durchsetzung der Staatsgewalt zu neuen Erkenntnissen. Mit summa cum laude hatte er das Thema "Strafrechtliche Probleme des Widerstands gegen die Staatsgewalt" als Doktor abgeschlossen, war also prädestiniert für die Anwendung. Bei den Schwabinger Krawallen endete der Versuch, mit seiner Amtsautorität die Störer der öffentlichen Ruhe und Ordnung zur Aufgabe zu überreden, mit dem brutalen Einsatz der Polizei, angeblich, weil der Oberbürgermeister in seinem Ansehen einen Knacks erlitten hatte:

"Ich war im Grunde von der Bevölkerung verwöhnt und, wo immer ich erschien, freundlich aufgenommen worden. Mein Vertrauen auf meine Popularität war deshalb stark und fast ein wenig naiv. Hier hatte es einen Stoß, beinahe einen Bruch, erlitten, von dem es sich nur langsam wieder erholte. Ich leistete wohl auch deswegen keinen Widerstand mehr, als Präsident Heigl nunmehr der Polizei den Befehl zur unverzüglichen Räumung unter Anwendung des Gummiknüppels gab."

Später, während der Studentenrevolte, als "Vogel - Schah, ha-ha-ha"-Rufe an sein Ohr klingen und Eier fliegen, gegen einen "Gast", ein "ausländisches Staatsoberhaupt" sogar, hat der Oberbürgermeister keinen Bruch mehr erlitten. Er hatte mit einer "realen Reform" den Einsatz der Staatsgewalt effektiviert und konnte im Nachhinein aus den damaligen Protesten noch ein Lob auf die demokratischen Freiheitsrechte singen:

"Sicher hat der Vorgang auch umstürzlerische Kräfte ermutigt. Aber noch stärker war der Eindruck, daß der Freiheitsraum der Menschen und das Recht auf Meinungsäußerung in unserem Staat viel größer sind, als dies den meisten bis dahin bewußt geworden war. Der andere Aspekt war das neuartige Auftreten der Polizei. Zur Zeit der Schwabinger Krawalle wäre sie gegen die Demonstranten noch mit dem Gummiknüppel vorgegangen. Jetzt konzentrierte sie sich auf den Schutz der Gäste, vermied von sich aus die Konfrontation mit den Störern und filmte sie, statt sie an Ort und Stelle festzunehmen. Auch bemühte sie sich, zwischen dem aktiven Kern, den Mitläufern und der Masse der Neugierigen sorgfältig zu unterscheiden. Sie praktizierte die Münchner Linie."

- und zwar auch später mit aller gebotenen Härte gegen die Notstands- und Springer-Demonstranten und mit nachträglichen Vogel-Beileidsreden für einen dabei "unschuldig" zu Tode Gekommenen. "Verteidigung des Rechtsstaats und der demokratischen Regeln", aber eben auf der Münchner Linie, welche Vogel dann in der Frontstadt zur "Berliner Linie" fortentwickelte. Man isoliert die gewalttätigen Hausbesetzer od er Demonstranten der Szene und läßt diese unnachgiebig die Staatsgewalt spüren, sucht das Gespräch mit denen, die sich innerhalb der demokratischen Regeln sagen lassen, was sie alles nicht tun dürfen und bietet ihnen ein paar Möglichkeiten, mit ihrer Selbstinstandsetzung ohne Sicherheit für die Zukunft dem Staat nicht mehr zur Last zu fallen, der weiter Haus- und Grundbesitzer subventioniert. Vogel hat es auch in Berlin verstanden, das harte Eintreten für das Gewaltmonopol des Staates um den anderen Aspekt zu ergänzen, den Schein, er würde auf die Protestler oder Hausbesetzer zugehen und ihnen helfen, wenn er ihnen "per Dialog" die Regeln des Anstands gegenüber der Staatsgewalt beibringt. Bei den Uneinsichtigen kein Pardon kennen, die anderen aber mit dem Gebot der Toleranz, also per einnehmender Rede, zur Räson bringen, das hat Vogel die schöne Eigenschaft "liberal" eingebracht.

Fast analog zü seinen 'Fortschritten' im Umgang mit weniger harmlosen Demonstranten hat Vogel auch dazugelernt, wo es darum geht, mit dem Gegner im linken Spektrum fertigzuwerden. Bereut hat Vogel nicht, wie er die Auseinandersetzung mit der Münchner SPD-Basis führte, was ihm den Vorwurf einbrachte, er sei ein "Rechter" in der SPD. Und doch hat er es verstand en, sich von diesem Vorwurf fast ganz reinzuwaschen. Die aus der Höhe und Popularität seines Amtes geführte Bevormundung der Parteibasis, die ihm den Demokratischen Sozialismus in die Utopie jenseits der gegebenen staatlichen und wirtschaftlichen Ordnung zu führen dünkte - "Der Münchner Fußgängerbereich ist ein besseres Argument als die perfekteste Doppelstrategie; der Verkehrs-Verbund überzeugender als ein voluminöses 'Stamokap'Papier. -, deren "dogmatisierende Ideologien" ihm ein Greuel waren, beendete er damit, daß er sich im sicheren Wissen um den Niedergang der SPD enttäuscht abwandte und den sicheren weiteren Erfolg in Bonn suchte. Vogel betrachtete die Partei unter dem Gesichtspunkt ihrer und damit auch seiner realistischen Erfolgschancen. So kam auch sein vermeintlicher Wandel zustande, von dem es heißt, daß sich die Linken in der SPD darüber gewundert hätten. Der Mann der als beispielhafter sozialdemokratischer Kommunalpolitiker auch in der Partei aufgestiegen war, lernte in seiner Person die sozialdemokratische Doppelstrategie zu vereinbaren: Einerseits trat er vehement für Rechtsstaatlichkeit und Staatsautorität ein und hat sich darin in nichts geändert, andererseits bemühte er sich um Ausgleich mit den Parteilinken, predigte in der Grundwertekommission und auch sonst die Notwendigkeit der Offenheit der Partei in Richtung auf die "protestierende Jugend", die Grünen und Friedensbewegten. Hans Jochen Vogel hatte gemerkt, daß AKW-Gegner, Alternative und Friedensbewegte in der eigenen Partei nicht zu verwechseln sind mit den Münchner Jungsozialisten, die Abschaffung des Eigentums auf Grund und Boden forderten und ihn einen "realen Reformisten" schimpften:

"Diejenigen, mit denen wir es heute zu tun haben, sind von dogmatisierten Ideologien ziemlich weit entfernt."

Aus der Überheblichkeit gegenüber seinen Münchner Widersachern ("Genosse, davon verstehst du nichts") wurde die Überheblichkeit der über parteilichen Auseinandersetzungen stehenden Integrationsfigur, die den höheren Zweck der Partei im Auge behält, und die staatsmännische Anmaßung, als "dialogfähiger Demokrat" sich für die ganze halb-abgefallene Jugend offenzuhalten, so als ginge es ihm nicht um den Erfolg seiner Partei, sondern um den ewigen Wert, nämlich "die Bereitschaft, zuzuhören und sich auch selbst zu korrigieren".

Wahrlich ein radikaler Lemprozeß. Der Politiker Vogel hat sich zur gar nicht doppelten Doppelstrategie der Sozialdemokratie gemausert und strengt sich an, sie in seiner Person ganz glaubwürdig werden zu lassen. Wahrscheinlich braucht er sich dafür nicht einmal anzustrengen, denn sein Gesicht weist genauso die Seite des selbstbewußten Durchblickers auf wie die Weltschmerzmiene, als denke er mit Sorgen an die drohende Nachrüstung oder daran, wie er mit dem letzten alternativen Jugendlichen bloß ins Gespräch kommen könne. Dieser Mensch soll ein "Generalist" sein, wohl weil er die folgenden zwei Dinge in seinem sozialdemokratischen Politikerschädel vereinigt: 1. die Liberalität, daß der Freiheit des Staates Opfer gebracht werden müssen -

"Mein Staatsverständnis in dem Sinne, daß dieser Staat Anforderungen zu stellen hat, daß seine Fähigkeit, das zu schützen, was ihm zu schützen aufgetragen ist, nicht Schaden leiden darf, hat keinerlei Korrekturen erfahren. Dafür ist wohl die Zeit, in der Schleyer entführt war und Mogadishu stattgefunden hat, der erste Beweis. Sie wissen, daß ich schon im Fall Lorenz und dann bei der Geiselnahme in Stockholm der Meinung war, der Staat dürfe um seiner Schutzfähigkeit willen nicht nachgeben." -;

2. die Liberalität, gleichzeitig "vor Überreaktionen des Staates und vor der Aushöhlung der Bürgerrechte" zu warnen.

Argumente

haben auch den Vogel mit den glänzenden Bildungsabschlüssen nicht zum Anwärter auf den Posten des Chefs der Republik werden lassen. Das Wort zum Sonntag beherrscht er wie alle seine Politikerkollegen, natürlich vergißt er nicht, ein wenig Sozialdemokratie unterzumengen:

"Ich rede keinem Anti-Auto-Kreuzzug das Wort. Ich biete auch keine in sich geschlossene Autophilosophie. Auch empfehle ich kein Patentrezept, mit dessen Hilfe alle Probleme verschwinden. Ich meine nur, daß es Zeit ist, an die Zukunft zu denken und Entwicklungen nicht einem angeblichen Automatismus zu überlassen. Entwicklungen sind Folgen menschlichen Tuns und deshalb auch von Menschen zum Besseren hin korrigierbar. Mit diesem Ziel sollten wir eine Koalition, eine große Koalition der Vernunft, bilden. Denn das Auto ist bei aller Faszination, die auch heute noch von ihm ausgeht, kein Selbstzweck, kein selbstgeschaffener Götze. Es ist vielmehr ein Mittel zum Zweck, dem Menschen das Leben leichter, erträglicher, vielfältiger -zu machen, ihm zu dienen - nicht ihn zu verführen oder zu beherrschen. Das sollten wir nicht aus den Augen verlieren. Auch nicht angesichts des 'Autos des Jahres'."

Dieser Sinn war schon 1972 durch Vogel gesprochenes Wort. Er könnte ihn heute wiederholen und brauchte nur 'Auto' durch 'Vogel' zu ersetzen. Es würde passen.

Dann hat sein großer Geist noch den Begriff "reale Reformen" für eine tiefe Wahrheit gehalten, wobei man nicht weiß, ob es denn wirklich "theoretische" Reformen gibt. Nun gut, er hat damit sagen wollen, daß seine Stadtentwicklungspläne, seine Gesetzeswerke innerhalb der Verfassung und auf dem Boden der freien Marktwirtschaft wirklich etwas verändert haben und so viel sozialdemokratischer sind als der Vorschlag, den Abs zu enteignen oder den Vietnamkrieg zu verurteilen. Aber ist das ein Argument? Daß Vogel heute meint, die SPD solle das konservative Subsidiaritätsprinzip (= "Selbsthilfe vor Staatshilfe") nicht in Bausch und Bogen verurteilen, darauf ist er auch nicht durch gescheites Nachdenken gekommen, sondern durch parteitaktische Abwägung, daß die SPD-Propaganda für "Solidarität" heute so auszusehen hat. Nein, Vogel hat seine ihm zugesprochenen Qualitäten -

"Fundierte Urteilskraft und bestechende Formulierungsfähigkeit, intellektuelle Brillanz... strenge Selbstzucht... wichtigster Sachwalter und Debattierer in der Kabinettsrunde... breites Themenspektrum (s.o.)... persönliche Autorität..." (Die Zeit) -

mit der Macht als Talent empfangen und sie darin gepflegt, das aber mit persönlicher Autorität. Mit dem Bekenntnis - doch nicht mit einem Argument - zur SPD als Staatspartei und zum Staat als notwendigen Gewaltapparat, in dem man selbst sitzt:

"Wir werden nichts gutheißen können, was etwa dem Gedanken der sozialen Gerechtigkeit zuwiderhandelt. Wir werden nichts gutheißen können, was die Schutzfähigkeit unseres Staatswesens, in welcher Richtung auch immer, beschädigt."

Mit dem Bekenntnis, und auch dafür muß man Macht haben, sonst kommt man gar nicht erst drauf, Glaubwürdigkeit ganz ernst und echt mit wirklichen Gesprächen mit den von der Glaubwürdigkeit Betroffenen und überhaupt mit dem potentiellen SPD-Wähler 'Jugend' zu demonstrieren, ohne allerdings das Monopol zu verunglaubwürdigen:

"Der als Dialog ausgegebene Politiker-Monolog, bei dem bald der Verdacht auftaucht, es gehe nicht um die Sache, sondern um Wählerstimmen und zu diesem Zweck zunächst einmal um Medienwirksamkeit, gehört übrigens in eine verwandte Kategorie. Das heißt beileibe nicht, die Älteren sollten den Jüngeren nicht widersprechen, keine festen Standpunkte beziehen oder sich gar anbiedern. Im Gegenteil," (Sagt der ältere Weise zu seinem jungen Sohn.) "Beispielsweise muß das Gewaltmonopol des Staates mit aller Festigkeit vertreten und verteidigt werden."

Vertrauen

hat sich diese Inkarnation der Sozialdemokratie an der Macht, die es auch mit dem politischen Gegner in der CDU immer gut konnte, zu nächst einmal und vor allem (nicht durch seine blitz-gescheite Einser-Intelligenz, die der Wahrheit auf den Grund geht, sondern) durch seine erfolgreiche Besetzung von hohen Ämtern der Macht verschafft. Aber das ist nichts Besonders, wo doch Vertrauen in die Politikerfiguren letztlich gar nicht anders zustande kommt als durch die Untertänigkeit vor der gelungenen Herrschaft. Aber damit wäre der Vogel nicht der Vogel, der besonders glaubwürdig sein soll, was er selbst betont. Hans Jochen Vogel hat sich zum Kronprinzen Helmut Schmidts gemausert, weil er in jeder Kabinettsrunde zu jeder Frage etwas Gescheites beizutragen wußte (was er sagte und welche Kriterien er dabei anlegte, mag der Leser nach dem Bisherigen selbst entscheiden!); weil er Fraktionsauseinandersetzungen mit irgendeinem Gelabere über die Erfolgsaussichten der SPD zwischen rechts und links glättete; weil er in Sachen Souveränität der Staatsgewalt seinen ganzen Geist für das Prinzip: "Kein Pardon!" einsetzte:

"Wenn ich bei der Mogadishu-Geiselentführung den Vogel nicht gehabt hätte, wäre unser Unternehmen wahrscheinlich schiefgegangen." (Schmidt über Vogel)

Aber auch das ist noch nicht der ganze Vogel wie er geht und steht. Derselbe Mensch, der unbeirrt dafür eintritt, das Gewaltmonopol des Staates bis aufs Messer zu verteidigen derselbe, der die Macherqualitäten des Staatsmannes Schmidt überaus schätzt, will die eifrige Herabneigung zum geliebten Bürger als seine spezielle Güte gewertet wissen.

"Ich stelle eine Alternative, eine andere Option dar, wenn Sie so wollen: ein Stück bürgernähere - und Bonn-fernere Option, und ich habe den Eindruck, daß dies jedenfalls kein Nachteil ist."

Diese Einser-Type war so begeistert von seiner ersten Popularität als Politiker, daß er sie fortsetzen wollte und seitdem als sein Programm auch ohne die Münchner Arbeitnehmerschaft abwickelte. Sein Büro hält er auch gegen die nicht sehr geliebte Münchner Parteibasis in seinem Münchner Wahlkreis immer noch aufrecht. Nach neunjähriger Ministertätigkeit in Bonn in Berlin eingesetzt, weil nur er die Chance hat, die SPD-Scheiße in der Frontstadt aus dem Dreck zu ziehen, demonstrierte er - der Politiker, wohlgemerkt - proletarische Tugenden: Arbeitstage von 15 Stunden, Feldbett im Arbeitszimmer bzw. am Ort des Oppositionsführers; seine Frau "Liesl" nahm extra keinem Berliner Slumbewohner seine Wohnecke weg, sondem mußte auf Geheiß ihres schon einmal geschiedenen - Alten eine extra teure Wohnung mieten, an die ein Berliner Lohnarbeiter sowieso nicht rankommt. Hans-Jochen Vogel hat auch extra Probleme, ob er die inzwischen in sein Herz geschlossenen Berliner einfach verlassen darf. Hat er doch schon morgens um 5 vor den Betrieben Flugblätter verteilt - am nächsten Tag in München um 5 Uhr an einer Straßenbahnhaltestelle im Münchner Norden -, aber er entschließt sich schweren Herzens, der höheren Pflicht nachzu kommen, ohne seinem Berliner Proletariat in den Rücken zu fallen. Das sagt er auch noch selbst, dieser Politiker, der seine Arbeitskraft nicht an einen Kapitalisten verkaufen muß, sondern seinem politischen Geschäft "opfert":

"Diese Aufforderung stellt mich vor eine schwere Entscheidung. Einerseits habe ich vor den Wahlen im Frühjahr 1981 zugesagt, der Stadt für die ganze Legislaturperiode zur Verfügung zu stehen, und zwar auch dann, wenn meiner Partei die Rolle der Opposition zufällt. Im Einklang damit bin ich von München nach Berlin übergesiedelt (extra) und hier heimisch geworden. Und zwar persönlich (extra) -als auch in meiner politischen Arbeit im Parlament, in meiner Partei und unter (extra) den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt. Meine Wohnung am Elvirasteig (extra), der Vorsitz im Petitionsausschuß, der seitdem über 70 Sitzungen abgehalten hat, mehr als 20 Betriebsbesuche (extra), und mein Bürgerbüro, das inzwischen von mehr als 3000 Bürgerinnen und Bürgern (extra) aufgesucht worden ist beweisen, daß es sich dabei nicht nur um eine Floskel (extra) handelt. Auf der anderen Seite bedeutet die Aufforderung einen großen Vertrauensbeweis (extra). Jeder weiß, was es bedeutet, von seinen Freunden (extra, liebe Berliner Arbeitnehmer und alternative Benutzer der Außentoilette) zur Kandidatur für ein Amt aufgefordert zu werden, das Willy Brandt (extra) und Helmut Schmidt (extra) insgesamt 13 Jahre innegehabt und das sie unverwechselbar (stimmt) geprägt haben. Und natürlich kann ich als Spitzenkandidat einen gewichtigeren (extra) Beitrag dafür leisten, daß die deutsche Sozialdemokratie von neuem den bestimmenden Einfluß auf die Gestalt der inneren und äußeren Verhältnisse der Bundesrepublik erringt (das beruhigt ungemein), als mir das als Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses möglich (extra) wäre... Das heißt indes nicht (extra), daß ich Berlin dann den Rücken kehre. Berlin bleibt mein Wohnsitz (extra). Ich werde auch das Bürgerbüro in der Schönfeldstraße (extra) fortführen und selbstverständlich werde ich auch in Bonn für Berlin arbeiten (e...)."

So ist er, der Vogel. Er setzt seine ganze Arbeitskraft darein, seine erfolgreich vorgeführte Bürgernähe in ihm genehme Wählerstimmen umzumünzen. Mit Arbeit hat das nichts zu tun, mag auch der Vogel noch so früh aufstehen. Denn wer von den Berliner Bürgerinnen und Bürgern könnte sich schweren Herzens nach Bonn abdampfen und trotzdem daheim bleiben. Der Vogel macht Überstunden, um seine Pflichterfüllung glaubwürdig zu vertreten. Das, was der Kandidat den Leuten verspricht, daß er den Staat schützen werde und die Bürger gerecht deckeln will, soll in ihm besonders vertrauenswürdig sein, weil er ja schon viele Stunden Tag für Tag und vor Ort dieser Herstellung der Vertrauensraürdigkeit widmet. Das ist der Vogel und seine politische "Kleiderordnung", wie er es nicht ohne Selbstlob nennt.