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Dieser Artikel ist in der MSZ 6-1990 erschienen.
Der DGB in der Ostzone
TARIFPOLITIK FÜR DEUTSCHLAND
"Wenn die Werktätigen der Zone schon nichts anderes werden sollen als Lohnarbeiter des Kapitals, dann brauchen sie auch eine starke Gewerkschaft, ohne die es einfach nicht geht. Mit ihr umso besser." (Decker/Held, Der Anschluß, München 1990, S. 164)
Seit nunmehr einem Jahr kümmern sich bundesdeutsche Gewerkschaften auch in den neuen bundesdeutschen Ostprovinzen um Löhne und Arbeitsbedingungen. Daß ihre diesbezüglichen Anstrengungen den Lohnabhängigen dort anderes gebracht hätten als die von Staat und Kapital ohnehin verordneten Billiglöhne plus Arbeitslosigkeit, ist nirgends zu entdecken. Die Aktivitäten der Gewerkschaft im Osten als fruchtlos zu bezeichnen, wäre allerdings eine grandiose Verharmlosung. Es ist schlimmer: Sie sorgt kräftig mit dafür, daß die Maßstäbe von Staat und Kapital auch in der ehemaligen DDR voll zum Tragen kommen.
Tarifpolitik für den "wirtschaftlichen Aufbau"
Schon vor der Wirtschafts- und Währungsunion wußte ein Steinkühler genau, was auf "die Menschen" drüben zukommt:
"Den Absturz abfedern: Alle Erwartungen, aber auch alle Ängste richten sich auf den 1. Juli 1990, auf den Tag, der den Menschen in der DDR die harte Mark bringen soll. Aber mit der DM kommt auch die Marktwirtschaft und damit der eisige Wind der internationalen Konkurrenz. Die wenigsten Betriebe in der DDR sind darauf eingerichtet. Es wird viele Pleiten geben und noch mehr Arbeitslosigkeit... Dort, wo dies unvermeidlich ist, müssen Auffangnetze gespannt werden, damit die Menschen nicht in die Massenarbeitslosigkeit entlassen werden." (metall 12/90)
Ein Steinkühler macht sich und anderen nichts vor: Die Eroberung der DDR durch die DM schafft unter den Werktätigen drüben lauter Betroffene; mittellose Leute, die den Geschäftskalkulationen der neuen Fabrikherren und Grundeigentümer schutzlos ausgeliefert sind. Für die erklärt sich die BRD-Gewerkschaft zuständig: allerdings nicht als Instanz, die Einwände gegen das Projekt Anschluß vorbrächte oder Abwehr im Sinn hätte gegen die Ansprüche, die die neuen Herren des Landes an das Fabrik- und Büropersonal stellen. Deren "Folgen" für die neuen Lohnabhängigen erklärt Steinkühler ja gleich für "unvermeidlich", als wollte er seine neue Klientel schon vorweg vor Illusionen warnen. Keiner in der DDR soll meinen, an die Stelle der bislang geltenden staatlichen Garantien von Lohn und Arbeitsplatz träten lauter schöne neue Angebote zum Geldverdienen; schonungslos wird den neuen Lohnabhängigen mitgeteilt, daß "Anschluß" für sie erst einmal nichts anderes bedeutet als die Bestreitung ihrer Existenz.
Angesichts solcher Notlagen gegen die Rücksichtslosigkeit der Kapitalkalkulation darauf zu beharren, daß der Lohn doch seinen Mann ernähren müsse, befinden moderne Gewerkschafter für unrealistisch. Erfolgversprechend erscheint ihnen vielmehr eine Gewerkschaftspolitik, die in ihrer Sorge um die Metaller sich gleich um den Erfolg der Gegenseite sorgt:
"Die Betriebe in der DDR liegen auf dem Bauch, um nicht zu sagen auf der Schnauze. Die IG Metall hat ein großes Interesse daran, daß sie wieder auf die Beine kommen. Allerdings sind wir nicht der Meinung, daß das nur auf Kosten der Arbeitnehmer geschehen soll." (Steinkühler, HB 30.6.)
Die IG Metall beansprucht ein Sorgerecht nicht bloß für die Metaller, nein, für die DDR-Betriebe gleich mit; das hält sie nämlich für so ziemlich dasselbe. Wenn ihr Chef davon redet, die Betriebe drüben wären am Ende, so spricht er zwar, sachlich gesehen, über die Maßstäbe, denen die ehemaligen VEBs heute genügen müssen und nicht können, also über den Profit und seine Herrschaft und deren Wirkungen auf die alte DDR-Ökonomie. Für ihn steht aber mit der größten Selbstverständlichkeit fest, daß es sich bei der Misere der DDR-Betriebe um deren objektive wirtschaftliche Lage handelt, bei den Gründen dieser Lage um unumstößliche Sachgesetze der Ökonomie, wie sie nun einmal ist, bei dem Projekt, ehemalige DDR-Firmen konkurrenzfähig rentabel zu machen, um eine unanfechtbare Gemeinschaftsaufgabe von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Er weiß zwar, daß das Gewinnemachen "auf Kosten der Arbeitnehmer" geschieht. Er nennt es aber "auf die Beine kommen", weil er einfach davon ausgeht, daß eben dieselben Arbeitnehmer vom Geschäftserfolg ihrer Firma abhängen und ihn insofern brauchen. Deswegen ist seine Lagebeschreibung auch gleichbedeutend mit der Zusage, daß die Arbeitnehmer ein Hilfsangebot für das Zustandekommen von Geschäften machen. Er verlangt nur, daß andere auch mithelfen, die Arbeitgeber vor allem. Die sollen auch Kosten übernehmen, damit die Betriebe ihnen ordentlich Gewinn einspielen können. Eine schöne Arbeitsteilung: Die Unternehmer übernehmen die Last des Investierens, Lohnarbeiter helfen dabei, daß sich die Investitionen auch lohnen.
Für ein Billiglohnangebot, das das Kapital nicht ablehnen können soll.
Für die Gewerkschaft ist sonnenklar: Wenn das Kapital in der DDR für "Pleiten und Arbeitslosigkeit" sorgt, dann ist das zuallererst ein Argument gegen den Lohn. Und nicht nur ein Argument, sondern geradezu ein Sachzwang. Von dessen Wirksamkeit geht die Gewerkschaft so selbstverständlich aus, daß sie sich gleich um gar nichts anderes als um die Bremsung seiner Wirkungen kümmert. S o trägt sie das Ihre dazu bei, die Wirkungen der Arbeitslosigkeit auf den Lohn, das "Gesetz": 'Wo das Kapital entläßt, muß der Lohn runter', überhaupt erst durchzusetzen. Mit ihrer Sorte Interessenvertretung macht sie die neuen Lohnabhängigen dafür haftbar, daß das Kapital so wenig Interesse an ihrer Benutzung zeigt. Und woher weiß die Gewerkschaft, wie billig die Arbeitskraft in der DDR genau sein muß, um als Kompensationsmittel für den mangelnden Investitionswillen der Unternehmen zu taugen? Ganz einfach: Das hat sie dem Lohndiktat entnommen, das die Bundesregierung im Zuge der "Währungsunion" über die Zonis verhängt hat. Damals, am 1.7., sind nämlich alle Verbindlichkeiten, und ganz nebenher auch die Löhne, mit denen die volkseigenen Werktätigen versorgt worden waren, im Verhältnis 1:1 auf DM umgestellt worden; und die frisch gebackenen freien Lohnarbeiter bekommen schlagartig zu spüren, wie kostspielig es ist, über eine wertvolle Währung zu verfügen, die für den bloßen Lebensunterhalt eigentlich viel zu schade ist. Sie hatten nicht mehr ihre realsozialistische Versorgung, sondern ein Lohnniveau - und zwar im Verhältnis 1:3 zur westdeutschen Lohnstatistik. Nach gültigem wirtschaftspolitischen Urteil war es genau das, was das Geschäft in der DDR braucht. Das hat auch die Gewerkschaft eingesehen: Wenn schon diejenigen das so festlegen, die in Wirtschaftsfragen das Sagen haben - dann wird es ja wohl auch so sein!
Diesem politischen Lohndiktat entnimmt die Gewerkschaft die Maßstäbe für ihre Lohnverhandlungen auf dem ehemaligen DDR-Gebiet. Richtig "fertig" ist der DDR-Lohn für sie allerdings erst, wenn er ordnungsgemäß von denen abgesegnet ist, die für Lohnfragen zuständig sind, also von ihr. Tarifverhandlungen sind angesagt; und mit denen halten all die Gesichtspunkte in der Ostzone Einzug, nach denen die Gewerkschaft einen gerechten Lohn ermittelt. Nämlich als erstes eine Parteilichkeit für die Belange des freien Unternehmertums und der Regierung, die die Gewerkschaft für den allerselbstverständlichsten Realismus hält, von dem jede gewerkschaftliche Interessenvertretung auszugehen hat:
"Die Politik des FDGB hat mit gewerkschaftlicher Tätigkeit und Interessenvertretung nichts zu tun. Das gilt für die Kritik des FDGB an der Währungsunion, wie für die völlig unrealistischen Forderungen nach einem sofortigen Teuerungszuschlag von 30% und einer Erhöhung der Nettolöhne um 50% bei Einführung der DM, verbunden mit einer Reduzierung der Wochenarbeitszeit von derzeit 43 3/4 Stunden auf 38 Stunden... Der FDGB schätzt die Lage hier völlig unrealistisch ein. Keine Regierung und kein Unternehmen kann das tragen." (IGBE-Vorsitzender Witte, HB 10.5.)
Was tragbar und realistisch ist, definiert die Gewerkschaft folgendermaßen:
"Viele Arbeitnehmer haben nach der "Währungsunion" weniger Geld in der Lohntüte, gleichzeitig steigen die Preise. Deshalb begannen in der ersten Juniwoche die ersten Tarifverhandlungen zwischen der IG Metall und den neuen Arbeitgeberverbänden, um durch kurzfristige Zuschläge wenigstens die Kaufkraft zu sichern. Außerdem soll das ungerechte Lohn- und Gehaltssystem der DDR an bundesdeutsche Tarifverträge angenähert werden, ohne die Wirtschaftskraft der Unternehmen zu gefährden. Mit wachsender Produktivität soll auch das unterschiedliche Lohnniveau zwischen den beiden deutschen Staaten schrittweise schrumpfen." (Aus einem Werbeblatt der IG Metall vom 11.6.)
Erstens dementiert die Gewerkschaft ein Gerücht, das im Vorfeld der Währungsunion von verschiedenen westdeutschen Wirtschaftsgrößen, Bundesbankpräsident Pöhl an der Spitze, aufgebracht worden war. Damals hatte es geheißen, die Umstellung der alten DDR-Löhne auf DM hätte weiter gar nichts zu bedeuten, weil ja mit der neuen Währung sofort die freien Lohnverhandlungen Einzug halten und damit die alten Tarife automatisch hinfällig würden. Die Gewerkschaft tut das Gegenteil. Sie besteht kämpferisch auf einem nominellen Ausgleich für Abstriche vom 1:1 umgestellten Lohn. Indem sie das alte DDR-Lohnniveau verteidigt, stellt sie damit ein neues DM-Lohnniveau für die deutsche Ostzone her.
Zweitens läßt es sich die Gewerkschaft nicht nehmen, das gesamte Lohn- und Gehaltssystem der DDR für ungerecht zu erklären. Das hält die Gewerkschaft nicht aus, daß Löhne und Gehälter in der DDR systematisch nach anderen Maßstäben und Gesichtspunkten berechnet worden sind als in den allein menschengerechten Tarifverträgen im alten Zuständigkeitsbereich des DGB. Nicht die schnöden Geldbeträge, nein, viel wichtiger: die Systematik der Tarife muß dem bundesdeutschen Vorbild "angenähert" werden - überflüssig zu sagen, daß das die "Wirtschaftskraft der Unternehmen" nie im Leben "gefährden" darf.
Drittens vergißt die Gewerkschaft nicht, daß ein deutscher Durchschnittsbürger von einem Lohnniveau, wie es jetzt erst einmal gilt, nicht leben kann. Sie deutet deswegen den Wunsch nach einer Steigerung an; selbstverständlich in Abhängigkeit von der Größe, von der nach gültiger Gewerkschaftsideologie der gerechte Lohn sowieso hauptsächlich abhängt: von "wachsender Produktivität". Damit hat die Gewerkschaft zuallererst einmal bewiesen, daß der DM-Billiglohn, den sie für den Osten der Republik vereinbart hat, nicht mehr ein schlichter Akt staatlicher Willkür ist, sondern genau das objektiv Notwendige. "Ökonomisch vernünftig" ist der Ost-Lohn wegen der "mangelnden Produktivität" der DDR-Arbeit. Zum anderen hat sie damit festgelegt, daß er auch künftig nur "in dem Maße" steigen "kann", wie besagte "Produktivität" wächst.
Woher weiß die Gewerkschaft nur immer so genau, wieviel Lohn mit welcher Sorte Arbeit haargenau zusammmenpaßt? Denkt sie an eine Stückzahl, wenn sie sich sicher ist, daß einem VW-Arbeiter pro Stunde genau 19.30 DM zustehen? Oder hält sie die 17.80 DM für einen Stahlarbeiter für dessen gerechten Anteil am Betriebsergebnis? Vor oder nach Steuern? Hat sie die Arbeitshetze oder die Aktienkurse in Stunden- und Monatslöhne umgerechnet? Die ganze "Ableitung" des gerechten Lohns aus der Produktivität der Arbeit ist ein einziger Schwindel, der nichts anderes auf seiner Seite hat als die tatsächlich vereinbarten Löhne und die Tatsache, daß die deutsche Firmenwelt mit denen prächtig zurechtkommt. Die ganze Verurteilung der DDR-Ökonomie wegen mangelnder Produktivität, die keine Westlöhne hergäbe, ist derselbe Schwindel, der nur wieder die Tatsache auf seiner Seite hat, daß die alten VEBs westdeutsche Kapitalisten nicht übermäßig zum Einstieg reizen und die alten Belegschaften ihnen schon gleich keine Westlöhne wert sind. Das ist für die Gewerkschaft der Beweis, daß "mehr nicht drin ist" für die Jungs östlich der Elbe; und was nicht geht, das wäre auch ungerecht, und das kann die Gewerkschaft überhaupt nicht leiden.
Zwar schmeißen die Betriebe in der ehemaligen DDR diejenigen raus, die sie nicht brauchen können, und entledigen sich damit gerade der für sie überflüssigen, also "unproduktiven" Lohnkosten; zwar bringt das Kapital, wenn es denn im Osten investiert, seine eigenen durchgestylten Arbeitsplätze schon mit, sorgt also selbst dafür, daß sich die Arbeit der Zonis genauso lohnt wie die der Wessis. Das ficht die Gewerkschaft alles nicht an. Für sie ist der Lohn, den sie abgesegnet hat, genau das, was Arbeitern dafür zusteht, daß sie mit ihrer Leistung dem Kapital so schöne Gewinne ermöglichen. Wenn das Kapital darauf besteht, daß ihm das Gewinnemachen in der ehemaligen DDR nur ein Drittel des Westlohns wert ist, dann übersetzt sich das die Gewerkschaft in einen Produktivitätsrückstand und sagt ja dazu.
Nachdem die Gewerkschaft damit festgestellt und festgelegt hat, daß der Lohn in der Ostzone niedrig sein und bis auf weiteres bleiben muß, weil er nicht erhöht werden kann, steuert sie einige sehr verantwortungsbewußte Überlegungen zu der Frage bei, ob und warum er denn überhaupt steigen sollte. Genaugenommen müßte sie nämlich zugeben, daß alle ihre schlauen Begründungen für die Notwendigkeit eines Ostzonen-Sonder-Billigtarifs im Grunde für Lohnsenkungen sprechen, weil das Kapital ja immer noch nicht massenhaft nach drüben strömt. Das hält sie aus übergeordneten nationalen Gründen für unverantwortlich:
"Klaus Zwickel hat die Kritik an den Tarifabscnlüssen in der DDR-Metallindustrie scharf zurückgewiesen. Die Unternehmer weigern sich zu investieren, Politiker schauen zu, und die IG Metall, die allein etwas für die Arbeiter herausgeholt hat, wird von allen zusammen für den Ruin der DDR-Wirtschaft verantwortlich gemacht. Die IG Metall versuche mit ihren Tarifabschlüssen nichts anderes, als die DDR-Wirtschaft zu stabilisieren. Ohne die jetzt erzielten Abschlüsse bliebe den Arbeitnehmern nur der Fluchtweg in die bundesrepublikanische Wirtschaft. Wer Lohndisziplin predigt und Beschäftigungssicherung ablehnt, der muß auch damit rechnen, daß Wut und Verzweiflung sich in den kommenden Monaten in der DDR explosionsartig entladen könnten." (HB, 19.7.)
Alle schimpfen auf die IG Metall; dabei hat sie sich wieder nur den Kopf der Unternehmer und Politiker zerbrochen. Was sie da ausgehandelt hat, soll nämlich gar nichts anderes sein als ein Mittel, eine drohende wirtschaftliche Katastrophe in den fünf neuen Bundesländern und deren explosionsartige Entvölkerung zu verhindern. Die Gewerkschaft rühmt sich, mit ihrem Tariftheater das äußerste, was in ihrer Kraft liegt, dafür zu tun, daß die Leute im Osten sich in die ihnen neu aufgeherrschten Lebensverhältnisse schicken. Zur Verzweiflung besteht kein Anlaß mehr, wenn sie den Zonis ihre Billiglöhne als das höchste der Gefühle und ersten Schritt zur Angleichung nach oben schmackhaft macht - meint die Gewerkschaft.
In dieser Pose des sozialpolitischen Krisenmanagers wendet sich die Gewerkschaft an die Unternehmer und mahnt sie, die Arbeiter nicht mit unsachgemäßer Sturheit unnötig gegen sich aufzubringen. Angesichts von Warnstreiks in der DDR "befürchtet" Steinkühler,
"daß die Gewerkschaften der DDR die Kontrolle verlieren könnten, wenn sie schon in den ersten Tagen der Wirtschaftsunion von den Arbeitgebern unter Ausnutzung wirtschaftlicher Notlagen zu Kompromissen gezwungen würden, die für die Belegschaften nicht akzeptabel seien. Die Tarifparteien würden dann nie in ihre Ordnungsfunktion hineinwachsen, es könnte drüben zu chaotischen Zuständen kommen."
So unverantwortlich will und könnte die Gewerkschaft nie sein. Sie verteidigt unerbittlich den sozialen Frieden; gegen unvernünftige Arbeitgeber, aber genauso hart gegen wildgewordene Belegschaften, die noch nicht wissen, daß ein deutscher Arbeiter nur aus nationalem Pflichtbewußtsein oder überhaupt nicht streikt:
"Steinkühler sagte, daß die IG-Metall West für die Streiks in der Metallindustrie der DDR noch keine Verantwortung trage, und daß deshalb ihre Streikkasse nicht für solche Arbeitsniederlegungen zur Verfügung stehe." (HB 30.6.)
Was der Zoni statt Lohn braucht: Eine Tarifstruktur und ganz viel Qualifikation
In ihrem Fanatismus für die Herstellung einer Arbeiterklasse, die ihrer Benutzung durchs Kapital garantiert keine Schranken in den Weg legt, stört es die Gewerkschaft wenig, daß das Kapital den von ihr festgelegten Billiglohn zwar gerne mitnimmt, wenn es in der DDR produziert, aber deswegen noch lange keine Investitionen vornimmt, die sich "am Markt" nicht rechnen. Daß die Lohnhöhe den Grund zum Investieren abgebe, hat sie im Ernst ja niemandem versprechen wollen; als Bedingung dafür muß er aber auf jeden Fall weiter gelten. Auf dieses Prinzip gewerkschaftlicher Tarifpolitik für die neuen Ostgebiete hat sich der DGB erst kürzlich mit den Arbeitgebern in einem "Kooperationspakt zur Überwindung der schwierigen Lage in der DDR" geeinigt. Die oberste Richtlinie ihrer "vertrauensvollen Zusammenarbeit" heißt: Tarifpolitik hat im Osten dafür zu sorgen, daß "Beschäftigen" überhaupt geht. Dem Kapital ist damit der grundsätzliche Freibrief erteilt, alle seine Ansprüche an günstige Geschäftsbedingungen rückhaltlos als Forderungen gegen die Arbeiter geltend zu machen. Der neuen Reservearmee macht die Gewerkschaft das Angebot, sich um ihre Brauchbarkeit zu kümmern - das kostet nichts, bewirkt nichts, aber macht sich gut. Gemeinsam verordnen DGB und Arbeitgeberverband den Leuten eine "leistungsbezogene Entgeltstruktur", mit der "Anreize zur individuellen Umorientierung gegeben werden", und ganz viel "Qualifikation".
An der
"Entgeltstruktur"
haben sich die Gewerkschaften schon zu schaffen gemacht:
"Bezüglich einer Entlohnung nach der tatsächlich auigeübten Tätigkeit gibt es in der DDR einen großen Nachholbedarf... Die Lohn- und Gehaltsstruktur in der DDR sei so einfach gestrickt, wie es einfacher nicht geht. Es gibt acht Lohngruppen, von denen nur die oberen fünf besetzt seien, und 14 Gehaltsgruppen, die ebenfalls erst ab Gruppe vier besetzt seien. In diese Gruppen würden die Arbeitnehmer aller Branchen eingestuft." (Terbrack von der IG Chemie)
Anscheinend hatten die DDR-Planer ihre eigenen Vorstellungen von Lohngerechtigkeit; jedenfalls hingen sie nicht der Ideologie an, daß Löhne sich danach bestimmen müßten, ob sie bei Metall oder Chemie, am Band oder am Bildschirm verdient werden. Wieso deren Lohnhierarchie weniger "gerecht" gewesen sein soll als die blödsinnige Zuordnung von Lohnpfennigen zu tausend "Tätigkeitsmerkmalen", wie sie in der BRD gang und gäbe ist, ist nicht einzusehen. Einen begründbaren Zusammenhang zwischen Geld und Arbeit gibt es in beiden Fällen nicht. Auch das sieht die Gewerkschaft wieder einmal anders: sie will unbedingt die Ideologie wahrmachen, daß sich der Lohn "nach der Tätigkeit" zu richten habe. Eine Behauptung, die sie mit der Einführung ihrer "Tarifstruktur" im Osten ohne die in der BRD gültigen Lohnhöhen übrigens selbst dementiert: Wieso bringt denn dann die gleiche Tätigkeit im Osten bloß halben West-Lohn? Aber es geht eben nicht um Lohn, sondern darum, daß sich der eine ordentlich vom anderen unterscheidet:
"In der DDR verdient ein Bankangestellter mit 1100,- DM rund 25% dessen, was ein bundesdeutscher Bankangestellter monatlich nach Hause trägt. Ein Facharbeitei jedoch geht mit 1300 DM, also rund einem Drittel dessen nach Hause, was der bundesdeutsche Facharbeiter im Monat hat." (HBV-Vorstand Stritter)
Das kann die Gewerkschaft nicht dulden: daß Facharbeiter mehr verdienen als Bankangestellte. Das hält ein Stritter glatt für eine "Mißachtung geistiger Tätigkeit", die im Tarif schleunigst korrigiert gehört. Natürlich nur dort, wo westdeutsche Arbeitsplatzbeschreibungen der Tätigkeit ein solches Gütesiegel erteilen, wie beim Zählen und Auszahlen von Geld. Alle anderen arbeiten selbstverständlich, ohne ihr Hirn zu benutzen, und bekommen deshalb gerechterweise auch weniger Geld. Man kann sich ausmalen, welch weites Feld gewerkschaftlicher Tätigkeit sich hier auftut! Wo in der DDR allein in der Metallindustrie sage und schreibe
"1,5 Mio. Beschäftigte in Lohngruppen eingestuft werden müssen. Anhaltspunkte für die Lösung dieser schwierigen Aufgabe geben die im Westen längst definierten Tätigkeitsmerkmale: Welche Qualifkation kann der Arbeitnehmer vorweisen? Handelt es sich um eine schwere körperliche Arbeit, um einen verantwortungsvollen Posten oder um einen Job, für den der Beschäftigte lediglich angelernt wurde?" (Stuttgarter Zeitung, 3.11.)
So macht das Kapital eben sein Interesse wahr, keinem mehr zu zahlen, als unbedingt sein muß: Es zahlt für "Qualifikation", "körperliche Arbeit", "Verantwortung" Lohnstückchen und eröffnet sich so die Freiheit, alles, was einem Arbeiter am Arbeitsplatz laut Definition an Leistungen nicht abverlangt wird, gegen den Lohn in Anschlag zu bringen. So läßt sich die Lohndifferenzierung als quasi automatisches Mittel der Lohnsenkung gebrauchen, wann immer ein Lohnpfennige "begründendes" "Tätigkeitsmerkmal" durch Rationalisierung wegfällt. Wenn die Gewerkschaft die "schwierige Aufgabe" übernimmt, dafür die Handhabe zu liefern, kann es dem Kapital also nur recht sein. Die Gewerkschaft ihrerseits macht auf diese Weise ihren Wahn wahr, daß Arbeiter deswegen unterschiedlich hoch bezahlt werden müßten, weil sie je nach Arbeitsplatz doch auch unterschiedlich nützlich wären. Deshalb besteht ihr erster Schritt zur "Angleichung der Lebensverhältnisse" in der Erzeugung lauter neuer Einkommensunterschiede. Die sind deswegen gerecht, weil es sie "bei uns" schon gibt. So macht die Gewerkschaft ihre neuen Mitglieder ein zweites Mal dafür haftbar, daß sie früher der Ostplanwirtschaft gedient haben: Sie sortiert ihre aufgrund der alten Lohnhierarchie gezahlten 1:1-Löhne sorgfältig danach durch, ob ihnen die nach den neuen Maßstäben überhaupt zustehen. Wen immer es da als "Gewinner" oder "Verlierer" trifft, der darf sich bei seiner Gewerkschaft bedanken; für sie ist das ohne Belang. Schließlich geht es ja um den Nachweis, daß auch wirklich jeder das verdient, was er verdient.
"Qualifikation"
Für die Tarifpolitik der ÖTV in der DDR muß
"eine tarifpolitische Initiative zur Sicherung von Arbeitsplätzen sowie eine Mischung auf Einkommenssicherung und garantierten Qualifizierungsmaßnahmen höchste Priorität haben." (ÖTV-Chefin Wulf-Mathies)
Das wußten die BRD-Gewerkschaften nämlich auch schon, bevor das Kapital einen einzigen Arbeiter in der DDR entlassen hatte: wenn drüben Hunderttausende auf der Straße liegen, dann liegt das an ihnen; ihnen fehlt etwas zum Beschäftigtwerden. Das Ding heißt "Qualifikation"; und die Gewerkschaft erklärt sich höchstpersönlich dafür zuständig, dafür zu sorgen, daß die DDRler damit möglichst umfassend versorgt werden. Die IG Metall hat gleich in den ersten Tarifverhandlungen Regelungen ausgehandelt, nach denen für überflüssig erklärte Arbeiter nicht einfach von ihren Betrieben rausgeschmissen werden, sondern ihnen eine Schonfrist bis zum 30.9.91 gewährt wird. Der Gedanke: Den Betrieben sollte in der Zwischenzeit Gelegenheit gegeben werden herauszukriegen, ob sie den einen oder anderen nicht doch noch benutzen könnten; wenn nicht, fliegt er dann eben zur nächsten Jahresmitte. Vor allem aber sollten in der Zwischenzeit "Umschulungen" laufen, um die überzähligen Belegschaftsmitglieder auf ihr neues Dasein als Dienstleister am Kapitaleigentum vorzubereiten.
Auch hier macht sich die Gewerkschaft daran, eine Ideologie des Kapitalismus praktisch wahrzumachen: die nämlich, es läge an dem, was einer kann, ob er einen Arbeitsplatz findet und was er dort verdient. Praktisch widerlegt sich diese Ideologie durch jedes Kapital, das sich drüben anlegt und die Leute benutzt, und durch jeden entlassenen, also angeblich unqualifizierten Ostler, der als "qualifizierter Facharbeiter" im Westen einen Arbeitsplatz findet. Die DDR-Betriebe haben ja auch nicht deswegen große Teile ihrer alten Belegschaften an die Luft gesetzt, weil die nichts können, sondern schlicht deren Unbrauchbarkeit für den Gewinn festgestellt. In der BRD nicht anders: So sehr ein BRD-Facharbeiter seinen Facharbeiterbrief brauchen mag, um überhaupt einen Arbeitsplatz zu bekommen, so wenig kann er sich auf ihn als Anspruch auf Arbeitsplatz und Lohn berufen, wenn der Betrieb gerade beschlossen hat, daß der wegrationalisiert wird. Dann ist dessen ganze schöne "Qualifikation" nichts mehr wert. Die besteht eben in gar nichts anderem als in den verschiedenen Arten von Nützlichkeit, die das Kapital streng nach seinen Kostenkalkulationen an den Leuten herstellt und benutzt; weswegen eben keine dieser nützlichen Fähigkeiten mehr wert ist als das Interesse, das ein Betrieb aus ganz anderen Gründen gerade an ihr hat oder auch nicht hat. An den ehemaligen DDRlern will die Gewerkschaft den Wahn wahrmachen, es ließen sich ganz getrennt von jedem Kapitalinteresse lauter Fähigkeiten heranbilden, die dann dafür sorgen, daß das Kapital sie in Lohn und Brot setzt. Auf diese Weise macht sie die Ostler ein drittes Mal haftbar dafür, daß sie ehedem dem SED-Regime als Arbeitskraft gedient haben. Über sie fällt das Kollektivurteil: unbrauchbar; und deswegen haben sie es als einzigen Dienst an sich aufzufassen, wenn sie nicht gleich in die Armut abgeschoben werden, sondern mit ihnen noch die Sonderveranstaltung namens Qualifikation abgezogen wird.
In diesem Geschäft betätigt sich die IG Metall als Vorreiter: Sie gründet "Beschäftigungsgesellschaften". An denen zeigt sich, was Zonis davon haben, daß sich um die Beseitigung ihrer angeblichen Unbrauchbarkeit noch extra gekümmert wird:
"Statt entlassen soll qualifiziert werden, heißt die Devise. Die Gesellschafter der von der IG-Metall-West initiierten Qualifizierungsgesellschaft "Energie und Umwelt"-GmbH sind die zuvor im Kombinat Kraftwerksanlagen zusammengefaßten Unternehmen... Rund 1000 Qualifizierungsplätze sollen zur Verfügung stehen... Die Qualifizierungsmaßnahmen sollen jeweils 6 Monate dauern... nach der Maßnahme ist nicht unbedingt an eine Weiterbeschäftigung in den bisherigen Unternehmen gedacht... Mit dem Eintritt in die Gesellschaft verzichtet der Arbeitnehmer auf die im Sozialplan bei Kündigung zugesicherte Abfindung...Das Arbeitsamt wird voraussichtlich 65% des letzten Durchschnittseinkommens tragen. Die Betriebe sollen 20% des letzten Nettoeinkommens dazuzahlen." (HB)
Wie schön! Die Arbeiter bekommen sechs Monate vom Arbeitsamt bezahlter Schonfrist ohne die leiseste Zusage, hinterher Lohn verdienen zu dürfen. Der Betrieb spart sich die Kosten für den Sozialplan und darf sich auch noch etwas darauf zugutehalten, etwas für die Leute getan zu haben; nebenbei bringt er ihnen sogar noch das eine oder andere bei, was er oder ein anderer Betrieb eventuell brauchen könnte. So wird zwar kein einziger Arbeitsplatz geschaffen; aber immerhin ist der Beweis erbracht, daß es doch an den Leuten liegt, wenn sie dann - trotz aller Qualifikation - keinen finden. Sie können das Gegenteil ohnehin nicht beweisen! Die Gewerkschaft kann sich anscheinend gar keine schönere Beschäftigung denken, als eine ordentlich im Sinne ihrer Benutzer funktionierende Arbeiterklasse herzustellen. Sie macht gar keinen Hehl daraus: alles, was sie für die ehemaligen Werktätigen fordert, sind lauter Anforderungen an sie. Sie haben billig, richtig einsortiert, qualifiziert zu sein, also sich zurechtmachen zu lassen für jedes Geschäftsinteresse, das es an ihnen geben könnte. Dabei verspricht die Gewerkschaft im Ernst keinem Arbeiter, daß er mit seiner Billigkeit und Willigkeit Mittel in der Hand hätte, seine Anwendung zu erzwingen. Die liegen allesamt in der Hand der Gegenseite. Und daraus soll nur eines folgen: daß man als "abhängig Beschäftigter" sich umso mehr darum kümmern muß, fürs Kapital ein Angebot darzustellen; auch und gerade, wenn man gar nicht gefragt ist. Zusammengefaßt heißt dieses ganze Gewerkschaftsprogramm
"Angleichung der Lebensverhältnisse"
Im Osten
verordnet die Gewerkschaft nämlich nicht bloß Billiglohn, Tarifstruktur und Qualifikation. Sie verkündet zugleich programmatisch, wie man diese Tarifpolitik für die Ostgebiete zu verstehen hat:
"Zentrales Ziel gewerkschaftlicher Tarifpolitik für die neuen Tarifgebiete muß sein, die Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen an das westdeutsche Niveau anzugleichen." (Quelle 10/90)
Damit hat sich die Gewerkschaft auch für den Osten der Nation ein schönes Jahrhundertprogramm zurechtgemacht:
"Spiegel: 'Wie lange wird es dauern, bis ein Metallarbeiter in Leipzig etwa soviel verdient wie sein Kollege in Stuttgart?'
Steinkühler: 'Ich möchte mich da nicht festlegen. So wie es heute aussieht, könnte das 1995 der Fall sein.'" (Spiegel 15/90)
Das ist kämpferischer Realismus: Gut Ding will Weile haben. Worin die Angleichung bestehen soll, daran wird gar kein Zweifel gelassen. Der Maßstab ist die famose BRD mit ihrer ebenso famosen Arbeitswelt. Alle Unterschiede und Gegensätze, der Reichtum und die Armut, die es da gibt, gelten als unumstößlich notwendig und als positive Lebensperspektive, die man sich als Ostler herbeisehnen und auf die man als Westler stolz sein darf. "Drüben" soll so wie "hier" werden - da ist ja wohl klar, daß die Lebensverhältnisse in der BRD so ungefähr das Schönste sind, was es je geben kann. An die sollen sie drüben sich. erst einmal angleichen! Die Logik gilt natürlich auch umgekehrt: Wie kann einer es im Westen besser haben wollen, als er es schon hat, wo die drüben doch noch nicht einmal das haben, was "wir" haben? Undsoweiter.
Eben deshalb ist die Angleichung ein einziges Problem - für diejenigen, die die Unterschiede eingerichtet haben:
"Die Gewerkschaft steht vor der schwierigen Aufgabe, den berechtigten Interessen der Beschäftigten nach einer Hebung ihres Lebensstandards Rechnung zu tragen, ohne dabei das Maß für das Machbare zu verlieren... Seiner Ansicht nach wäre es unverantwortlich, einen Einkommensunterschied zu konservieren, der qualifizierte Arbeitnehmer zum Abwandem in den Westen zwingen würde." (NGG-Chef Niebrügge, HB, 20.9.)
Alles klar? Das Interesse an "Hebung des Lebensstandards" ist erstens berechtigt, zweitens unerfüllbar, drittens ein Gegenstand der Sorge. Und warum? Weil doch glatt Leute im Osten auf die Idee kommen, sich der Funktion als östliches Arbeitskräftereservoir zu entziehen, in der sie vorgesehen sind. Was vom kapitalistischen Standpunkt aus sonst als "Mobilität" begrüßt wird: daß die Leute gezwungen sind, dahin zu gehen, wo das Kapital sie benutzen will, das soll im Falle des Ostens plötzlich ein ganz unerwünschtes, unnationales Verhalten sein. Dagegen muß kräftig agitiert werden:
"Wir appellieren an die Menschen in der DDR, dort zu bleiben und damit die Voraussetzungen für eine Gesundung und Stabilisierung von Wirtschaft und Gesellschaft zu verbessern." (Gemeinsame Erklärung)
Das gehört sich doch für einen gerade aus sozialistischer Gängelung befreiten Staatsbürger: daß er nicht an seine materielle Lage denkt, wenn der Ostlohn fürs Blechen der neuen marktwirtschaftlichen Preise nicht reicht, sondern an die hohe Aufgabe, ein "Stabilisierungsfaktor" für den nationalen Aufbau zu sein. Also wird er zum Ausharren in der Armut aufgefordert: Vielleicht kommen die gnädigen Arbeitsplatzspender ja doch einmal! So bescheinigt die Gewerkschaft den Leuten noch einmal höchstoffiziell ihre Machtlosigkeit, sich selbst um eine Verbesserung ihrer Lebenslage zu kümmern. Brav sein, sich qualifizieren und hoffen, das ist eben schon die ganze Freiheit, die sie meinen.
Die Arbeitskräfte aus der Ostzone, die das Kapital im Westen haben will, die holt es sich schon. Geschäftstüchtige Unternehmer sind längst auf die Idee gekommen, das Billiglohnangebot in ihrem Sinne zu nutzen. Sie importieren schlicht die Ost-Arbeiter, lassen sie also als genau die Billiglohnreserve fungieren, als die sie vorgesehen sind. Das findet der DGB einen Skandal: der Einsatz von Ostarbeitern im Westen gilt ihm als "Mißbrauch", der den "wirtschaftlichen Aufbau der ehemaligen DDR schädigt". Andererseits will sich der DGB auch hier nicht so ganz dem Gesichtspunkt verschließen, unter dem der Einigungsvertrag den Einsatz ostdeutscher Arbeiter in Westdeutschland zu ostdeutschen Lohntarifen gestattet - auch wenn er weiß, daß diese Regelung eine einzige Einladung ist, sie auszunützen:
"Die deutschen Gewerkschaften sind keineswegs dagegen, daß ostdeutsche Arbeitskräfte in Westdeutschland Arbeitserfahrungen sammeln, doch nicht zu Dumpingpreisen, sondern zu den hiesigen Sozial- und Tarifbestimmungen. Wenn wir die Mobilität auf dem deutschen Arbeitsmarkt wollen, dann müssen wir die finanziellen Anreize für Betriebe reduzieren, ostdeutsche Arbeitskräfte nur als billige Lohndrücker einzusetzen und hier lebende Arbeitskräfte vom Arbeitsmarkt zu verdrängen." (Aus dem Brief der stellvertretenden DGB-Vorsitzenden an Blüm, HB, 3.10.)
Angesichts bundesrepublikanischen "Lohndumpings" kommt der DGB nicht auf die Idee, daß es dann vielleicht ein Fehler war, ein solches Gefälle überhaupt erst einzurichten. Zum gewerkschaftlichen Sonderangebot ans Kapital steht er voll und ganz; eine "Reduzierung" dieses "finanziellen Anreizes" durch Lohnerhöhungen im Osten kommt nicht in die Tüte. Statt dessen schreit er nach staatlicher Unterstützung gegen "Lohndumping" und muß sich sagen lassen, daß die Verwendung ostdeutscher Arbeiter im Westen von staatswegen zulässig, weil legal ist. Ja, dann!
Im Westen
muß natürlich auch etwas für besagte Angleichung getan werden. Noch bevor ihre Tarifpartner es von ihr verlangen, behandelt die Gewerkschaft den von ihr selbst im Osten installierten Niedriglohn als einen einzigen Sachzwang, der ganz automatisch auf ihre eigene Tarifpolitik im Westen Wirkung hat. Eine "beschleunigte Einkommensangleichung in der ehemaligen DDR" dadurch herbeiführen, daß sie im Osten einfach den gleichen Lohn wie im Westen fordert, hat sie sich ja verboten. Aber die Rechnung läßt sich ja auch umkehren denkt die Gewerkschaft:
"Dem Start in die Einheit muß die Stunde der aktiven Tarifpolitik folgen. Dies heißt nicht nur Preis- und Produktivitätsausgleich, sondern schließt eine Umverteilungskomponente zugunsten der Arbeitnehmer ein. Von dieser soll der kleinere Teil für Einkommensverbesserungen in Westdeutschland reklamiert, der größere Teil aber für die Einkommensangleichung in Ostdeutschland reserviert werden." (Steinkühler)
Die Gewerkschaft entdeckt in ihrer Zuständigkeit für die Arbeiter West und Ost ein Mittel zur Lohnumverteilung. Für sich ein absurder Gedanke: Als wäre der Gesamt-Metallohn so etwas wie ein nationaler Topf, in den die Unternehmer Ost wie West einzahlen, so daß die Gewerkschaft mit ihnen aushandeln könnte, daß das, was sie einem Unternehmen in NRW relativ weniger an Lohn abverlangt, ein Betrieb in Schwedt/Oder mehr zahlen könnte! Die Gewerkschaft tut glatt so, als mache es der "nun einmal" gültige Ostlohn den Unternehmen drüben vollends unmöglich, mehr zu zahlen; weshalb die Westmetaller einen "Solidarbeitrag" leisten müßten, wenn drüben in Sachen Lohn überhaupt etwas laufen soll. So maßvoll die Gewerkschaft das "ökonomisch Machbare" im Sinn hat, wenn sie vom Kapital Lohn fordert, so lässig hält sie die West-Arbeiter für fähig, auf Lohnerhöhungen zu verzichten um ihre Kollegen auf der anderen Seite der Elbe zu alimentieren. Der Sache nach kommt also nichts anderes heraus als eine neue Begründung für einen gewerkschaftlich ausgehandelten Lohnverzicht. Und wenn die Unternehmer sich auf die gewerkschaftliche Lohntopfidee nicht einlassen mögen, dann ist auch nichts umsonst gewesen:
"Dieses Angebot der West-Metaller ist gleichzeitig die moralische Grundlage dafür, einen realen Solidarbeitrag der westdeutschen Arbeitgeber anmahnen zu können." (HB, 5.11.)
Von der Moral der Westler können die im Osten dann ja einkaufen gehen.
Letzte Meldung in dieser Frage: die ehemalige "Tarifexpertin" des DGB und jetzige Staatssekretärin im Brandenburger Arbeitsministerium hat folgende bahnbrechende Idee ins Spiel gebracht: Die IG Metall installiert einen "Beteiligungsfonds", zahlt einen Teil der im Westen ausgehandelten Lohn- und Gehaltserhöhungen in diesen Fonds ein, zeichnet auf der Grundlage eine Anleihe und gibt "Zuschüsse und günstige Darlehen an Unternehmen und Einrichtungen in den östlichen Bundesländern" (nach HB, 28.11.). Vermutlich hat die gute Frau sich gedacht, wenn schon die Regierung die Steuern nicht erhöht, beschließt die Gewerkschaft eine Ergänzungsabgabe für Schlechterverdienende.
Wie hieß es vor der Einigung doch noch so schön:
"Die IG Metall wird ihre Zustimmung niemals dafür geben, daß die kleinen Leute Kohls Pläne für die deutsche Einheit finanzieren."
Die Gewerkschaft schafft sich ihre Basis
Angesichts des Anschlusses sieht sich die Gewerkschaft genötigt, ihre Notwendigkeit nochmal extra zu betonen:
"Die IG Metall hat in der Bundesrepublik in mehr als vierzig Jahren bewiesen, daß sie eine starke Interessenvertretung ist. Eben das Stärkste, was die Schwachen haben. Die Menschen in der DDR haben den Anspruch auf eine ebenso starke Interessenvertretung, in der ihre Sorgen und Nöte, ihre Hoffnungen und Wünsche gut aufgehoben sind."
Von dieser "mächtigsten Gewerkschaft der Welt" darf man allerdings nicht erwarten, daß sie aus den "Schwachen" jemals "Starke" machen könnte:
"Die meisten trauen uns mehr zu, als wir leisten können. Sie haben einfach noch nicht die Erfahrung gemacht, daß Gewerkschaften nur beschränkte Möglichkeiten haben. Wir müssen also Aufklärungsarbeit und Hoffnungserfüllung gleichzeitig betreiben. Das kann dazu führen, daß ein Teil der Arbeitnehmer erst einmal von uns enttäuscht sein wird... Wir werden den DDR-Kollegen ganz realistisch die Grenzen gewerkschaftlicher Arbeit klarmachen. Denn Enttäuschung ist etwas Schlimmes. Enttäuschung demobilisiert, und in der DDR brauchen wir eine mobilisierungsbereite Arbeitnehmerschaft, um den Arbeitgebern das abzutrotzen, was wir für gerechtfertigt halten. Geschenkt kriegen wir auch da drüben nichts." (Steinkühler im "Spiegel")
Einerseits ist diese gewerkschaftliche Selbstdarstellung eine einzige Lüge. Es ist ja gar nicht so, daß die Gewerkschaft ausprobiert hätte, was sich gegen das Kapital durchsetzen läßt, und dabei die Erfahrung gemacht hätte, daß sie am kürzeren Hebel sitzt. Andererseits soll es ja auch gar nicht gegen sie sprechen, daß sie angeblich gegen das Kapital wenig ausrichten kann. Im Gegenteil: den neuen Gewerkschaftsmitgliedern verlangt Steinkühler die Leistung ab, aus einer etwaigen Enttäuschung über den ausbleibenden Nutzen gewerkschaftlicher Tätigkeit gerade nicht den Schluß zu ziehen, daß diese Organisation dann wohl nichts taugt, wenn es um Verbesserung der Lebensumstände geht. Man soll sich enttäuschen lassen, und trotzdem umso unbeirrbarer zu ihr stehen! Und warum? Weil es das nächste Mal vielleicht besser klappt: Keineswegs. Sondern weil die Gewerkschaft die Leute braucht: als mobilisierbare "Basis", die immer dann, dort und genau so lange "kämpferisch" auftritt, wie sie es für ihre Forderungen "gerechtfertigt" findet. Unenttäuschbar - "Ist ja klar, daß das nichts bringt! " - und stets mobilisierbar "Aber antreten muß man schon, alles andere wäre unsolidarisch!" -: so sieht eben das gewerkschaftliche Ideal einer aktiven Karteileiche aus, die der Gewerkschaft nicht ins Handwerk pfuscht, wenn sie festlegt, was Arbeitern zusteht, und immer antritt, wenn es die Gewerkschaft zur Unterstreichung der Berechtigtheit ihrer Forderungen für zweckmäßig erachtet. Die Gewerkschaft traut ihren neuen Kollegen zu, daß sie noch nicht dazu fähig sind, echte Karteileichen zu spielen:
"Die Leute in der DDR haben auch gar keine Ahnung, was Streik ist. Sie wissen nicht, daß Streik Opfer bedeutet. Bevor ich die in den Streik treibe und vielleicht in eine Niederlage, werde ich mich sehr zurückhalten."
Die Vorsicht, für die Steinkühler hier plädiert, verdankt sich gar keiner ernsthaften Abwägung von Chancen und Risiken der Durchsetzung in einem Arbeitskampf. "Streik" ist für ihn und seine Kollegen gleich ganz etwas anderes: Da zitiert die Gewerkschaft ihre Basis, um ihr Recht auf Gehör zu unterstreichen. Den Verzicht auf ein paar Stundenlöhne bei einem Warnstreik mutet die Gewerkschaft ihren Mitgliedern zu, um vor geschäftsschädigenden Arbeitskämpfen zu warnen, also um ihren Tarifpartner etwas öffentlichkeitswirksamer an das gemeinsame Interesse am Fortgang des Geschäftslebens zu erinnern. Klar, daß solche Streiks nur die Arbeiter Opfer kosten!
Insoweit ist also schon klar, was die Gewerkschaft von ihren Mitgliedern erwartet und hat. Die naheliegende Frage, was umgekehrt die Mitglieder von ihrer Gewerkschaft haben, bleibt aber auch nicht unbeantwortet: eben das.
"Immer mehr Arbeitnehmer fragen uns, warum wir ihnen nicht stärker helfen... Die Angst vor Arbeitsplatz- und Einkommensverlust nimmt zu und damit auch die Gefahr enttäuschter Hoffnungen. Es ist nicht auszuschließen, daß in dieser Situation die Menschen nicht nur den DDR-Gewerkschaften den Rücken kehren, sondern den Gewerkschaften insgesamt. Deshalb war es notwendig, ein Zeichen zu setzen und schnell zu handeln. Der Vorstand der IG Metall der BRD hat mit der IG Metall eine Vereinbarung getroffen, die den Beitritt ihrer Mitglieder in die IG Metall der BRD vorsieht." (Steinkühler in metall 11/90)
Das ist schlagend: Wenn die Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern schon nichts anderes zu erwarten haben als Opfer, dann dürfen auf alle Fälle die Gewerkschaften nicht darunter leiden. Sie bietet den Leuten an, daß sie an ihr nicht irre zu werden brauchen, sondern den besten Rattenfänger haben, der in der demokratischen Konkurrenz zu haben ist:
"Wenn es in der DDR arbeitslose Metallarbeiter geben wird, dann ist es mir schon lieber, sie bleiben in der IG Metall. Denn ich denke, wenn Arbeitslose in der IGM organisiert sind, dann ist es besser, als wenn sie irgendwelchen rechten oder linken Rattenfängern ausgeliefert sind." (Steinkühler)
Besser für wen: Für die Leute: Für die IG Metall: Oder gleich bloß für Deutschland: Vom Standpunkt der Gewerkschaft aus für alle drei: Es geht nämlich gar nicht darum, die Arbeiter davon zu überzeugen, daß ihre Interessen bei der Gewerkschaft gut aufgehoben sind. Es geht um die Herstellung einer "Basis", die die Gewerkschaft braucht, um in ihrem Namen für Deutschland Politik zu machen:
"Die Zielsetzung zukünftiger gewerkschaftspolitischer Aktivitäten des DGB und seiner Gewerkschaften im Zusammenhang mit dem deutsch-deutschen Einigungsprozeß ist klar: Die Schaffung einer einheitlichen Gewerkschaftsbewegung durch Beitritt der Mitglieder der DDR-Gewerkschaften in die Gewerkschaften des DGB unter dem Dach des DGB, bei gleichzeitiger Auflösung der DDR-Gewerkschaften. Es ist deshalb notwendig, möglichst rasch für funktionsfähige gewerkschaftliche Infrastrukturen zu sorgen, damit die anstehenden Probleme, die sich aus der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion ergeben, angemessen angegangen werden können, d.h. Gewerkschaften müssen insbesondere beim Rechtsschutz, beim Aufbau der Sozialversicherung und Arbeitsverwaltung mitarbeiten." (Aus: Pressemeldung Nr. 13, DGB-Information der Pressestelle des DGB Bayern)
Staatsfunktionen erfüllt der DGB im Osten schon; also hat er auch ein Recht auf einen organisatorischen "Unterbau". Und den nimmt er sich vom alten FDGB. Er findet es höchst nützlich, daß der FDGB als Staatsgewerkschaft die Betriebsbelegschaften bei sich zwangsorganisiert hatte. Die übernimmt die freie demokratische Gewerkschaft. Und weil sie es macht, gibt es nicht die geringste Kontinuität zum bösen alten FDGB. Das mußte schnell gehen:
"Mit dem Zusammenbruch des SED-Staates und der SED-abhängigen Gewerkschaftsstrukturen ist ein erhebliches Vakuum entstanden, das die Gefahr in sich birgt, den notwendigen demokratischen Neuaufbau gewerkschaftlicher Strukturen im Keim zu ersticken. Unter dem Gesichtspunkt der sich vollziehenden Vereinigung von Bundesrepublik Deutschland und DDR können es sich die Gewerkschaften nicht erlauben, abseits zu stehen und den Vereinigungsprozeß andere gestalten zu lassen." (Walter Hiller, VW-Gesamtbetriebsrat und IG-Metaller)
Ein Staatsgewerkschafter (West) sieht glatt die Gefahr, daß dort, wo keine Staatsgewerkschaft (Ost) mehr die Leute im Griff hat, gleich ein großes Loch entsteht. Dieses "Vakuum" hat der DGB schnellstmöglich zu füllen, und zwar möglichst ohne "Reibungsverluste". Am besten stellt man sie gleich vor vollendete Tatsachen. Das schafft das richtige Gewerkschaftsbewußtsein. Das geht nämlich so:
"Der Eiserne Vorhang ist nun weg, die DDR existiert nicht mehr, und Deutschland ist wieder vereint. Ei besteht nun kein Anlaß mehr für zwei Metallgewerkschaften in diesem Land." (Steinkühler auf dem Übergabekongreß)
Alles weitere fällt in den Bereich der bürokratischen Abwicklung bei der Übernahme von Karteien und Karteileichen. Also in den Bereich der lebhaften Konkurrenz der Einzelgewerkschaften und ihres gemeinsamen Verfolgungswahns gegen alles, was nach einem Überbleibsel des alten Systems aussieht. Das gilt nicht fürs alte FDGB-Vermögen, umso mehr für sein Personal, das auch ohne förmlichen Unvereinbarkeitsbeschluß die Zahl der ostzonalen Arbeitslosen vergrößern darf:
"Die IG Metall wird nicht einsteigen in die Nachfolge der Arbeitsverträge für hauptamtlich Beschäftigte, aber es gibt keine Berufsverbote, weder für Hauptamtliche der DDR-IG-Metall noch für ehemalige SED- oder heutige PDS-Mitglieder. Es gibt nur eine Ausnahme: Wir wollen bei uns keine Stasi-Mitarbeiter haben." (Steinkühler)
Schlechte Aussichten für die Gewerkschaft der Polizei!