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STREIK DER SOWJETISCHEN BERGARBEITER
Seitdem es ihn gibt, berichtet das demokratische Pressewesen vom Umfang des Streiks der sowjetischen Bergarbeiter. Und dieselbe Öffentlichkeit, die hierzulande die kurzfristige Aussetzung der Briefzustellung als Testfall für die öffentliche Ordnung wertet, wundert sich überhaupt nicht und rechnet die Hunderttausende zusammen, die in der UdSSR unbefristet einen Hauptnerv der industriellen Produktion lahmlegen. Berichtet wird von den Wirkungen, die der Ausfall der beiden Zentren der sowjetischen Kohleförderung in der Ukraine und in Sibirien auf die restliche Wirtschaft hat. Und dieselben politischen Meinungspfleger, die hierzulande schon eine bloß symbolisch gemeinte Manifestation von Nichteinverständnis mit der Kohlschen Regierungskunst als nicht hinnehmbare Zersetzung eines Wirtschaftsaufschwungs in den Ostländern werten, geben, als ob nichts wäre, zu Protokoll, daß die gesamte "Sowjet-Wirtschaft durch Streiks vom Zusammenbruch bedroht" ist. Daß dieser Streik politische Gründe hat, geht für sie gleichfalls in Ordnung, obwohl solches hierzulande - weil verboten - nie ihre Billigung fände. Und als ob es guter demokratischer Brauch und Normalfall für Staaten wäre, daß Regierungen sich mit der Lahmlegung ihrer ökonomischen Machtbasis ihren Rücktritt nahebringen ließen, mutmaßen sie, ob und wie "Gorbatschow sich noch aus der Affaire ziehen" bzw."noch halten" könne. Daß, die ökonomischen Gründe des Streiks betreffend, das schwarzrotgoldige Herz auch für die sowjetsichen Bergarbeiter schlagen würde, war irgendwie abzusehen. Aber die Sympathie, die hier Russen gilt, weil sie Not leiden, hat auch nichts damit zu tun, daß sich die Maßstäbe der demokratischen Beurteilung der Rechte, die aus Armut abzuleiten gehen, geändert hätten. Unter Berufung auf erlittene Not mit Streik einen Staatnotstand herbeizuführen geht für Demokraten natürlich nur im Fall eines Staates in Ordnung, dem sie seinen Ruin an den Hals Wünschen: Hierzulande verstehen sich diese Menschenfreunde ja ziemlich gut darauf, die Verarmung im Volk als sachnotwendig und unumgänglich zu erachten, die der demokratische Staat unter Verweis auf seine Notlagen per Steuerbeschluß und anders herbeiregiert. Freilich entgeht dem interessierten demokratischen Blick nach Rußland die Sache nicht, wenn er den Streik der sowjetischen Bergarbeiter als politische "Zerreißprobe" und seine schon erreichten Wirkungen als Fortschritt im "Zerfallsprozeß" der Sowjetmacht würdigt, der wohl nicht mehr aufzuhalten gehen wird es wird schon so sein. Andererseits entgeht ihm wegen seines bornierten Interesses an der möglichst endgültigen "Überwindung kommunistischer Strukturen" im sowjetischen Staatswesen, die er für den Erfolg eines Untemehmens namens Perestrojka und einen "Aufbruch zur Marktwirtschaft" für unerläßlich hält, daß der ganze "Umbruch" in diesem Staatswesen in seinem Zusammenbruch besteht: Der Streik der sowjetischen Bergleute ist ein einziges Zeugnis davon, wie ungemein effektiv die Perestrojka und mit ihr die Erledigung des sowjetischen Staatswesens vorankommt.
Das Elend der streikenden Bergarbeiter: keine Seife, keine Wohnung, keine Lebensmittel - und noch weniger Ahnung, woher das alles kommt. Also auch kein Kommunismus, der helfen könnte
Schon bei ihrem letzten Streik umfaßte die Beschwerdeliste, für die sie von Gorbatschow Berücksichtigung einverlangten, in etwa dieselben Titel, mit denen die Bergarbeiter ihren gegenwärtigen Ausstand begründen: Versorgungsmängel bei den nötigsten Gütern des Alltagsbedarfs, von Seife und Textilien bis Fleisch und Gemüse; Wohnungsmangel; Geldmangel angesichts des gestiegenen Preises, den es kostet, trotzdem über die Runden zu kommen. Gewährt wurde ihnen damals die verlangte massive Lohnerhöhung. Im übrigen wurde ihnen versprochen, daß Fleisch, Seife, Wohnungen und alles andere in die Bergbaugebiete gelangen würde, mit und dank einem zügigen Weitermachen auf dem Weg der Perestrojka und in Richtung "Marktwirtschaft" nämlich. Damit haben sie sich dann zufrieden gegeben. Inzwischen sind zwei weitere Jahre auf diesem Weg ins Land gegangen, und die Bergarbeiter des Vaterlandes aller Werktätigen können feststellen, daß ihnen das "bessere Leben" von oben bloß versprochen wurde. Daneben müssen sie auch noch feststellen, daß sich zwischenzeitlich einiges dazugesellt hat, was ihnen das Leben noch schlechter macht. Damit haben sie sich nicht mehr zufrieden geben wollen. Sie streiken gegen einen Staat, der sie beim letzten Mal, statt Maßnahmen zur Verbesserung ihrer materiellen Lage einzuleiten, mit dem Versprechen eines wundervollen Rezepts abgespeist hat. Das Rezept hieß "Marktwirtschaft" und sollte wie von selbst alles zum Guten lenken.
Genau dieses Versprechen haben die Wirtschaftspolitiker der Sowjetunion auch diesmal auf Lager. Der Unterschied zum letzten Mal liegt darin, daß sie nicht bloß nichts anderes anbieten wollen, sondern auch nichts Materielles anzubieten haben. Zwei Jahre weitere Perestrojka haben dafür gereicht, daß die streikenden Bergarbeiter ihrem großartigen Arbeitgeber noch nicht einmal Seife, Schnaps und Unterkunft abzwingen können - die zugrundegerichtete Ökonomie gibt das Verlangte einfach, nicht mehr her. Allenfalls gibt es Rubel; aber weil die auch nichts anderes sind als Gutscheine mit dem aufgedruckten Versprechen, die Marktwirtschaft würde es eines Tages bringen, sind die Kumpel mit mehr Lohn auch nicht zufriedenzustellen.
Das Angebot, mit dem die sowjetische Regierung den Streikenden Eindruck zu machen sucht, ist da sehr aufschlußreich: Sie warnt vor der Gefahr einer Notstands-Diktatur. Damit ist nämlich nicht bloß zu Protokoll gegeben, daß sie keine materiellen Zugeständnisse machen will. Sie droht ja auch nicht mit diktatorischen Maßnahmen - dazu bräuchte es nämlich außer loyalen Soldaten, die die Regierung auch nicht hat, noch irgend eine Sorte materiellen Anreiz, mit dem befürchteten Diktator gemeinsame Sache zu machen. Mit ihrer Warnung vor einem Diktator gesteht die Regierung glatt ein, daß sie ihren verelendeten Bergarbeitern außer Freiheit, nämlich den vorgestellten Unterschied zwischen ihrer Herrschaft und der Fiktion einer schlimmeren, nichts zu bieten hat.
Dieser Konflikt, in dem die eine Seite nichts mehr zu verlieren und die andere nichts zu bieten hat, wird dadurch vollends unauflöslich, daß Regierende und Streikende sich in einem Punkt einig sind, nämlich in der verkehrten
Diagnose der materiellen Lage
Keiner will etwas von objektiven, politökonomischen Gründen wissen; weder für das Elend der Bergarbeiter, noch für den rapiden Niedergang der staatlichen Ökonomie; weder für den Zerfall der Lieferbeziehungen zwischen den Betrieben, noch dafür, daß Güter des täglichen Bedarfs an den üblichen Stellen überhaupt nicht und auf anderen "Märkten" nur zu Preisen käuflich zu erwerben sind, die nicht nur Bergmänner nicht bezahlen können. Der Grund dafür liegt nämlich in genau dem marktwirtschaftlichen Rezept, mit dem die Regierung ihre Massen betört hat: Ein Staat, der das Ideal einer "effektiven" Güterversorgung so verfolgt, daß er alle bisher dafür vorgesehenen Einrichtungen seiner "Wirtschaft" dem Zweck überantwortet, sie als "Eigentum" zu nutzen und sich davon dann einen Aufschwung der Produktion allenthalben verspricht, sorgt zwar dafür, daß dieses Recht wahrgenommen und alles, was ehedem seiner Planungshoheit unterstand, wie Eigentum benutzt wird. Aber damit entzieht er die Einrichtungen der realsozialistischen Versorgungswirtschaft und Arbeitsteilung augenblicklich der Funktion, die sie in beiden innehatten, und überantwortet sie statt dessen dem Interesse, das an ihnen einen Hebel privater Bereicherung entdeckt: Das schlägt dann bei allen zu, bei Betrieben, Kolchosen, Transportverantwortlichen genauso wie bei den Verteilungs- und Handelseinrichtungen, und "Waren" werden als Mittel entdeckt, über sie an möglichst viel Geld zu kommen. Im Verein mit der gleichfalls rechtlich gestatteten "freien Preisgestaltung" sorgt das für Mangel dort, wo sich die Belieferung vorhandener Versorgungseinrichtungen, aber auch Produktionsstätten, nicht lohnt - und Wucher eben dort, wo sich die Versorgungsnot gewinnträchtig ausschlachten läßt. Daß die Zerstörung des gesamten realsozialistischen Versorgungswesens die notwendige Folge eines Staatsprogramms ist, welches das Recht, mit freien Preisen Eigentum zu mehren, in eine ökonomische Welt entläßt, in der es schlechteirdings keine Voraussetzungen seiner produktiven Betätigung vorfindet; daß sich genau deswegen außer der Zersetzung nichts von dem versprochenen Eldorado "marktwirtschaftlichen" Produzierens und ebensolcher "Effizienz" eingefunden hat - das bestimmt eben auch die "Lage" der sowjetischen Bergarbeiter. Die erfahren den Zusammenbruch der gesamten ökonomischen Arbeitsteilung eben so, daß es für sie gleichgültig wird, ob sie mit ihrer Arbeit Lohn verdienen, mit dem sie sich nicht kaufen können, was sie brauchen - oder ob sie sich gleich ganz auf die Techniken des Organisierens" werfen, mit denen sie bislang ohnehin schon über die Runden gekommen sind: Mit dem Wegfall des gesamten Zusammenhalts einer mehr schlecht als recht, aber immerhin funktionierenden geplanten Versorgungswirtschaft taugt ihre Arbeit für sie nicht einmal mehr als das beschränkte Mittel, wenigstens zu dem Nötigen zu kommen, das es auch fürs Leben im grauen Sozialismus braucht. Und daraus ziehen sie die schlechte Konsequenz, die Arbeit dann eben einfach zu lassen. Ausgerechnet da, wo alles dafür spricht, dann eben die Versorgung selbst zu organisieren und eine Arbeitsteilung zu planen, die das Zeug hergibt, das man braucht, entschließt sich keiner zu dem bißchen Kommunismus, der dafür nötig wäre. Kein Bergarbeiter verfällt darauf, daß genau der die passende - und einzig passende - Antwort auf den Wahnsinn eines Staatsprogramms ist, das die materielle Basis des Staatswesens nach Prinzipien neuordnen will die zu ihr gar nicht passen und sie deswegen nur zersetzt. Statt dessen geben sich alle enttäuscht davon, daß aus den Erwartungen, die sie in dieses Programm und seine idealistischen Titel gesetzt haben, nichts geworden ist: So perfekt politisierte Kinder dieses Programms sind sie und so sehr wollen sie noch immer der Generallüge der Perestrojka glauben, wonach das offizielle Wegwerfprogramm des Soziallismus immer auch damit zu verwechseln sein sollte, daß es dann auch ihren Bedürfnissen besser gehe, daß die einen bloß noch von allem enttäuscht sind, und die anderen trotz ihrer Enttäuschung noch Erwartungen hegen, über die sie sich auch nichts groß vormachen. Zusammen bilden sie eine Streikmannschaft, deren einer, überwiegender Teil sich pausenlos zusäuft, während die artikulationsfähige Minderheit die politische Haltung eines Streiks formuliert, der kein Ziel hat. Die legen sich zuallererst die Notlage, die sie dank des Wirkens ihrer politischen Herren auszuhalten haben, als Versäumnisse zurecht, die von den "Zuständigen" begangen worden wären - "schlechter als die Regierung Pawlow die Wirtschaft leitet, geht's nicht mehr." So erklären sie sich für die Belange, die sie angehen, pauschal für unzuständig und ziehen es vor, sich in dem guten Glauben verraten vorzukommen, den sie in das erfolgreiche Gelingen des Werks ihres obersten Chefs gelegt hatten. Und dann geben sie mit derselben inhaltslosen Kritik mit der der unter dem Stichwort einer "mangelnden Effizienz" pauschal das realsozialistische Planungs- und Versorgungswesen verwarf und mit der sie sich von ihm die Notwendigkeit des "Übergangs zur Marktwirtschaft" einleuchten ließen, ihr grundsätzliches Mißtrauen in die obersten politischen Befehlshaber zu Protokoll:
"Die KPdSU hat ihr Volk verraten und unser Land und uns Bergarbeiter in die Armut geführt. Der verantwortungilose Präsident Gorbatschow muß abtreten, die verantwortungslose Regierung muß sich entscheiden, auf wessen Seite sie steht." (Süddeutsche Zeitung, 25.3.)
Was das "Verbrechen" der KPdSU ausmachen soll, ist diesen Leuten ebenso unbekannt wie gleichgültig. Gleichfalls haben sie an ihrem Präsidenten nicht auszusetzen, womit sie von dem bei seiner erfolgreichen Wahrnehmung von "Verantwortung" beglückt wurden. Statt dessen wähnen sie sich von üblen Machenschaften betroffen, die das Projekt des "Umbruchs" hintertreiben, und machen die "Verantwortlichen" für die "Mißwirtschaft" dingfest, für die sie das staatlich auf den Weg gebrachte Zersetzungswerk der realsozialistischen Ökonomie auch im sechsten Jahr der Perestrojka halten: Gorbatschow, weil der ja der "Verantwortliche" "für alles" ist; die KPdSU, weil die noch immer den "Dirigismus", die "Bürokratie" und den "Zentralismus" repräsentiert, jene offiziell auf den Weg gebrachten Grundübel also, die "der Marktwirtschaft" ihren segensreichen Einzug und Durchbruch verwehren sollen; und dann auch noch alle noch bestehenden rechtlichen Regelungen, die ihrer Auffassung nach einer Handhabung der Kohle - die ja schließlich sie fördern - als Mittel ihrer Bereicherung im Wege stehen.
Ihrer verkehrten Lagebeurteilung ganz entsprechend sind
Die Streikforderungen
Diese können ökonomisch gar nicht auf eine Besserung der materiellen Lage hinwirken, weil sie auf die Genehmigung genau derselben Rechte zielen, deren erfolgreiche Wahrnehmung durch andere für die Armut verantwortlich zeichnet, gegen die die Bergarbeiter mit ihrem Streik aufbegehren. Und sie sind politisch nichts wert, weil diese "Avantgarde der Arbeiterklasse" keine Gegnerschaft gegen das Programm der staatstragenden Partei ausficht, sondern sich statt dessen als Partei in der Konkurrenz um die Macht einbringt, die es in der und um die sozialistische Union der Republiken mittlerweile gibt.
So fordern die Bergarbeiter zwar Lohnerhöhungen zwischen 100% und 150%, "volle Kompensation der Preissteigerungen", Herabsetzung des Pensionsalters und noch andere Maßnahmen zur "Verbesserung der Lebensbedingungen". Das dahingehende Angebot der Regiervng lehnen sie aber ab - und machen die Beendigung ihres Streiks von ihnen gewährten Rechten abhängig, von denen sie sich mehr versprechen als von Rubelscheinen, deren "Kaufkraft" beständig sinkt. Die "volle wirtschaftliche und juristische Selbständigkeit der Unternehmen" beispielsweise wollen sie da, weil sie mit der dann endlich auch mit ihrer Kohle ins allseitige Bereicherungswesen einsteigen und sie gewinnbringend verhökern oder gegen Divisen ins Ausland verschieben könnten. Daß das dem endgültigen Zusammenbruch des noch vorhandenen sowjetischen Energieversorgungswesens gleichkommt, wenn die Belieferung mit Kohle- auf Basis wechselseitiger Erpressung zwischen Lieferanten und Abnehmern erfolgt oder nicht, und sie sie deswegen gar nicht erst auszubuddeln bräuchten, ist ihnen dabei entgangen. Nicht zufällig, denn ihnen ist vor allen Dingen von Wichtigkeit, daß es sich bei ihrem Beruf um russische bzw. ukrainische Erde dreht, aus der sie Kohle klauben. Daraus leiten sie die nächsten Rechte ab, von denen sie sich offenbar viel mehr verspechen als von einer soliden Kritik der Instanz, von der sie sie verlangen: Gestreikt wird in der Ukraine
"für den Rücktritt von Präsident M. Gorbatschow, für die Auflösung von Parlament und Regierung der UdSSR und - ortsspezifisch - für den Austritt der Ukraine aus der UdSSR. Erst danach kommen die Wünsche nach Lohnerhöhungen..." (FR, 15.3.)
Und die Bergleute aus Rußland entziehen erstmal und ganz grundsätzlich dem Präsidenten der Union das Vertauen:
"Die erste der fünf gemeinsamen Forderungen ist der Rücktritt Gorbatschows. Er habe 'kein Mandat des Vertrauens der Bevölkerung und handelt gegen sein Volk'. Zweitens soll der sowjetische Kongreß der Volksdeputierten aufgelöst werden, der 'das Vertrauen des Volkes nicht rechtfertigt'. Drittens wird der Rücktritt der sowjetischen Regierung gefordert, die 'keine Maßnahmen zur Überwindung der Krise ergreift'." (SZ, 21.3.)
Da sie einen Grund für ihre Aufkündigung von Vertrauen und Gefolgschaft so recht aber gar nicht wissen, sich über die Notwendigkeit ihrer schlechten Erfahrungen mit ihrem politischen Herrn ein gescheites Urteil weder gebildte haben noch dieses Versäumnis nachzuholen vorhaben, ist die Konsequenz, die sie aus dem Umstand ziehen, von Gorbatschow eingeseift worden zu sein, entsprechend trostlos. Der nächste Einseifer verdient schon wieder ihr Vertrauen, v.a. deswegen, weil er ausschließlich Rußland zu dienen vorhat:
"Der Streikführer im Kohlerevier von Kusbass, Alexander Aslanidi, sagte, nur noch der russische Parlamentspräsident Boris Jelzin habe die moralische und politische Autorität, die Streikenden wieder an die Arbeit zu bringen, zumindest vorübergehend. Falls Jelzin zur Beendigung des Aufstands aufrufe, werde die Zahl der Streiks zweifellos abnehmen." (FR, 8.4.)
Laut Prawda vom 18.4. hat sich Jelzin dem ihm geschenkten Vertrauen gegenüber als würdig erwiesen und sich mit dem Vorschlag ins Gespräch gebracht, die Zechen unter russische Jurisdiktion zu nehmen und ihnen den freien Verkauf von 20% ihrer Produktion ins Ausland zu gestatten, was zweifellos mehr ist als Gorbatschows Genehmigung des Verhökerns aller über den Staatsauftrag hinausgehend geförderten Kohle. So werden die Bergarbeiter, die sich als Betroffene politischer Machenschaften zu Wort melden, deren Manövriermasse sie nicht mehr abgeben wollen, mit dem und wegen des Standpunkts, von dem aus sie radikal aufbegehren, zu genau dieser. Ihr verletztes nationalistisches Rechtsbewußtsein, mit dem sie sich von mehr Rechten in ihrer und für ihre Republik ein besseres Auskommen erhoffen, läßt sie in ihrem Streik zur Partei des Streits werden, der um die Macht im Sowjetstaat bzw. als Frage des"Zusammenhalts der Nationen" in ihm geführt wird. Und in diesem Streit löst sich dann alles auf, was bislang als
Ergebnisse des Streiks
festzuhalten ist. Die bestehen zwar der Sache nach darin, daß die Wirtschaftsproduktion dei gesamten UdSSR entscheidend getroffen ist. Aber das macht auf deren politische Führer insofern wenig Eindruck, als die schon seit längerm die Folgen ihrer Perestrojka als Staatsnotstand betreuen. Zu dem gesellt sich für sie jetzt eben der Streik der Bergarbeiter hinzu, so daß sie sich von dem auch nur in gewohnter Weise herausgefordert sehen: Sie berufen sich auf die "schwierige Lage" der Nation, um sich als den jeweils Berufenen ins Spiel zu bringen, dem man den Auftrag, die Nation(en) zu regieren, zu überantworten habe. Allen voran beherrscht Gorbatschow die Technik, unter Berufung auf den nationalen Notstand, den er mit seinen "Perestrojka-Prozessen" herbeiregiert hat, von den Streikenden die Beendigung ihres Streiks als Vertrauensbeweis einzuverlangen, der ihm als Vorsteher der Nation doch wohl gebühren möchte. Dafür kanzelt er den an ihn ergangenen Antrag, zurückzutreten, mit dem Verweis zuerst darauf ab, daß er auf demokratisch-einwandfreien Wegen dorthin gelangt sei, wo er jetzt ist, also auch dort bleiben müsse:
"Was prinzipiell die Frage des Rücktritts des Präsidenten betrifft... so wurde dies auf konstitutionellem Weg beschlossen, da gibt es keinerlei Rechtsverletzungen, und Andeutungen auf die juristische Seite sind hier nicht am Platz... Es gibt einen verfassungsmäßigen Weg, und auf ihm muß man gehen." (Gorbatschow-Rede vor Bergleuten, "Prawda", 6.4.)
Dann dient er sich den Streikenden mit der Bemerkung an, daß sie, die guten russischen Bergleute, ihn betreffend doch wohl ganz unabsichtig und eigentlich wider besseren Wissens heimtückischen Parolen aufgesessen wären. Im übrigen könnten sie den weiteren Verfall des Landes doch wohl nicht wollen - nicht wegen des Verfalls als solchem, sondern weil es doch ihre Nation sei, die da verfällt. Und v.a. deswegen, weil, wenn das so weiter geht, ein Diktator kommen muß, der das Land rettet:
"Überhaupt wäre es normal, alles zu untersuchen und zu vergleichen. Da es ja das Schicksal des Landes, eines jeden von uns, ist. Aber bei uns ist dies noch mit dem politischen Kampf, mit Ansprüchen auf die Macht vermischt. Und in diesem Zusammenhang muß ich sagen, ich will euch damit nicht kränken, daß viele die Bergmanns-Karte spielen wollen, weil sie wissen, was die Kohle für das Land bedeutet. ... Und also bricht das Land zusammen. Und dann kommen wir sowieso wieder zu demselben zurück, denn aus dem Chaos und Verfall der Wirtschaft erwächst immer die grausamste diktatorische Macht."
Gottlob also haben sie ihn, den Präsidenten, der zwar mit allen "Vollmachten" ausgestattet ist, von denen ein Stalin gar nicht träumen wollte, der aber jedem seiner "Erlasse", mit denen er inzwischen regiert, hinterherfragen muß, warum sich keiner an ihn hält. Und der kommt ausgerechnet denen, die sich sowohl von ihm wie von der Nation, der er vorsteht, um die Rechte betrogen sehen, die sie als Russen, Ukrainer, Weißrussen... gegen den jeweils verbleibenden Rest der Völkerschaften in Anschlag bringen, mit dem Appell, sie möchten die Angelegenheit doch auch so sehen wie er und sich um die Zukunft des Gesamtladens sorgen, aus dem sie gerade aussteigen wollen:
"Aber beachten Sie, daß es Bitten von allen gibt von den Hüttenarbeitem, den Chemiearbeitern und von den Lehrem, den Militärs, den Milizionären. Das heißt einfach, daß wir andere Produktionsergebnisse haben müssen, einen anderen Zuwachs des Nationaleinkommens, damit man dieses Land in Ordnung bringen kann."
Ihm und der Nation zuliebe sollen sie also wieder zur Arbeit antreten, andernfalls droht ihnen - auch im Namen beider - ein Verbot ihres Streiks: Das ist der amtliche Bescheid, der vom Präsidenten an die streikenden Bergarbeiter ergeht. Und je nach dem, wer oder welches Lager sich wie in den Machtkampf eingemischt und für oder gegen die "Stärkung" des "Kurses" oder der "Linie Gorbatschows" Partei ergriffen hat - die der Mann selbst nicht weiß -, bereichern Stellungnahmen das öffentliche russische Leben, in denen die Bergarbeiter entweder als Verräter oder als Helden der Nation Gesprächsstoff bilden: Wer an Gorbatschow sägt, setzt sie gerne mit Verweis auf ihre Not moralisch ins Recht - ohne daß er dafür auch schon für ihren Streik Partei nehmen müßte oder bloß wollte. Und wer zu Gorbatschow hält, gibt freilich auch dem antikommunistischen und nationalistischen Protest von unten im Prinzip recht, meint aber, es müsse nun auch wieder sein Ende haben mit ihm. Umgekehrt geht es natürlich auch, und Jelzin wird schon wissen, warum er nun mit Gorbatschow gemeinsam zur Beendigung des Streiks aufruft: Der hat dann eben genau so dazu getaugt, Gewicht und Einfluß des Russenhäuptlings bei der Verwaltung der Konkursmasse des sowjetischen Staatswesens zu mehren und das seiner russischen Republik natürlich auch.