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Dieser Artikel ist in der MSZ 1-1991 erschienen.

Systematik

Sowjetunion
MIT DER PERESTROJKA IN DEN PERMANENTEN STAATSNOTSTAND

Aus westlicher Sicht liegen die Dinge klar. "Reformpolitik am Ende", "Rückfall in den Stalinismus" etc. lauten die Diagnosen, welche die Auseinandersetzungen in den baltischen Staaten deuten. Die Definition der Perestrojka, die solcher Verurteilung zugrundeliegt, lautet schlicht: Das ist die Reformpolitik, die uns gefällt, weil sie eine Preisgabe unberechtigter Machtbefugnisse, ein Abtreten von Territorium, ein Verzicht auf die Herrschaft über Völker, die Besseres als sowjetische Aufsicht verdienen, darstellt. Der Radikalismus dieser Definition, angewandt auf den Versuch, vom ehemaligen Ostblock wenigstens die UdSSR zu erhalten, erneuert das Feindbild. Das "Herz für Rußland" hört wieder auf zu schlagen. Gorbatschow verspielt den Kredit, den wir ihm eine Zeitlang bis zum Verständnis seiner Probleme hin zugestanden haben, zumal er die "Ablenkung" des Westens - so heißt ein Ordnungskrieg im Nahen Osten, wenn man bedenkt, daß im Osten Großes zu erledigen ist - ausnützt. Statt alles herzugeben, fangen die im Kreml jetzt wieder damit an, auf Selbstbehauptung zu machen.

1.

Zugestanden wird dem Friedensnobelpreisträger auch nicht jene Deutung seiner und seines Landes Lage, die der politische Sachverstand noch jeder Herrschaft, auch Diktatoren in befreundeten "Bananenrepubliken" nachfühlt. Daß sich da einer um "Stabilität", "Herstellung der Ordnung" bemüht, also um die Voraussetzung aller wünschenswerten und künftigen Verbesserungen, sagt so schnell niemand. Und das, obwohl spätestens seit der Rußland-Hilfe Mangel und Not als das Merkmal des sowjetischen Wirtschaftslebens bekannt sind. Obwohl "Desorganisation" und "Wirtschaftskriminalität", Ernte- und Transportprobleme, dazu eine "Mafia" die offiziellen Kennzeichnungen für einen Betrieb geworden sind, dem nun wirklich niemand mehr den Titel "Kommandowirtschaft" geben wollte.

Das nämlich hat die Perestrojka erreicht: Die Abkehr von der Regulierung der Produktion wie Verteilung, von staatlichen Vorschriften in bezug auf quantitativ umschriebene Rechte und Pflichten - von Staat, Betrieben, Verkaufsorganisationen, Lohnempfängern - ist ihr Werk. Ihr Ziel ist der Übergang zur Marktwirtschaft, und den Weg dahin hat sie mit Maßnahmen eingeleitet, die die geregelte Versorgung im Lande zerstörten. Freigegebene Preise, das Recht, sich an Produktion und Handel zu bereichern, haben ihre Wirkung getan. Auf Kosten der überkommenen Arbeitsteilung und Verteilung des Reichtums bereichern sich die einen, und viele andere kriegen nichts mehr. Aus der Perspektive der Regierung nehmen sich solche Verhältnisse - auch wenn sie sie selbst in Erwartung einer florierenden Marktwirtschaft herbeigeführt hat - allemal aus wie eine Krise, die staatliche Ordnungsstiftung gebietet. Wo die wirtschaftliche Grundlage des Regierens durcheinander gerät, ist die starke Hand des Staates gefragt, die das Funktionieren des gesellschaftlichen Lebens bewirkt ganz jenseits von allen welthistorischen Entscheidungen für "Kommando-" oder "Marktwirtschaft". Schließlich beruhte auch der Entschluß der Mannschaft um Gorbatschow, die den Übergang zur Marktwirtschaft herbeiregieren wollte, auf dem Wunsch nach mehr Effizienz, also mehr Reichtum, an dem sich die Nation bedienen können sollte. Das Eintreten des Gegenteils kann die sowjetische Regierung nicht anders wahrnehmen als einen Verlust prinzipieller Art: Die ökonomischen Quellen ihrer Macht taugen nichts und müssen unbedingt in Ordnung gebracht werden.

2.

Zu dieser ersten Eigenart des sowjetischen Notstandes gesellt sich eine grundsätzliche Störung des Machthaushalts. Der Systemwechsel, der unter dem Titel 'Übergang zur Marktwirtschaft' eingeleitet wurde, änderte vom ersten Tag an nicht nur das Wirtschaftsleben, sondern auch die Politik; diese sollte und durfte nun nicht mehr "kommandieren", das Maß von Leistungen, gerechten Preisen, Einkommen und anderen Tauschverhältnissen bestimmen. Ihre Aufgabe sollte es sein, nach westlichem Vorbild konkurrierenden Interessen die Möglichkeit ihrer Durchsetzung zu garantieren. Also per Gesetz die Verhältnisse abzusichern, in denen die Bürger, welche den Markt bevölkern, ihre Konkurrenz austragen. Damit erhielt auch die Konkurrenz um die Macht, die bislang als Streit der Linien in der Partei immer auch ein Streit um gerecht bemessene ökonomische Interessen im Lande war, einen neuen Inhalt. Es ging erst einmal darum, den allgemein anerkannten und fälligen - in diesem Punkt hatte Gorbatschow seine Parteigenossen und den Rest des Landes gründlich überzeugt - Übergang zur Marktwirtschaft zu bewerkstelligen. Also den Übergang vom Kommandieren zum autorisierten Genehmigen hinzukriegen, vom Subventionieren und Regeln wegzukommen, um Rechte zu erteilen, allen voran das Recht, sich mit wirtschaftlichen Leistungen zu bereichern. Die Demokratisierung, zunächst als Recht und Pflicht zur Teilnahme am öffentlichen Streit um den besten Weg zur Rettung des Vaterlandes, als Eröffnung eines allsowjetischen Vorschlagswesens eingeführt, trug nun ihre Früchte. Die Wortmeldungen, die in und außerhalb der Partei erbeten waren, auch zur Anmeldung von in den alten Verhältnissen vernachlässigten Interessen, brachten eine Wende in die sowjetische Politik, die sich gewaschen hatte. Sie beschränkten sich nämlich nicht auf den albernen Streit um das Tempo der Erneuerung, in dem sich die verschiedensten Figuren der alten Staatspartei und ein paar neue politische Vereinigungen dazu profilierten. Die Selbstkritik, mit der Gorbatschow seine Perestrojka eingeläutet hatte, wurde um eine Kritik ergänzt, die im Namen der großen Wende deren Veranstalter selbst traf. Als Benachteiligte im alten Gesamtstaat, als Geschädigte des zentralen Kommandierens - also auch als berechtigte Nutznießer der neuen Marktwirtschaft - traten die Nationalitäten auf. Einerseits in Gestalt von Aufständen und rassistischen Gewaltorgien gegen benachbarte Sowjetmenschen, andererseits in der ehrenwerten Gestalt von Volksvertretern, von leibhaftigen Politikern, die eine entscheidende Abweichung in der Durchführung der Perestrojka erzwingen wollen. Sie konkurrieren mit Gorbatschow um die Macht, aber nicht um seinen Posten. Sie wollen ihm Teile seines Herrschaftsbereichs abnehmen und versprechen sich und ihren Völkern den berechtigten Ertrag der Marktwirtschaft durch die Selbständigkeit ihrer Staaten.

3.

Unter den Alternativmannschaften zur bisherigen Nomenklatura, findet sich keiner, der Kritik oder Zweifel an der Perestrojka anzumelden hätte; auch wenn deren Fortgang weder dem Volk gut bekommt, noch dem Zusammenhalt der Union oder den politischen Sonderansprüchen dienlich ist. Alle sind sie Parteigänger eines staatsbekömmlichen Reichtums, dessen Subjekt, "echtes" Geld, für seine Vermehrung sorgt, wenn man es frei wirken läßt. Alle schätzen den Gehorsam von Untertanen, der sich ohne staatliche Versprechen und Erpressungen frei aus den neuen Lebensumständen ergeben soll. Allesamt sind sie überzeugte Demokraten, die ihrem Volk an politischer Agitation nicht mehr zumuten wollen als die Werbung für das Wahlkreuz.

Das verkürzt das Programm, mit dem Gorbatschow, Jelzin, Führer der Republiken, Reformer und Orthodoxe gegeneinander antreten, auf einen einzigen Inhalt: Mit der Frage: Wer darf und o regieren? bekämpfen sich alte Machtträger und neue Aspiranten im gemeinsamen Wunsch nach Übernahme der Staatsgewalt. Die Kontrahenten, denen der Übergang von Vertretern sozialer Belange zu "Machtpolitikern" allesamt gelungen ist, ersparen ihrem Volk alternative Antworten, wozu das hohe Gut taugen soll, das sie für sich beanspruchen. Es kommen nur machttaktische Erwägungen ins Spiel; noch laufende Staatsvorhaben werden von den Politikern strikt nach der Frage der Zuständigkeit beurteilt.

Auch demokratische Parteien, deren Parteiprogramm sich im Anspruch zusammenfaßt, die Regierungsgewalt zu übernehmen, nehmen sich nichts anderes vor - freilich mit einer festen Vorgabe, die ihrem Parteigezänk Halt gibt: Die Souveränität der Staatsgewalt, deren Erfolge und die daraus erwachsenden Staatsaufgaben stehen vor jeder Wahl fest. Sowjetische Politiker haben es dagegen mit einer aufgekündigten Staatsgewalt zu tun, deren bisherige Machtgrundlage nicht mehr so weiter gelten soll. Als Konkurrrenz um die Macht betreiben die einen den Zerfall der Sowjetunion, während die anderen zur Rettung vor dem bereits existenten Verfall antreten. Im Ergebnis läßt sich das nicht einmal klar auseinanderhalten.

Die baltischen Republiken haben beschlossen - und andere sind auf dem Weg dazu - die Zwangsgemeinschaft UdSSR zu kündigen. Die Frage, was die Unabhängigkeit wert ist, in deren Namen der "Besatzungsarmee" Strom und Wasser abgestellt wird, stellt sich den Führern von Sajudis nicht; genauso wenig den Men schen, die in der Rückkehr des alten Staatswappens ihr Lebensglück sehen.

Den Aktivisten der staatlichen Unabhängigkeit ist der Staatsmaterialismus nicht geläufig, mit dem sonst Staaten über ihre ökonomischen und politischen Mittel wachen, weil sie damit die Ansprüche ihres Staatswesens zur Geltung bringen. Stattdessen kämpfen sie gegen geltende Gesetzesvorschriften und arbeitsteilige Beziehungen als nicht auszuhaltende Abhängigkeit. Daran mag vieles kritikabel sein, sie wird aber keiner Kritik unterzogen, sondern als Hindernis einer garantiert eigenen Staatsgewalt genommen, auch wenn der alle Mittel, die eine solche auszeichnen, abgehen. Abstrakter kann eine Staatsgrundlage nicht ausfallen, aber auch nicht militanter und damit unerreichbar für jedes Kompromißangebot aus Moskau. Die Güte der von den Parlamenten erlassenen Gesetze bemißt sich am Verstoß gegen entsprechende Gesetze der Union. Eigene Währungen werden eingeführt ohne die Frage, wie und womit sie verdient werden sollen - sie stehen ausschließlich für den Drang nach Unabhängigkeit.

Aber was macht das schon. Im Reich der Perestrojka hat eben der Primat der Politik in seiner rohesten Gestalt Einzug gehalten. Vom Sozialismus befreite sowjetische Menschen dürfen jetzt auch genießen, was demokratischen Untertanen selbstverständlich ist: Vor den Ansprüchen und Problemen der Nation verblassen die Sorgen um die eigenen Lebensumstände. Fragen der Macht, der Zuständigkeit und der Kompetenz der Politiker sind das passende materielle und geistige Lebensmittel der Nation. Die einstige Überzeugung und Treue zum Sozialismus nimmt sich matt aus gegenüber dieser Politisierung, die heute das russische Volk mit seinen Führern eint. Die betätigt sich allerdings nicht als Beifall oder Nörgeln an einem feststehenden Staatsprogramm. Politiker, die Anspruch auf die Staatsgewalt erheben, wie einfache Menschen, die sich nurmehr fragen, welchem Politiker sie noch vertrauen, wälzen die Frage: Wer hat die Macht in der UdSSR? Das fragt sich nur, wenn die existente Staatsmacht ihre Gewalt verloren hat oder schon hinüber ist.

4.

Seit geraumer Zeit verfolgt Gorbatschow ein Programm der Rettung der Union, dessen Nahziel schlicht "Ordnung" heißt. Der gute Mann sieht nicht mehr, "wie es ohne Achtung der Gesetze und ohne Disziplin möglich sein soll, mit dem gewaltigen Komplex und dem schwierigen Reformprogramm der Perestrojka fortzufahren." Sein Fernziel, die fertige Perestrojka, schließt höchstförmlich auch die Selbständigkeit der Republiken ein - nur eben so, daß diese ihre Souveränität schrittweise, über ausgehandelte Umverteilung von Rechten und Pflichten gegenüber der Union erlangen - damit kein Chaos entsteht und sie, gewissermaßen aus Einsicht und nach reiflicher Güterabwägung in einer neu definierten Union mitwirken. Diesem Ideal ist der längst entworfene Unionsvertrag verpflichtet. Glück hat er damit wenig.

Die freiheitsdurstigen Republiken erklären sich unzuständig für die Durchführvng gemeinsamer Beschlüsse, billigen und fördern Gewalt gegen zur Stiftung des Friedens berufenes oder einfach anwesendes Militär, erlassen Aufrufe zur Desertion aus der Roten Armee und stellen glatt eigenes nationales Militär auf. Insofern ist es überhaupt nicht verwunderlich, daß Gorbatschow erst einmal das Nahziel, die Wiederherstellung von Gesetz und Ordnung erwirken will. Seitdem er Versuche in dieser Richtung übernimmt, also ihm noch verbundene Abteilungen der Staatsgewalt zuschlagen läßt, ist sein Stern als Reformer und Befreier aus der alten "stalinistischen" Unterdrückung schwer am Sinken, daheim und auswärts. Zumal außer ihm und schon zuvor andere Retter der Nation die zersetzenden Effekte der Perestrojka gegeißelt haben und auf Abhilfe dringen. Allen voran der "Sojus" - nach westlicher Lesart erzreaktionär, auf Putsch und Diktatur aus -, aber auch Fraktionen in der KPdSU und andere Vereine, sogar Christenmenschen halten eine Rückkehr zu nationaler Einheit und Ordnung für geboten. Als das Gute, das auch den erzwungenen Weg aus dem Chaos und der Anarchie lohnt, wird das große Vaterland vorstellig gemacht, das den gleichnamigen Krieg gewonnen hat und sich durch Stabilität auszeichnete.

Das ist die "Lage", mit der Gorbatschow nicht fertig wird und in der die westlichen Beobachter immerzu links und rechts, stalinistisch und fortschrittlich unterscheiden wollen. Inzwischen wähnen sie ihren Liebling von gestern wegen der Gewaltanwendung im Baltikum von der er sich auf gute Politikerweise per Nichtwissen distanzierte - in den Fängen von Ultras, bisweilen auch schon zum schlechteren gewandelt. Sie wünschen, daß er an der Mächt bleibt und von ihr den Gebrauch macht, den sie schätzen: Preisgabe eines Stücks Macht nach dem anderen. Dafür gönnen sie ihm sogar präsidiale Vollmachten. Jeden Versuch, die Sowjetmacht mit diesen Vollmachten zusammenzuhalten, deuten sie als Versagen vor den berechtigten, freiheitlichen Ansprüchen des weltweiten Freundeskreises baltischer Autonomie.

Unterdessen zeitigt der Machtverfall Folgen im politischen Leben der Sowjetunion, die in keinem anderen Staat der Erde auch nur denkbar sind.

5. Der Rücktritt Schewardnadses: Ein Aufruf zur Politik mit dem Argument, daß sie nicht geht

Die Perestrojka ist ein Riesenerfolg, behauptet ein sowjetischer Außenminister und erklärt sich postwendend für außerstande, weiter für sie Außenpolitik zu machen. Die Perestrojka ist in Gefahr, behauptet derselbe Mann, weil es Leute gibt, die ihn absetzen wollen. Er läßt einen dramatischen Aufruf vom Stapel, endlich gegen diese Feinde der Perestrojka vorzugehen, und unterstreicht, wie ernst er das meint indem er freiwillig sein Amt aufgibt.

Was ist da los, wenn der Mann weder auf die demokratische Tour zum Rücktritt gezwungen worden ist, nämlich durch eine Abstimmungsniederlage im Parlament oder eine Intrige seiner Partei, wenn er auch nicht demokratisch berechnend zurücktritt, um Mehrheiten hinter sich zu versammeln und sich umso effektvoller wieder einzumischen, wenn er schließlich genausowenig durch anti-demokratische Kräfte gestürzt worden ist?

Außen Erfolg und innen Intrigen

Es gibt Kritik an den außenpolitischen Erfolgen der Perestrojka. Es ist nämlich für Patrioten, die die Sowjetunion wie jeden anderen Staat bevölkern, nicht einfach einzusehen, daß so etwas wie ein 'gutes internationales Klima' eine angemessene Gegenleistung für eine außenpolitische Linie darstellt, bei der der eigene Staat nur eine handfeste Position nach der anderen räumt.

Auf höherer Ebene ist die Frage aufgekommen, ob ein westdeutsches Wohnungsbauprogramm zur Unterbringung der in die Union zurückziehenden Teile der Roten Armee, mit denen die BRD die Zustimmung der Sowjetunion zur Aufgabe der DDR erkauft hat, nicht eigentlich ein schäbiges und demütigendes Entgelt darstellt, gemessen an den Ansprüchen einer Siegermacht im Zweiten Weltkrieg. Was soll man davon halten,

"daß die UdSSR von Deutschland, das vielen Ländern für den von den Faschisten im Zweiten Weltkrieg verschuldeten Schaden zahlt, keine Reparationen erhalten hat. Uns hat man 1100 Städte, 10000 Dörfer und Siedlungen, Millionen Menschen genommen." (Prawda, FR, 21.11.)

Kritisiert werden der "2+4-Vertrag" und "Verträge über einen zu schnellen Abzug der Sowjettruppen aus Osteuropa". Kritisiert wird Schewardnadses Irak-Politik "als Unterordnung der sowjetischen Außenpolitik unter die amerikanische" (FR 21.12), die die Sowjetunion einen bisher befreundeten Staat kostet. Es wird das Gerücht in Umlauf gebracht, Schewardnadse wollte Sowjettruppen für den Golfkrieg stellen, ein nicht ganz unbegründetes Gerücht; immerhin hat sein Kollege Baker, mit dem er sich so gut versteht, das eine Zeit lang nachdrücklich verlangt und Schewardnadse schon einmal die sowjetische Bereitschaft dazu angedeutet. Der Einsatz von Sowjettruppen gegen einen gerade noch befreundeten Staat und als bloßer Handlanger der USA, eine sowjetische Beteiligung an einer imperialistischen Aktion, ohne daß die Nation eigene imperialistische Interessen und handfeste Erfolgskriterien geltend zu machen hätte -, da läßt sich die Frage nicht vermeiden, worin eigentlich der Nutzen für die Sowjetunion bestehen soll.

Darauf hätte der angegriffene Schewardnadse eigentlich antworten wollen:

"Die UdSSR ist in den Augen der Welt eine andere geworden und hat dabei längst nicht, wie einige behaupten, Freunde verloren. Wenn man als Maßstab der Freundschaft wirtschaftliche Subventionen und Waffen für einzelne Länder und Gruppen ansieht, wenn man für die Bekräftigung dieser Freundschaft zu Gewaltmitteln greift dann mag die Zahl der so gewonnenen Freunde ruhig abnehmen. Sie wächst um ein Vielfaches, wo wir uns wie ein zivilisiertes Land verhalten, das internationales Recht achtet und sich von allgemein menschlichen Werten leiten läßt." (FR, 22.12.)

Er hätte also eigentlich mit den neuen Freundschaften, der vermeintlichen Sympathie des Westens für die Sowjetunion als Erfolg, die Perestrojka gegen ihre Kritiker verteidigen wollen.

Eben diese Verteidigung der Perestrojka hat aber nicht stattgefunden, stattdessen hat sich der Außenminister auf die Frage verlegt, warum so etwas gegen ihn gesagt werden darf, warum er sich gegen solche Anwürfe verteidigen muß.

Er sei "vor allem wegen der Politik gegenüber Irak und der sowjetischen Haltung zur Vereinigung Deutschlands unter Beschuß geraten. Man habe ihm im Obersten Sowjet in der Frage der Deutschlandpolitik Inkompetenz, zu große Kompromißbereitschaft und Ungebildetheit vorgeworfen. 'Und niemand hat widersprochen, das ging hin bis zu persönlichen Kränkungen, und ich habe das alles ertragen.'" (FR, 21.12.)

Er zitiert seine Gegner:

"nun sei die Zeit gekommen, mit dem Außenminister abzurechnen. Ich glaube, man sollte sich ernsthaft Gedanken darüber machen, wer hinter dem Rücken dieser Genossen steht. Warum widerlegt sie niemand?"

Er hat also in guter realsozialistischer Tradition die Frage nach den "Kräften" gestellt, die gegen ihn sind - damit aber etwas ganz anderes konstatiert, daß er nämlich jede Sicherheit darüber vermißt, wer eigentlich hinter ihm und seiner Außenpolitik steht. Es ist nicht die Kritik an der Außenpolitik, wegen der Schewardnadse zurückgetreten ist, sondern sein Befund, daß er - obwohl veritabler Außenminister eines veritablen Staates - über keine politischen Mittel gebietet, die Verunglimpfung seiner Amtsführung unschädlich zu machen.

Um es Demokraten begreiflich zu machen: Auf so etwas wie eine stabile, parteilich disziplinierte Mehrheit, um jede Opposition abzuschmettern, auf so eine freiheitliche Errungenschaft wie eine "Kanzlerpartei" kann er sich nicht verlassen. Umgekehrt, das Karussell von Personen und Organen, das sein Chef veranstaltet, vom Politbüro zum Präsidialrat, vom Präsidialrat zum Föderativrat, der rege Wechsel von Beratern, diese "Personalpolitik", die immer wieder Einheiten zwischen konträren Positionen stiften will, ist ein unberechenbares Pflaster. Um es Demokrate vorstellig zu machen: Der sowjetische Außenminister kann sich gut vorstellen, daß er von einer glorreichen diplomatischen Mission nach Hause zurückkommt und eine Negativ-Koalition gegen sich vorfindet. Und das ist ein für einen amtierenden Außenminister höchst ungewöhnliches Problem.

Vertretung von was und von wem?

In der Rede, die er nicht gehalten hat, hat er dasselbe Problem in einer anderen Optik vorgetragen:

"Ich möchte besonders betonen, daß politische und geschäftliche Kreise in den Partnerländern beunruhigt sind, weil sie nicht wissen, mit wem sie es in der UdSSR zu tun haben... Man warnt uns direkt: Große Kapitalinvestitionen erfordern eine große politische Stabilität und gesetzgeberische Klarheit..." (FR, 22.12.)

Die interessante Lage, auf die sich der Außenminister der machtvollen Sowjetunion von seinen ausländischen Kontrahenten hat hinweisen lassen müssen, sieht so aus, daß die nichtvorhandene Stabilität das sowjetische Staatswesen als Vertragspartner disqualifiziert. Wie soll da Außenpolitik gemacht werden können, wenn die Partner monieren, daß sie unter dem Namen Sowjetunion eigentlich gar kein politisches Subjekt vorfinden? Daher wollte der Außenminister eigentlich auch den Obersten Sowjet über den Mißbrauch der Demokratie belehren, die Autorität des Staats durch einen Mißtrauensantrag gegen den obersten Repräsentanten zu untergraben:

"Stabilität - das bedeutet nicht nur eine gesunde Wirtschaft und normale zwischennationale Beziehungen. Das ist außerdem eine nicht schwankende Standfestigkeit der Macht. Glauben Sie mir, die Welt hat schwere Momente durchlebt, hat darauf gewartet, auf welchen Knopf sie bei der Abstimmung am ersten Arbeitstag des Kongresses drücken würden... Die Demokratie bedarf des Schutzes vor denen, die die Regeln des parlamentarischen Kampfes zu frei auslegen, die ihre Freiheit der Willensäußerung nicht mit der Verantwortung ihrer Gedanken und Taten bekräftigen... Die politischen Kämpfe haben die Grenzen des Zulässigen und Vernünftigen überspült, brachten unverantwortliche Erklärungen und Spekulationen hervor..." (FR, 22.12.)

So zieht ein Vorkämpfer der Perestrojka unfreiwillig Bilanz über die Wirkungen dieser Politik: Sie untergräbt den Staat!

Steht Gorbatschow für Perestrojka oder Diktatur?

Spricht da nun der Reformer oder der Reaktionär: Oder paßt dieses erprobte westliche Schema vielleicht gar nicht auf den Zustand sowjetischer Politik: Spricht da der Gorbatschow-Anhänger oder einer, der ihn verdächtigt:

"Wer verbirgt sich hinter dem Rücken dieser Genossen (die den Mißtrauensantrag gestellt haben)? Welche Pläne? Man hat Gorbatschow gekauft." (FR, 21.12.)

Nicht von ungefähr ist im Anschluß an den Rücktritt im interessierten Westen ein allgemeines Rätselraten losgegangen, ob es sich um eine Pro- oder Contra-Rede zu Gorbatschow gehandelt hat: Der Betreffende weiß es selber nicht. Er hält nämlich einerseits zu dem Gorbatschow, zu dem Führer, der die gute Perestrojka erfunden hat. Der ist dann ein Opfer der Diktatur, die Schewardnadse kommen sieht. Gemessen an der Ideologie dieses Staatsrettungsprogramms ist aber derselbe Gorbatschow mit den Sondervollmachten, die er sich zur Rettung der Perestrojka erteilen läßt, der Feind der Perestrojka, der Promotor der Diktatur, mindestens das Werkzeug geheimer Kräfte:

"Eine Diktatur kommt auf, und wenn Sie eine Diktatur schaffen, kann niemand sagen, wer der Diktator sein wird. Wenn Sie den Knopf drücken, entscheiden Sie über das Schickial nicht nur Gorbatschows, sondern über das der Perestrojka und der Demokratie." (SZ, 21.12.)

Destabilisierung = Diktatur

Mit seiner Rücktrittserklärung hat der sowjetische Außenminister nichts anderes zu Protokoll gegeben, als daß er sich außerstande sieht, weiter Außenpolitik für die Sowjetunion zu machen, weil dieser Sowjetunion die innere Souveränität, die fraglose Gültigkeit der Staatsmacht abhanden gekommen ist. Dieser Mann hat praktisch feststellen müssen, daß hinter den Verträgen, die er abschließt, eigentlich gar kein politisches Subjekt mehr steht. Er hat die Konkurrenz um die Macht, die die gesamte Politik in seinem Staat okkupiert, an seinem Job bemerkt: Der Souveränitätskampf zwischen den Republiken und der Union entzieht den Verträgen, für die er um die Welt reist, von innen die Glaubwürdigkeit und Rechtssicherheit. Daß die Regierung, für die er Außenpolitik macht, selber nur noch Material und Teilnehmer an dieser Konkurrenz ist, hat er so bemerkt, daß er nicht weiß, wer hinter ihm steht bzw. für wen er Außenpolitik macht. Wenn er sich in realsozialistischer Tradition an die Person halten will, die die richtige Linie erfunden hat, wird er darauf gestoßen, daß auch die mit ihrem Lavieren im Machtkampf die Gewißheit der Linie nicht stiftet; auch die Führungspersönlichkeit, die doch die Massen, die Partei, das Volk hinter sich zu haben hätte, hat sie nicht mehr hinter sich. Und, gemessen an den Geboten der guten Linie, gerät die Führungspersönlichkeit selber in den Verdacht, sie zu verraten.

Schewardnadse hat das alles als fehlende Stabilität beklagt - und zum Kampf gegen die "Diktatur" aufgerufen. Er hat geklagt, daß viel zu wenig dikatorische Gewalt hinter seiner Linie steht, daß sich ein in der Welt geachteter sowjetischer Außenminister in seinem eigenen Obersten Sowjet wie ein Verräter an nationalen Interessen beschimpfen lassen muß, daß ein in der Welt geachteter Präsident in seinem eigenen Obersten Sowjet ausgepfiffen wird und Mißtrauensanträge einkassiert. Und wenn er dazu aufruft, den Kräften, "die die Regeln des parlamentarischen Kampfes zu frei auslegen", das Handwerk zu legen, warnt er vor einer aufkommenden Diktatur. Denn dieser Mann hält auch dann noch, wenn er praktisch feststellen muß, daß die Staatsgewalt durch die Perestrojka untergraben wird, an der Perestrojka als Erfolgsrezept seines Staates fest. Er kann die Wirkungen der Perestrojka einfach nicht als ihre Wirkungen wahrhaben, weil er ihre Ideale nicht aufgeben will. Deswegen ist für ihn "Diktatur" und "Destabilisierung" so ziemlich dasselbe:

"Ich trete zurück. Dies ist mein Protest gegen die anbrechende Diktatur." (SZ, 21.12.)

"Sollte die Destabilisierung anhalten und geriete der Demokratisierungsprozeß ins Stocken, wäre es unmöglich, den bisherigen außenpolitischen Kurs weiterzuverfolgen." (FR, 4.1.)

Es handelt sich also bei diesem Rücktritt um den bisher in der Geschichte noch nie vorgekommenen Fall, daß ein Politiker in Amt und Würden sich für unfähig erklärt, sein Amt weiterhin wahrzunehmen, weil die Politik, die er treibt, die Machtgrundlage dieses Amtes zerstört hat.

6. Der KGB: Ein Geheimdienst ohne klaren Auftrag

Der sowjetische Geheimdienst ist voll für die Perestrojka. Er hat Selbstkritik geübt und sich für seine Funktion im Rahmen der alten Unrechtsherrschaft und Unterdrückung entschuldigt, jedem "Stalinismus" abgeschworen. Er hat z.B. für die westliche Journaille Tage der offenen Tür veranstaltet, im Ljubanka-Gefängnis und in Arbeitslagem den Zustand von politischen Gefangenen überprüfen lassen und im Moskauer Hauptquartier seine Amtsräume vorgezeigt. Zum Gegenbesuch in Pullach ist er allerdings noch nicht eingeladen worden. Er hat sich der Anregung des sowjetischen Außenministers nicht widersetzt, im Zug der West-Ost-Aussöhnung mit dem CIA "zusammenzuarbeiten", wenn auch leider nichts darüber bekannt geworden ist, wie sich diese "Zusammenarbeit" anläßt.

Er hat allerdings durch die Perestrojka auch gewisse Probleme beschert bekommen, denn sein Aufgabenbereich ist dadurch ins Schwimmen gekommen, so sehr, daß in der Sowjetunion in Zweifel gezogen wird, ob es ein solches Staatsorgan überhaupt geben darf. Dieser Standpunkt wird von hier aus lebhaft unterstützt und mit dem Kompliment versehen, daß er von sogenannten "demokratischen Kräften" vertreten wird - deshalb, weil demokratische Kräfte hierzulande gar nicht genug an Staatssicherheit bekommen können.

Vorläufig aber soll sich der KGB immer noch um die Sicherheit der Union kümmern, wenngleich dieser Aufgabenbereich sich stark verändert hat. Der gesamte Katalog subversiver Elemente im Inneren, alle Spielarten von Antikommunismus religiöser, nationalistischer, westlicher Prägung, auf die der KGB früher aufzupassen hatte, sind im Lichte von Glasnost und "allgemein-menschlichen Werten" in den Rang verfassungsmäßiger Güter aufgestiegen, mit Ausnahme gerade noch der bombenlegenden Fraktionen. Ebenso sind die Aktivitäten des Auslands im Inneren der Union im Rahmen der neuen Außenpolitik umbewertet worden: Radio Free Europe und Radio Liberty gelten heutzutage als Beitrag zur Perestrojka, gerade weil sie den vielen Völkern auf dem Weg in ihre nationalen Rechte mit Rat und Tat beiseite stehen. Die entsprechende praktische Betreuung der Nationalismen vor Ort fällt einwandfrei unter die Kategorien Völkerverständigung und Freizügigkeit, auf die die neue Sowjetunion geschworen hat. Wenn Gerd Ruge und Gabriele Krone-Schmalz baltischen Blut-und-Boden-Faatikern bei ihrem Rassen-, pardon: Freiheitskampf Mut machen oder russischen Elendsgestalten die Hetze auf Kommandowirtschaft und KP-Funktionäre in den Mund legen, handelt es sich um "Information", damit sich die Völker besser kennenlernen. Und wenn offizielle Gesandte anderer Staaten vor Ort diplomatische Kontakte knüpfen und weniger offizielle Hilfe organisieren, nimmt das Fortschrittslager in Moskau derlei als begrüßenswertes Interesse an der Perestrojka und Engagement für die Erneuerung.

Die prekäre Lage des sowjetischen Geheimdienstes angesichts dieser Umdefinition seiner Funktion ergibt sich nicht daraus, daß er zum harten Kern der alten Ordung zählt und insgeheim gegen die Regierung an der Restauration arbeitet, wie die Sowjetkenner alle wissen wollen. Im Gegenteil: Gerade weil er nichts weiter als seinen Dienst verrichten will, loyal zur Führung wie seine Kollegen in anderen Staaten auch, tut er sich hart. Der Dienst ist von oben nicht mehr definiert, aber abgeschafft wird der Apparat auch nicht. Nach wie vor gibt es eine vage Vorstellung davon, daß eine Staatsgewalt ein Auge auf Leute haben muß, die sie in Frage stellen - auch wenn die sowjetische Führung nicht genau zu sagen weiß, wer das eigentlich sein soll.

Die "innere Sicherheit" der Sowjetunion:

- Bürgerkrieg

Im Rahmen seiner Pflichterfüllung hat der KGB-Chef dem Volksdeputiertenkongreß einen Bericht zur inneren Sicherheit abgegeben, der in einem Staat wie der BRD nur eine einzige Konsequenz, eine einzige Antwort zulassen würde: die Verhängung des Notstands. Aber die Sowjetunion ist ja bekanntlich immer noch ein Unrechtsstaat.

"In verschiedenen Landesteilen gibt es mehr als 10 nationalistische Vereinigungen mit militarisierten Formationen. In mehr als 400 bewaffneten Formationen solcher Art seien mehr als 26.000 Mann zusammengeichlossen." (SZ, 24.12.)

Zum besseren Verständnis für Demokraten: Bei den Waffen handelt es sich nicht um Vermummung, Eisenkrampen und Pflastersteine. Der KGB-Chef hat nach dieser Bestandsaufnahme seinen Antrag an die Politik gestellt, dagegen vorzugehen und zwar mit dem einzigen Mittel, das dagegen verfängt, militärisch:

"Wir sollten bereit sein, Blutvergießen hinzunehmen, wenn wir darüber reden wollen, die Ordnung in unserem Lande wiederherzustellen. Fließt denn etwa noch kein Blut?" (FR, 24.12.)

Dieser Antrag hat ihm das Entsetzen aller Demokraten in und außerhalb der Sowjetunion eingebracht. Die linksliberale Frankfurter Rundschau, die ihr eigenes Staatswesen deshalb so schätzt, weil es seine Polizei ohne Waffen losschickt, wenn sie ihre "politischen Lösungen" mit den Neuerern an der Startbahn West oder in besetzten Häusern veranstaltet, hatte das passende Urteil sofort bei der Hand:

"KGB-Chef droht Neuerern in der UdSSR blutiges Einschreiten an".

- Die Sicherheitsorgane unter Beschuß

"Neuerer" in der Sowjetunion zeichnen sich schließlich auch dadurch aus, daß sie die von der Perestrojka verbreitete Ideologie, unter Stalin und Breschnew hätte nicht eigentlich die Partei, sondern der KGB alleine regiert, so auffassen, daß eine wirklich anständige Politik ohne einen solchen Apparat auskommen muß. Deshalb hat der KGB neuerdings Überläufer zu verzeichnen, Agenten, die an die Öffentlichkeit gehen oder zu den "demokratischen Kräften", und "Machenschaften aufdecken", was eine echte Demokratie als Verletzung von Dienstpflichten und Amtsgeheimnissen unter Strafe stellt. Statt gerade als Geheimdienst unbegrenzte Glaubwürdigkeit zu genießen wie in einer wirklichen Demokratie, stehen Berichte des KGB in der heutigen sowjetischen Politik im Verdacht politischen Intrigantentums. Seine Beamten werden des öfteren selber wie subversive Elemente behandelt, was die Arbeit der Behörde in gewisser Weise beeinträchtigt, so daß ihr Chef die Volksdeputierten um mehr Unterstützung angehen muß:

"Krjutschkow nannte als einen der Hinderungsgründe für ein wirkungsvolles Agieren seiner Behörde eine Diskreditierungskampagne." (SZ, 24.12.)

Das haben westliche Geheimdienste auch noch nie nötig gehabt, Politiker eigens bitten zu müssen, sich vor sie zu stellen. Das wissen und tun demokratische Politiker nämlich von alleine. Dann brauchen sich die Gemeindienstchefs auch erst gar nicht so aufdringlich im Parlament zu präsentieren, so daß die westliche Öffentlichkeit wieder einmal bestätigt bekommt, daß immer noch der KGB regiert.

- Ausländische Zersetzungstätigkeit

Es konnte dem KGB ebenfalls einfach nicht verborgen bleiben, daß "trotz" Perestrojka und blendender Beziehungen zum westlichen Ausland das Ausland nach wie vor - d.h. mehr denn je angesichts der günstigen Bedingungen - seine klassischen Geheimdienstaktivitäten im Inneren der Sowjetunion unternimmt. Er hat es daher für seine Pflicht gehalten, die Volksdeputierten auf Kontakte des westlichen Auslands zu den aufständischen Separatisten hinzuweisen, auf "von westlichen Geheimdiensten finanzierte antisowjetische Zentren" (SZ 24.12.) und auch auf ein paar Haken an der westlichen "Hilfe":

"Bei ihrer Hungerhilfe und den Lebensmittelverkäufen lieferten die westlichen Handelspartner 'verdorbenes und bisweilen verseuchtes Getreide'. Nahrungsmittel mit erhöhter Radioaktivität und schädlichen chemischen Zusätzen. 'Rund 40 Prozent des Importweizens sind mit Unkraut durchsetzt, zehn Prozent nicht belüftet. Und wir zahlen dafür mit Valuta'. Den Deutschen warf Krjutschkow vor, sie exportierten in die UdSSR veraltete und fehlerhafte Ausrüstungen." (FR, 24.12.)

Verkehrt an dieser Warnung sind sicher nicht die Beispiele, verkehrt ist ihre Einordnung unter dem Titel "Wirtschaftssabotage", schließlich handelt es sich um ganz normale Handelspraktiken und Techniken der ehrwürdigen Marktwirtschaft, wenn ein Handelspartner, der mit seiner Notlage erpreßbar ist, mit Ramsch bedient wird.

Zurückgewiesen worden ist der KGB-Chef aber nicht wegen seiner Unkenntnis der Politischen Ökonomie, sondern damit, daß er mit einer solchen Rede die Erfolge der sowjetischen Außenpolitik gefährdet. Seine defensive Einkleidung, die Berufung auf James Baker höchstpersönlich -

"Dieser habe gesagt, daß es kurzfristig nicht um den Erfolg der Reform gehe, sondern um die Vermeidung von Anarchie und Chaos" (SZ, 14. 11.) -,

hat ihm nichts genützt. Eine "scharfe Reaktion" des US-Außenministers, "Rückfall in den Kalten Krieg" (FR 27.12.), und der KGB-Mann wurde zurück vor die Öffentlichkeit zitiert, um eine Ergebenheitsadresse an die USA und den guten Einfall seiner politischen Führung abzuliefern, sich der Weltmacht Nr. 1 anzudienern. "Ausdrücklich" mußte "die Erwärmung des internationalen Klimas" begrüßt und das explizite Bekenntnis abgelegt werden, daß sich der KGB mit seiner Intervention keinesfalls in die Politik hatte einnmischen wollen:

"Wir sind in eine neue Etappe im Leben der UdSSR eingetreten. Wir wollen diese nicht zurückdrehen, unser Kurs ist nur nach vorn gerichtet."

Dafür, daß es überhaupt noch einen KGB gibt, hat er sich dann mit dem Argument entschuldigt,

"daß die Politik der westlichen Regierungen von den Aktivitäten ihrer Geheimdienste getrennt werden müsse." (FR, 27. 12.)

Die Erkenntnisse seines Amtes bezüglich der Aktivitäten auswärtiger Geheimdienste kann er schlechterdings nicht ignorieren; aber wenn seine Regierung verlangt, daß man die Beziehungen zu den dazugehörigen Regierungen für hervorragend hält, dann muß das wohl so sein.

Ein Sicherheitsdienst in einem Unsicherheit stiftenden Staat

Der Eiertanz, den ein angeblich omnipotenter KGB-Chef veranstaltet, ist ein glatter Beweis für das Gegenteil: daß es sich nämlich bei Geheimdiensten wirklich um Dienste handelt und daß ein Geheimdienst nur soviel taugt, wie die Macht intakt ist, die ihn beauftragt und kontrolliert.

Es ist eine einzige Absurdität, daß der KGB vor dem Volksdeputiertenkongreß an Selbstverständlichkeiten erinnern muß, daß er den Antrag stellen muß, gegen nationalistische, bewaffnete Einheiten in der Sowjetunion vorzugehen, daß er auf die Aktivitäten sämtlicher westlichen CIAs und BNDs auf dem Boden der Union hinweisen muß, daß er darauf aufmerksam machen muß, daß der Titel "Hilfe" und die westlichen Geschäfte öfters nicht zusammenpassen. Aber etliche politische Elementarkenntnisse sind von der Perestrojka-Ideologie ersäuft worden. Und die politische Zurückweisung, die die Erwähnung dieser Selbstverständlichkeiten erfahren hat, beweist, wie die Politik dieses Staatsorgan blockiert und daß es sich blockieren läßt, weil es seinem Auftrag nachkommen will, der Politik behilflich zu sein.

Der KGB wird dazu genötigt, zurückzuziehen und zu beschwören, daß er die sowjetische Außenpolitik nicht angreifen, deren Erfolge nicht schlechtmachen will - um die Perestrojka-Ideologie zu dementieren, daß er wieder die Politik dominieren wollte. Er darf sich also nicht an das halten, was er weiß. Er soll sich um die innere Sicherheit der Sowjetunion kümmern und, wenn er "die Kräfte" nennt, die von einer inneren Sicherheit kaum mehr etwas übrig gelassen haben, wird er zur Ordnuny gerufen.

Ein Einsatzbefehl für den KGB ist allerdings klar und deutlich erteilt und vom Rest der Welt begrüßt worden: der Einsatz beim Päckchenverteilen. Das möchte man auch einmal hier erleben, daß der Verfassungschutz, der BND und MAD fürs Rote Kreuz Suppe verteilen.

7. Die Rote Armee: nicht mehr rot und zwischen Bürgerkriegsfronten

Die Rote Armee befindet sich in der für ein Militär höchst ungewöhnlichen Lage, daß ihr Daseinszweck verloren geht: Nicht nur deshalb, weil der ehemalige Feind von der neuen Außenpolitik zum Freund umdefiniert worden und ein neuer Verteidigungsauftrag nicht recht zu sehen ist, sondern vor allem deshalb, weil in Frage steht, wer die Nation, wer das Staatswesen überhaupt ist, für deren Verteidigung ein Militär nun einmal da ist und von dem es seine Aufträge erhält.

Ideologische und wirkliche Abrüstung

Der bis dahin gültige außenpolitische Auftrag: "Schutz der Sowjetunion und ihrer Interessen in der Welt" ist durch die neue außenpolitische Linie glatt für überflüssig erklärt worden. Mehr noch: Was bislang als Erfolg und Verdienst der Roten Armee gegolten hat, wird nachträglich als schwerer Fehler verdammt. Aus der "Verteidigung des Sozialismus" ist eine falsche "Ideologisierung der Außenpolitik" geworden, aus dem erfolgreich bestandenen Kalten Krieg eine schlechte "Politik der Stärke", aus dem notwendigen "Gleichgewicht" eine verwerfliche "Überrüstung". Während die NATO die einseitige Beilegung des Ost-West-Gegensatzes als gelungene Abschreckung, als ihren Erfolg feiert, mußte die Rote Armee 40 Jahre Verteidigung des Sozialismus als ärgerliches Mißverständnis betrachten lernen, das zudem die eigene Nation, den höchsten Wert im Berufsethos des Militärs, geschädigt hat: Die Sowjetunion hätte sich gänzlich unnötig Feinde in der Welt geschaffen, das Militär hätte für seine hypertrophen Vorhaben an der Volkswirtschaft schmarotzt und das Volk darben lassen.

Die Rote Armee hat es aber nicht nur mit einer Allunions-Rufmordkampagne zu tun - der böse "militärisch-industrielle Komplex", das soll auf einmal in erster Linie sie selber gewesen sein -, sondern ebenso mit den praktischen Konsequenzen der politischen Einsicht in ihre angebliche Überflüssigkeit: Sie wird abgerüstet, Waffen werden verschrottet - in Dimensionen, wie es bislang nur Kriegsverlierer über sich haben ergehen lassen müssen. Das bisher verteidigte Terrain wird geräumt, und der Abzug gerät auch der Form nach zu dem, was er der Sache nach ist: eine Kapitulation, der Abzug einer Verlierernation, ohne daß ein Krieg verloren worden ist. Die bisherigen Freunde und Schützlinge im Warschauer Pakt sind in die Freiheit entlassen worden, sich endlich offen als Feind der Sowjetunion erklären zu dürfen, behandeln die sowjetischen Restposten wie eine Mischung aus Marodeuren, Vergewaltigern und Umweltschmutz und organisieren den Abzug als eine einzige Demütigung der Roten Armee.

Ohne Verwendungszweck

Die Sowjetunion zieht ihre Truppenteile in ihre Grenzen zurück, ohne daß die Voraussetzungen da wären, sie überhaupt nur unterzubringen. Sie werden in Zeltlager, Schulen und ähnliche Asyleinrichtungen gestopft wie eine Ansammlung von Arbeits- und Obdachlosen, und dürfen von da aus den Zusammenbruch der innersowjetischen Versorgung miterleben. Die Sowjetunion befiehlt den Rückzug, ohne daß irgendeine Verwendung für die außer Funktion gesetzte Armee von der politischen Führung vorgesehen wäre und ohne eine schlüssige Antwort auf die Frage, wo bei dieser neuen Linie eigentlich der Gewinn für die eigene Nation liegen soll.

In Europa soll die Chose dem gemeinsamen Haus dienen, das die Gorbatschow-Mannschaft wie die sichere Zusage auf künftigen Wohlstand ihrer vielen Völker interpretiert, wenn auch von dem angekündigten Fortschritt weit und breit nichts zu entdecken ist. Und die neue Friedensordnung auf der Welt sieht so aus, daß bisherige Freunde wie der Irak unter Mithilfe des eigenen Staates als Gegner behandelt werden, daß die USA und der Rest der Welt einen Krieg nach allen Regeln der Kunst gegen ihn eröffnen, ganz nebenbei auch noch mit dessen militärischer Ausstattung die Macht der Sowjetunion schlecht machen - soll das die Friedensordnung sein, für die das sowjetische Militär aus dem Verkehr gezogen worden ist?

So läßt die Sowjetunion ihr Militär die merkwürdigen Kalkulationen einer Weltmacht spüren, die ihre Position dadurch retten will, daß sie sich nicht mehr als Weltmacht aufführt: Sie räumt ihre Positionen, transportiert die Restposten ihrer Weltmacht nach Hause, ohne einen richtigen Verwendungszweck dafür zu kennen. Andererseits will sie ihren Rang als Weltmacht nicht aufgeben, ihre militärischen Mittel nicht nur abwracken; sie läßt deshalb das Militär in ihren Grenzen vergammeln, aber gibt ihm keine Richtlinie vor, wofür es eigentlich dazusein hätte. Ein solcher moralischer Verschleiß ist noch keiner im Krieg ungeschlagenen Armee jemals zugemutet worden.

Das Problem kennt die Bundeswehr wirklich nicht. Für eine winzige Pause wurde in der westdeutschen Öffentlichkeit das Gerücht bequatscht, ob der Verlust von Front und Feindbild, das sie natürlich nie gehabt hat, die Moral der Truppe schwächen - genauso schnell ist das Problem wieder in der Versenkung verschwunden. Das Militär einer imperialistischen Nation weiß auch ohne politische Umschulung, daß eine Export- und Genscher-Nation für ihre Leistungen eine Wehrmacht braucht, auch ohne aktuellen und bestimmten Feind. Und jetzt hat es ja auch wieder einen.

Die Rote Armee im Bürgerkriegseinsatz

Sie wird zunehmend als innere Ordnungstruppe eingespannt - und das heißt gegen die vielen Völker, gegen die guten Menschen und gegen die Werktätigen aller Nationalitäten, die sie 40 Jahre lang beschützt hat. D.h. der Roten Armee werden politische Aufträge erteilt, die ihrem 40 Jahre lang gepflegten Selbstverständnis kategorisch widersprechen. Da helfen auch die politischen Sprachregelungen, " Kräfte", "Diversanten", "Elemente", "bewaffnete Banden" wenig - spätestens die Teile der Armee, die aus der betreffenden Region oder Republik stammen, entdecken, daß es sich bei den Unruhen um berechtigte Ansprüche der eigenen Nationalität handelt. Zumal die sowjetische Politik beide Klassifizierungen nebeneinander ins Recht setzt.

Die Armee gerät selber zum Material der Konkurrenz zwischen den neu etablierten politischen Gewalten und der sogenannten Zentrale, zwischen deren konkurrierenden Ansprüchen, die sich trotz aller Gorbatschow'schen Unionsideologien einfach nicht vereinbaren lassen. Die Republiken betreiben die Nationalisierung der Roten Armee. Inzwischen hat ungefähr jede Republik inkl. der Russischen Förderation ihre Absicht erklärt, ein eigenes Militär aufzustellen, und einige sind dabei schon ziemlich weit fortgeschritten. Der Präsident in Moskau hat einerseits mit seinen ganzen Vollmachten die einschlägigen Gesetze für ungültig erklärt, andererseits verhandelt er mit denselben Republiken, die ihre Gesetze ungerührt für gültig erklären, über Kompromisse - obwohl die Materie in keiner Hinsicht kompromißfähig ist.

Die Wirkungen dieser Konkurrenz sind so weit gediehen, daß es um den schieren Bestand und Zusammenhalt der Armee geht. Rekruten erscheinen nicht zur Einberufung, Soldaten desertieren, weil sie nicht gegen ihr Volk antreten oder nicht verstehen können, was sie mit den Gemetzeln anderer Völker zu schaffen haben. In den separatistischen Republiken werden Garnisonen überfallen zwecks Waffenbeschaffung, die stationierten Truppen werden als Okkupanten beschimpft und behandelt; die baltischen Regierungen unterbinden schon einmal die Versorgung mit Strom und Lebensmitteln, die Bevölkerung terrorisiert Offiziere und deren Familien ein bißchen. Die Armeechefs verlassen sich im Zweifelsfall nicht mehr auf die militärische Disziplin und schicken in den Kaukasus nur noch Freiwillige.

Eine Regierung, die von ihren Einsatzbefehlen nichts wissen will

Das Militär befindet sich in der Lage, daß es die einzige Kraft ist, die in einer Union, in der allenthalben Mord und Totschlag stattfinden, noch Ordnung stiften, den Staat retten kann. Die Lage der Nation und seine eigene Zersetzung übertreffen alle Definitionen eines nationalen Notstands. Die Mannschaft in Moskau droht auch beständig mit dem Ernstfall - mit einem Militärregime -, und distanziert sich von der angeblich undemokratischen Anwendung von Gewalt.

Die Nationalistenführer sind an einem Tag verbrecherische Elemente, am nächsten Tag werden sie im Kreml empfangen oder von anderen Republikchefs mit Verträgen und gemeinsamen Deklarationen beehrt. Die "Zentrale" betätigt sich gar nicht als Zentrale und klarer Antipode der Separatisten, und dementsprechend setzt sie das Militär ein.

Das Militär wird ins Baltikum geschickt, um Rekruten einzufangen und den Regierungen vor Ort die Ungültigkeit ihrer Militärgesetze zu demonstrieren, und gleichzeitig wird mit den Separatisten über Ersatzdienst, Einsatz der Rekruten in ihrer Republik verhandelt. Wenn die Truppen im Baltikum zuschlagen, schickt der Präsident einen Vertreter des Föderativrates hinterher, der die militärische Aktion als "Verbrechen" bezeichnet und die "Zuständigen" dafür vor Gericht bringen will. Alle Welt in und außerhalb der Sowjetunion wälzt die blöde Frage, wer den Einsatzbefehl gegeben hat.

In der Sowjetunion stehen nur mehr Souveränitätsfragen zur Debatte, d.h. Gewaltfragen des härtesten Kalibers; Militär, Gewalt, ist das einzige Mittel zur "Entscheidung" dieser Art von Fragen. "Die Zentrale" setzt dieses Mittel ein, und will nachher nichts davon gewußt haben. Der Truppenaufmarsch soll die Unabhängigkeitsfanatiker einschüchtern, erpressen aber die Ideologie der Auftraggeber in Moskau nicht blamieren. Auch da, wo sie Gewalt einsetzen, sollen es statt Gewalt "politische Lösungen" sein. Die politische Führung ruft den Notstand aus und verhindert wegen ihrer Ideologie dessen Exekution.

Alle reden von Putsch, aber die Putschisten fehlen

Nicht umsonst reden in der Sowjetunion alle von Putsch - die Lage ist danach. Ebenso klar ist, daß die Armee die einzige Kraft ist, die vielleicht noch - dazu imstande wäre. Aber dieselbe Armee steht vor der unlösbaren Aufgabe, sich einen politischen Auftrag erteilen zu müssen, der in der Politik selbst nicht existiert. Für welche Staatsraison soll Ordnung geschaffen werden? Die Truppenentsendung ins Baltikum wird von Gorbatschow mit der dunklen Parole angekündigt, dort drohe die Einführung einer "bourgeoisen Ordnung" - aber wer soll das sein? Derselbe Gorbatschow propagiert unter dem Namen 'Marktwirtschaft' die Einführung dieser Ordnung; wirkliche Bourgeois kennt man nur als hochwillkommene auswärtige Gechäftspartner; wen soll man dann unter dem Titel im Baltikum überhaupt bekämpfen? Wer ist denn der Feind der Ordnung, der beseitigt gehört: Für welche Sache, für welches Programm sollte geputscht werden - wenn das alte Staatsprogramm verworfen worden ist, weil es der Nation Unrecht getan und Armut gebracht hat, und wenn das gültige Staatsprogramm namens Perestrojka selber lauter unvereinbare Interessen ins Recht setzt, selber die unhaltbare Lage schafft? Auch das ist ein bislang einmaliger Fall: die Politik ruiniert ihren Gewaltapparat, ihr Militär, sie verunmöglicht selbst seinen Einsatz zur Rettung des Staats.

8. Die "außenpolitischen Aspekte" des Notstands

Die Perestrojka verfolgte von Anfang an das Ziel, der Sowjetunion einen neuen Platz in der Staatenwelt zu verschaffen. Gewissermaßen in einem gigantischen Tauschverfahren sollte die Preisgabe russischer Machtpositionen, gepaart mit einer auf den (Welt-)Markt umgestellten Wirtschaft Wunder wirken. Die Beseitigung überflüssiger Feindschaft und die Öffnung für das kapitalistische Gewerbe war darauf berechnet, politischen und ökonomischen Kredit für eine neue Sowjetunion an Land zu ziehen.

Nachdem die Großmacht Nr. 2 ihre Leistungen in diesem Tausch erbracht hatte - der Ostblock war befreit und Deutschland ganz -, als die Perestrojka auf allen Gebieten Furore machte, stellte sich tatsächlich auch auf westlicher Seite die Bereitschaft zu Gegenleistungen ein. In der Diplomatie, auch in der die Rüstung betreffenden, anerkannte man das Werk des Reformers. Er wurde zuvorkommend behandelt, d.h. ohne ständiges Vorbuchstabieren des Feindbilds, denn die Änderung des sowjetischen Willens in außenpolitischen Dingen war bewiesen. Für seinen Liberalismus wurde er mit dem Nobelpreis geadelt, und das ökonomische Interesse an einer Erschließung der Sowjetunion durch Ware, Geld und Kapital kam auf die Tagesordnung. Die Besichtigung von Land und Leuten im Vielvölkerstaat ward intensiviert, alle möglichen Projekte wurden geprüft und manche begonnen. Daß der Einstieg der internationalen Geschäftswelt für die russischen Erwartungen stets zu begrenzt ausfiel, tat der Kontaktfreude keinen Abbruch schließlich galten die Maßstäbe gelungenen Geschäfts, die der Weltmarkt gebietet; und die Unzufriedenheit darüber, daß die sowjetischen Hoffnungen auf eine rasche "Entwicklung" auf der Strecke blieben, war mit allerlei Schwierigkeiten gut zu erklären, auch mit unzureichenden Bedingungen, die das Gastland der vornehmlich europäischen Händler und Investoren erst noch zu schaffen hätte. Die wirklichen Enttäuschungen darüber, was die Abhängigkeit vom Kapitalimport für eine Nation bringt, bleiben Gorbatschow und seinen Nachfolgern vorerst erspart.

Und zwar deswegen, weil der Westen seine Bemühungen um "Stabilität" ganz anders würdigt als in anderen Fällen. Nicht als die unerläßliche Schaffung eines gesicherten Rahmens für gute Geschäfte, vielmehr als Rückfall in unzulässige Gewaltanwendung in der Freiheitsberaubung fremder Völker. Es stellt sich heraus, was Genscher und andere meinten, als sie von der "Unumkehrbarkeit" der Perestrojka dunkel sprachen; die zwar mit gegenwärtig gutem Willen regierte Weltmacht soll auch ihre Fähigkeit einbüßen, sich mit ihren immer noch vorhandenen interkontinentalen und anderen Mitteln der Freiheit in den Weg zu stellen. An der aufgeregten Hypothese, was denn sei, wenn Gorbatschow gestürzt würde und wieder ein Böser die Macht übernimmt, wurde nur eine Absicht demonstriert: Auch ohne Kommunismus ist die Macht dieser Nation nicht zu dulden. Mit dem flotten Verfall der Macht, wie ihn die Perestrojka zustandebrachte, hatte nach dieser Seite hin die Sowjetunion schon viel geleistet. Die Beseitigung von Notstand und Chaos wirkt umgekehrt auf das westliche Auge wie der Wille zur Wiederbeschaffung auch der Fähigkeit, weltmächtig aufzutreten. Deshalb ist das Vorgehen gegen den Separatismus in der Union heute nicht nur dasselbe wie gestern die Zwangsherrschaft über den Ostblock, sondern gleich noch etwas mehr. Moskau vergreift sich am verbrieften Recht der freien Welt auf seine Auflösung. Der Versuch der Selbstbehauptung heute ist dasselbe wie eine Veränderung des erreichten Kräfteverhältnisses, eine Störung der Weltordnung - vergleichbar mit der Krise im Nahen Osten, wo ein Krieg fällig war. Die künftige Ordnung der Sowjetunion bzw. ihrer Reste ist keinesfalls mehr ihre innere Angelegenheit.

Ob Gorbatschow mit dieser Antwort auf seine Einladung, die Welt möge sich einer geöffneten Sowjetunion zuwenden, gerechnet hat? Ob er allmählich merkt, daß er das große sozialistische Vaterland zum sturmreifen Weltordnungsfall aufbereitet hat?