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Dieser Artikel ist in der MSZ 6-1990 erschienen.

Systematik

Der unaufhaltsame Aufstieg der Sowjetunion
VON DER BEDROHLICHEN WELTMACHT ZUM ALMOSENEMPFÄNGER

Eine Lehre aus der Hungerhilfe des Winters 1990/91

Im Machtbereich des Kreml wurde schon früher Not gelitten. Von Lenin bis Leonid gab es reichlich Informationen über wirkliche wie erfundene Armut. Die entsprechenden Berichte waren gut für einen Beweis: Unmenschliche Lebensbedingungen in einem unmenschlichen System! Vom bekanntgemachten Leid war umweglos auf die unversöhnliche Feindschaft zu "schließen", zu der es uns berechtigt. Die Opfer waren eine Auskunft über die Täter, sonst nichts. Und der Täter mußte sich die freie Nation, der wir dankbar zugehören, mit allen Mitteln des kalten und heißen Kriegs annehmen, wo immer sie sich in der Welt zu schaffen machten.

In der Sowjetunion darben auch 1990 Menschen, sogar in einem Maß, das alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt. Die entsprechenden Berichte sind ein Anlaß für soziale Taten. ZDF und 'Stern', Rundfunksender und Fußballclubs - alle Instanzen schwarz-rotgoldner Meinungsbildung setzen sich an die Spitze einer nationalen Hilfsaktion. Kein Ton von einer Schuldzuweisung an die sowjetische Führung, die ihrem Volk das alles eingebrockt hat. Vielmehr die Entschuldigung des großen Reformators mit dem Argument 'Erblast'und eine Erklärung des Bundeskanzlers. Ihr zufolge stiften wir nicht nur Lebensmittel zum Überleben der Menschen, sondern wir helfen Gorbatschow. Die Aktion erläutert er als Dank für die Hilfe, die der Nobelpreisträger uns in der deutschen Sache gewährt hat. Wir revanchieren uns gewissermaßen bei der sowjetischen Regierung, die der Not nicht mehr steuern kann und darüber selbst ein Überlebensproblem bekommt.

Die Politik einer freiheitlichen Nation geht seltsame Wege. Dabei schreckt sie auch vor einem satten Dementi ihrer antikommmunistischen Lügen nicht zurück, die über Jahrzehnte lang das Feindbild begründen sollten. Wegen "der Menschen", die unter dem Joch der Sowjetmacht so gelitten haben, hat die deutsche Politik eben überhaupt nicht Stellung gegen Moskau bezogen. Und wenn sie heute "den Menschen" zu Päckchen aus der Berliner Notstandsration verhilft, dann hebt sie den politischen Sinn hervor, den das humanitäre Sammeln ergibt. Ein Machthaber, der es Deutschland recht macht, braucht die Sterbehilfe nicht mehr zu fürchten, mit der wir im Rahmen der NATO seinen Vorgänger bedroht haben. Wir wünschen ihm ein langes politisches Leben, weil sein Kurs nichts zu wünschen übrig läßt auch wenn seine "Wende" sein Volk ruiniert. Und bei der Überbringung der Päckchen wälzen wir hemmungslos das Problem, das unser Mann im Kreml daheim hat. Seine Mittel zur Kontrolle des von ihm heruntergewirtschafteten Ladens sind so beschränkt, daß er nicht einmal mit seinem "Apparat" eine solch läppische Care-Aktion verläßlich organisieren könnte. Deswegen erledigt das die Bundeswehr. Fragt sich nur, ob das dem gar nicht effektiven System der maroden Perestrojka zu mehr Stabilität verhilft.

Von den Vorteilen und Nachteilen der Perestrojka

Die Vorteile des vor fünf Jahren eingeleiteten großen Umbaus sind vor allem außerhalb der Sowjetunion bekannt. Im westlichen Ausland feiern die Regierungen und ihre nationalistischen Anhänger den Erfolg ihrer Politik schlechthin. Auf das Jahr 1990 datieren sie das "Ende des kalten Krieges", den Aufbruch zu einem "ungeteilten Europa" und die "Wiedervereinigung Deutschlands". Bei Gorbatschow bedanken sie sich artig, weil er die "gewaltigen Veränderungen" ermöglicht hat. Es gibt keinen Ostblock mehr, dessen Beschränkung und Auflösung sie mit allen Mitteln betreiben müssen, weil sie ihn für ein schreiendes Unrecht, also für eine untragbare Beschränkung ihrer weltweiten Rechte halten. Die Nationen des ehemaligen Ostblocks sind unterwegs zu Marktwirtschaft und Demokratie, d.h. sie führen die Staatsraison ein, die als die unsere die erfolgreiche des 20. Jahrhunderts darstellt. Denn sie hat die vorbildlichen Nationen des Westens, die sich auf Wirtschaftsgipfeln und NATO-Konferenzen regelmäßig der Weltlage annehmen, mit Geld und Macht ausgestattet; von ihren Interessen ist das Regieren, aber auch das Essen und Trinken noch im letzten Erdenwinkel abhängig, und ihre Rechte reichen weit über ihre Grenzen hinaus. Nun auch in den Osten Europas hinein.

Die Nachteile der Perestrojka sammeln sich merkwürdigerweise im Osten, bei ihren Erfindern an. Seitdem Schluß gemacht wurde mit der "Konfrontation" mit dem freien Westen - die Verantwortung für die alte Feindschaft haben die Sowjetreformer nach einigen Vorstößen auf dem Felde der Rüstungsdiplomatie schließlich ganz ihrer "Haltung" und der ihrer Vorgänger zugeschrieben - stehen die freundschaftlichen Beziehungen zum Westen im Zeichen der Hilfe. Die braucht einerseits das Volk, weil es nichts mehr zu beißen hat. Es ist in der vorweihnachtlichen Mitleidsskala der Deutschen, die immer wieder die Opfer, welche das Geschäft mit deutschem Geld und deutschen Waffen auswärts schafft, um ein eigenes ergänzen, weit nach oben gerückt. An die Stelle, die während der letzten großen Hungeroper noch von Skeletten aus afrikanischen "Entwicklungsländern" besetzt war. Dieser kleine Nachteil der Perestrojka gereicht ihr nicht gerade zur Ehre; und es versetzt des öfteren deutsche Städtepartnerschaft-Touristen in Erstaunen, wenn sich bei echten Russen, die den Nachteil auszubaden haben, nicht dieselbe gute Meinung über "Gorbi" aufspüren läßt wie bei uns guten Deutschen. Wir sind ja aus guten Gründen begeistert von dem Mann, der mit seiner zweiten russischen Revolution eine massenhafte Verelendung hervorruft.

Die Nachteile der Perestrojka beschränken sich allerdings nicht auf das Volk, in dessen Namen sie vollzogen wird. Auch der abgebrühte politische Verstand, dem es um so Dinge wie die "politische Stabilität", den "inneren Frieden" und die "Rettung der Nation" zu tun ist, dürfte bei der Erstellung seiner Bilanz nicht ganz auf seine Kosten kommen. Auch die Regierenden sind n Not, denn als ein Verfahren zur Sanierung des sowjetischen Staates, seiner Geld- und Machtmittel, hat sich die Jahrhundertreform nicht bewährt. Gorbatschow hat es in fünf Jahren geschafft, die Weltmacht Sowjetunion dahin zu bringen, wovor es den Parteigängern gelungener Herrschaft am meisten graut - zur Unregierbarkeit.

Die Verelendung

Die Not wächst täglich. Die Antworten auf die Frage, woher sie kommt, halten sie für unausweichlich und gehen davon aus, daß sie in nächster Zeit nicht nachläßt. Einen Grund enthalten sämtliche Befunde - die Erblast: Das alte System macht sich bemerkbar, weil es in allen Belangen ungeeignet ist für die Marktwirtschaft, zu der gerade "übergegangen" wird, daß es kracht! Die Betriebe, die vorhandene Technik, die Menschen mit ihrer Mentalität - sämtliche Produktionsfaktoren eben taugen nichts für die neue Wirtschaftsweise, so daß man fragen möchte, welcher Idiot ausgerechnet darauf verfallen ist, ein System einzuführen, das keine einzige ihm gemäße Bedingung vorfindet. So darf man aber weder im Osten noch im Westen fragen, weil die Schuldzuweisung an die alten Verhältnisse nur die Fortsetzung der Kritik an ihnen ist, die nie stattgefunden hat. Mehr als "mangelhaft" und "nicht so effektiv wie die Marktwirtschaft", weil "Kommando", "viel Staat" statt "freier Markt" ist nämlich nie herausgekommen, als sich Gorbatschow und seine Fachleute über ihren realen Sozialismus hermachten. Das Ideal der Marktwirtschaft, die ihnen wegen ihrer im Westen zu bestaunenden Effekte auf den nationalen Reichtum so erstrebenswert vorkommt, war der einzige Maßstab, mit dem sie ihrem alten Laden seine Überholtheit bescheinigten. Diesem Ideal hat er nicht entsprochen - das und sonst nichts wurde ermittelt, wobei die Leistungen und Fehlleistungen des "maroden" Systems gar nicht weiter gewürdigt zu werden brauchten. Insofern ist es jetzt auch ziemlich bescheuert, der überkommenen Produktionsweise und ihren "Strukturen", zu denen auch der versaute Volkscharakter gezählt wird, immerzu das eine vorzurechnen: daß sie den Erfordernissen einer florierenden Marktwirtschaft nicht entsprechen. Von letzterer haben die Erneuerer soviel mitbekommen, daß das Eigentum und dessen Mehrung das Motiv abgeben für die "Menschen", sich anzustrengen, zu arbeiten, zu kaufen, zu sparen und vor allen Dingen ganz viel zu unternehmen. In Erfahrung gebracht wurde zudem, daß die Erträge in Geld gemessen und eingefahren werden, und zwar durch Preise, die beim Kaufen gezahlt und beim Verkaufen erlöst werden. Ausgestattet mit diesem soliden Grundwissen über die Welt von Arbeit und Kapital ist es ihnen gelungen, in kürzester Zeit ihr Land in eine wirtschaftliche Katastrophe und ihr Volk in die bitterste Armut zu stürzen.

- Mit der Genehmigung des Eigentums, die der auf eine Revolution versessene Staat den Wirtschaftssubjekten seiner Gesellschaft erteilte, hat er keineswegs einer Klasse jener tüchtigen und sympathischen Geschäftsleute zur Existenz verholfen, die im Kapitalismus als "die Wirtschaft" geschätzt werden, Geschäftsartikel produzieren und sie überall feilbieten.

- Mit der Genehmigung freier Preise hat die sowjetische Führung keineswegs eine fröhliche Konkurrenz von Warenproduzenten ins Leben gerufen, so daß ein munteres Kaufen und Verkaufen anhebt, das seinen preisbeschilderten Stoff aus den Fabriken der Nation bezieht, die nicht müde werden, den Markt zu beliefern. Es ist ganz anders gekommen, und zwar deswegen, weil weder die vorhandenen Produktionsstätten, noch die Handelsorganisationen, der Groß- wie Einzelhandel, die Kolchosen und die Einkommen der Leute - also gar nichts! auf einen freien Markt berechnet sind und für eine eigentumsorientierte Nutzung eingerichtet. Die Instanzen der realsozialistischen Produktion und Verteilung sind nämlich in bezug auf Menge wie Art ihrer Leistung, in materieller wie in finanzieller Hinsicht auf eine Arbeitsteilung und Versorgung festgelegt; sie hatten untereinander und dem Staat mit seinen Kommissionen gegenüber Rechte und Pflichten, deren Erfüllung und Befolgung das Funktionieren der realsozialistischen "Wirtschaft" recht und schlecht garantierten. Des öfteren schlecht - aber nicht deswegen, weil nur oder zuviel "kommandiert" wurde, sondern weil sich die leitenden Realsozialisten ausgerechnet des Geldes als Recheneinheit bedienten, um zu planen. Darüber kamen sich stets die materielle und finanzielle Erfüllung der Pflichten und Wahrnehmung der Rechte in die Quere, worüber sich die bekannten Versorgungslükken, Lieferschwierigkeiten, Tonnenidiotien und Bilanzprobleme ergaben. In diese recht und schlecht funktionierende gesellschaftliche Arbeitsteilung und ihr Verteilungswesen paßt ein "Verhalten", das darauf zielt, möglichst viel Geld aus dem Markt herauszuziehen und deswegen entsprechend zu produzieren - oder auch nicht - tatsächlich nicht. Das hat aber Betriebsleiter, Transportverantwortliche, Kolchosvorstände und staatliche Beauftragte des Zu- und Verteilwesens von Produktions- wie Konsumtionsmitteln nicht davon abgehalten, den Ruf nach Erneuerung zu befolgen. Sie haben das durch ihre Hände gehende Zeug wie ihr Eigentum behandelt, es den alten Verwendungszwecken entzogen und mit dem Zeug die Parole des Privateigentums beherzigt - "Bereichert euch! " Eine "Marktwirtschaft" ist darüber aber nicht entstanden. Statt Ware für den Markt zu produzieren, wurden aus der sozialistischen Warenzirkulation die Güter herausgenommen; zu dem Zweck, "Kaufkraft" an Land zu ziehen. So wurden Lebensmittel und andere Dinge des täglichen Bedarfs plötzlich Mangelware - in die alten staatlichen Einzelhandelshäuser war nicht mit Gewinn zu verkaufen, weil - im Sinne des Funktionierens der Versorgung - nicht gleich alle Preise der lebensnotwendigen Güter freigegeben wurden. Und schon standen Mangel der härtesten Sorte und Wucher nebeneinander, daß es eine Freude ist. Wenn dann die mit dem "Schwarzmarkt" eröffnete Sphäre des privaten Akkumulierens von Reichtümern, einerseits in Geld, andererseits in guter Ware, die mit dem Verfall des Rubels - für ihn kriegt man wenig bis nichts - immer wichtiger wird, auch Produktionsbetriebe anstachelt, geht das Karussell weiter. Dann richtet sich die Arbeit eben nicht mehr auf das Zeug, was nach der überkommenen Arbeitsteilung anderswo zur Fortführung der Erzeugung gebraucht wird. So wird jeder auf lohnendes Verkaufen und Kaufen umgestiegene Sowjetbürger - ob Fuhrmann und Zwischenhändler von gestern, ob Betriebsleiter oder Lagerhalter - unmittelbar zum Hindernis für die Bedürfnisbefriedigung von hundert anderen. Das deutsche Fernsehen kann dann hintereinander leere Regale und mit Fleisch gefüllte Lagerhäuser zeigen, aufgeregt ausrufen: "Aber es gibt doch Fleisch!" und auf die Bürokratie, die alte, schimpfen. Jeden Produktionsausfall kann man kopfschüttelnd auf die geheimen Fäden der Nomenklatura zurückführen, dem unbeweglichen Apparat anlasten oder eben als Beweis dafür nehmen, daß die Russen noch ganz schön lernen müssen auf ihrem Weg zur Marktwirtschaft. Man kann das Fehlen echter Unternehmertypen beklagen, darüber vergessen, daß es außer an Kapital eben genau an dem Markt gebricht, auf dem sich Gewinne realisieren ließen. Und die Geschäftemacher, die den Ruin jeder Sorte Versorgung durch das Abräumen von Gütern aller Art aus den gewohnten Versorgungslinien bewirken, als "rote Mafia" geißeln. Gorbatschow, Ryschkow usw. reden währenddessen von "Inflation" und "Rückfall in den Naturaltausch"; sie sind inzwischen zu der Erkenntnis gelangt, daß es wichtig (gewesen) wäre", die alten Strukturen zu erhalten, bis die neuen da sind", und erklären viele der neuen Praktiken im Wirtschaftsleben zu "verbrecherischen Handlungsweisen". Unbedingt notwendig, so meinen sie, sei gerade in der Phase des Übergangs, daß "die Bürger die Gesetze respektieren". Das tun die aber nicht, und zu den Praktiken des allgegenwärtigen Geschäftssinns kommen die Diebstähle aus Not.

So wenig das Volk sich um eine Einmischung in den neuen Gebrauch der Macht bzw. um dessen Verhinderung bemüht hat, so eifrig haben andere die Gelegenheit wahrgenommen, die Gorbatschow mit seiner Entschlossenheit, alles neu zu machen, bot. Die Verurteilung der bislang gepflegten Staatskunst, gepaart mit der Ermunterung zur Kritik an Mißständen, mit der alles anfing, wurde prompt verstanden: Die Anmeldung zu kurz gekommener Interessen war berechtigt, von höchster Stelle aus genehmigt - man mußte sie nur als Fall und Beleg für die neue Generallinie u Gehör bringen. Und damit sich als jemand profilieren, dem es erstens ernst war mit der Perestrojka und der zweitens ein zum Schaden der Sowjetunion und auf Kosten ihrer Effizienz vernachlässigtes Recht in den Erneuerungsprozeß einbrachte. Diese Art, sich Gorbatschow anzuschließen und zugleich auf Berücksichtigung der eigenen Sache zu dringen, bestimmte sehr schnell das Diskussionsklima. Eine Hilfe für Gorbatschow war es insofern, als den sicher vorhandenen "Konservativen" in der Partei, die eine Schwächung der Partei, des Staates - vielleicht auch nur ihrer Stellung in der Hierarchie der Macht - fürchteten, per "Glasnost" das Wasser abgegraben war. Wenn sich schon innerhalb der Partei alle um eine öffentliche Stoffsammlung in Sachen "Funktionsschwächen" des Systems samt Schuldzuweisung an die Verantwortlichen verdient machen, blamiert sich das Insistieren auf den "bewährten" Instanzen der Führung und Leitung, und schon gleich das routinierte Lob auf die - von Verfehlungen abgesehen - gute Verfassung der Nation. Die List, die Perestrojka vom ersten Tag an als gefährdet anzusehen, weil "Kreise" und Repräsentanten des Alten das gute Werk bremsen, tut da zusätzlich gute Dienste.

Freilich war die frisch erweckte Konkurrenz um Verbesserungsvorschläge, die "Überwindung der Stagnation" betreffend, nicht nur Hilfe und schon gar nicht auf Unterstützung per Unterordnung unter Gorbatschow berechnet. Eröffnet war damit auch die Konkurrenz m die Macht. Im Namen der Perestrojka wurde Kritik an ihrem Erfinder laut - er hatte angekündigt und versprochen, die Erneuerung durchzuziehen, und noch immer waren die berechtigten Ansprüche nicht erfüllt. Die Frage nach dem Tempo erhitzte die Gemüter und Gorbatschow wurde bezichtigt, selbst ein Bremser zu sein. Ihre Wirkung bezogen die - Argumente, die im Obersten Sowjet hin und her gingen, nicht aus ihrer Qualität. Vielmehr daraus, daß die Perestrojka höchstoffiziell den interessierten Verbesserungsvorschlägen recht gegeben hat und die Anwälte der gerechten, aber verletzten Sache Anhänger sammelten. Die von Gorbatschow selbst verfügte Technik der Wahl wurde von seinen Konkurrenten auf jeder Ebene, wo Macht zu verteilen war, konsequent ausgenützt.

Die leichteste und wuchtigste Form der Ausnützung zugleich fanden die ins Geschäft um die Macht eingestiegenen Politikernaturen im Nationalismus der Sowjetmenschen vor. Dem Führungsanspruch der KPdSU wurde das Recht der Republiken entgegengestellt - von Mitgliedern der Partei, in der sie es zu etwas gebracht hatten, von Ausgetretenen und von Leuten, die sich die Konkurrenz von außerhalb der bisherigen Staatspartei zutrauen konnten. War nicht amtlich versichert worden, daß die KPdSU Staat und Gesellschaft über Generationen hinweg verkehrt geführt hat? War nichts stets - und jetzt mit der Perestrojka erst recht - der Grundsatz gültig, daß die vielen Völker in der Union nur deswegen sind, damit sie ihrer Nationalität entsprechend leben können? War es also nicht längst an der Zeit, das Recht zum Austritt aus der Union wahrzunehmen, das in der Verfassung steht - wo doch die politischen Fehlleistungen der KP auch und vor allem auf Kosten der Republiken gegangen sind? Mit all diesen Fragen sieht sich der Marktwirtschaftler im Kreml konfrontiert; und da diese Antworten schon längst praktisch erteilt worden sind, weiß er wie die sehr im Hintergrund gebliebenen Außenseiter, die lieber wieder die Verhältnisse vor der Perestrojka hätten, was geht und was nicht.

In solchen Lagen pflegen Staaten, die etwas auf sich halten, ihre Gewalt einzusetzen und die Ordnung (wieder)herzustellen, auf die sie Wert legen. Nicht so der übermächtige sowjetische, dissidentenfressende und völkerknechtende Apparat. Ob das am Willen oder an der Fähigkeit der Regierung liegt, oder an beidem, läßt sich den im engeren Sinne "politischen" Umtrieben entnehmen.

Der Machtverfall

Die Ausrufung der Perestrojka, die schließlich in dem Beschluß zum Übergang in die Marktwirtschaft gipfelte, ist ein in der Weltgeschichte einmaliger Fall von Selbstkritik. Eine Staatsmacht bzw. ihre Führung leistet sich da den Luxus, sie hätte alles verkehrt gemacht. Sie korrigiert einen Systemvergleich, den sie über 70 lange Jahre hinweg theoretisch immer zu ihren Gunsten entschieden wissen wollte und der ihr die herzlichste Feindschaft von seiten der kapitalistischen Staaten, einzeln und per Bündnis, eingetragen hat. Und zwar so, daß sie diesen Vergleich ein letztes Mal vornimmt und zu demselben Schluß gelangt wie zuvor ihre Feinde: Das andere System, das nun nicht mehr kapitalistisch oder imperialistisch heißt, sondern statt nach einem Zweck nach einem Verfahren, "zu wirtschaften", Marktwirtschaft genannt wird, ist das bessere! Die herkömmlichen Einwände, die "unsozialen" Seiten des Kapitalismus betreffend, entfallen schlagartig. Zugunsten des Lobs der Effizienz, welche in der anderen Sorte Gesellschaft herrscht, zugunsten des Reichtums, der als Mittel der Nation in die Augen springt.

Diese Selbstkritik, in praktischer Absicht nach innen gegenüber der eigenen Gesellschaft vorgetragen, will die Staatsmacht erhalten, indem sie der ihr unterworfenen Gesellschaft ein neues Programm verpaßt. Der rückblickend falsche Gebrauch der politischen Macht soll durch einen neuen, nützlichen Einsatz der öffentlichen Gewalt ersetzt werden. Auf ihr Geheiß und unter ihrer Kontrolle sollen sich die Bürger neuen Regeln und Mitteln des Wirtschaftens verschreiben. Sich umstellen und ihre Anstrengungen auf die Durchsetzung der neuen Staatsraison richten.

Dieses Programm ist - das läßt sich nicht verleugnen - ziemlich erfolgreich gewesen. Sämtliche Abteilungen des Volkes, von den Parteigliederungen bis zum gewöhnlichen Menschen in der Provinz, haben sich in kürzester Zeit zum Echo der von Gorbatschow ausgegebenen Parolen emiedrigt. "Perestrojka! " - aber immer, bei uns muß sich alles ändern. "Glasnost!" - genau, da gibt es manches, was wir endlich erfahren müssen; wir sind die Lügen leid. "Demokratie" - das wird aber Zeit, unserem Bürgermeister auf die Finger zu klopfen; wenn was nicht klappt, die Verantwortlichen stellen, das ist bitter nötig. "Effizienz" statt "Stagnation"! - endlich sagt's mal einer, was bei uns alles nicht nach Wunsch läuft. Die Übersetzung des Programms in einen Bedarf des Volkes, teils von Gorbatschow selbst vorgenommen, teils nach heftigen Aufforderungen zur Kritik an Mißständen von unten vollzogen, hat hingehauen.

Das Falschspiel, mit dem die Perestrojka als das Angebot an die Bürger verkauft wurde, sie könnten in diesem Umbau ihre Ärgernisse aus der Welt schaffen, war auch nicht beendet, als die ersten üblen Wirkungen auf Produktion und Handel spürbar wurden. Die Wende von der Perestrojka als einer Veranstaltung, die der Sowjetunion "Effizienz" bringt, zum Appell an Land und Leute, effizienter und pflichtbewußter zu arbeiten, damit die Perestrojka nicht scheitert, tat dem Theater keinen Abbruch. Das Wort ist zum Berufungstitel für alle politischen Vorschläge und Kritiken in der Sowjetunion geworden - und die Leidtragenden der ökonomischen Zersetzung klagen in Leserbriefen darüber, daß "die Perestrojka bei uns noch nicht angekommen" sei.

Insofern bekommt das Sowjetvolk jetzt und künftig die Quittung für einen Fehler, den es schon immer und schon wieder beim Auftreten Gorbatschows begangen hat. Statt sich mit Hilfe besagter Übersetzungskunst vom neuen Führer bestätigt zu sehen und fortan als Manövriermasse der neuen Linie von einer Zwangslage in die nächste zu stolpern, dabei immerzu die neueste Deutung aus dem Kreml zu vernehmen, hätte es auch ein bißchen interessierter reagieren können. Die Selbstkritik, die da so reichlich von der neuen Riege im Kreml verabreicht wurde, wäre schon einer Überprüfung wert gewesen. Allein die Frage: Weiß der Mann eigentlich die Gründe dafür zu benennen, daß unser Leben im ältesten Arbeiter- und Bauernstaat nicht viel taugt, wenn er sich in der Dialektik von "Effizienz und Stagnation" ergeht: Worum geht es ihm beim Lob der Marktwirtschaft? ... wäre ein guter Anfang gewesen. Leider hat sich eine solche Auseinandersetzung mit dem neuen Besen nicht abgespielt - und entsprechend hat er gekehrt. Trost kann über dieser ärgerlichen Tatsache nicht einmal eine andere spenden - die unaufhaltsame Zersetzung auch der Macht, zu deren Erhaltung der Antikommunist an der Spitze der KPdSU angetreten ist. Es gibt nämlich auch beim Zerfall von Staatsgewalten verschiedene Sorten - solche und solche. Der Auflösungsprozeß der Sowjetmacht ist von der schlechten Art.

Wo so gut wie alle Republiken ausgetreten sind,läßt sich kaum die militärische Gewalt zusammenkommandieren, um den Nationalisten mit der Sprache zu kommen, die sie verstehen und auch schon untereinander anwenden. Also geht es um Beschwichtigung und Kompromisse mit den entstandenen Lokalherren. Die gelingen, wenn diese sich was davon versprechen. Im Grunde aber haben sie den Eigentumsgedanken schöpferisch in das Recht ihrer Nationen aufgenommen und lesen die wirtschaftlichen Beziehungen der Vergangenheit nach einem simplen Muster: Ihnen ist das Ihre von Moskau oder von anderen abgenommen worden. Deswegen gehen sie separat von der Union und ganz schnell zur Marktwirtschaft über - und vergessen, was sie von der Union gekriegt haben, genauso wie die Tatsache, daß man zum marktwirtschaftlichen Geldverdienen Abnehmer braucht. Wo es ihnen einfällt und gelegen kommt, schließen sie jetzt schon untereinander "Verträge zwischen souveränen Staaten" ab. Manche mögen ihre Nachbarn aber gerade nicht als Partner ihrer selbständigen Rechnungsführung und Finanzhoheit; deswegen lassen sie über ihre Grenzen nichts hinaus oder herein - und leisten so ihren Beitrag zur Versorgungskatastrophe auf dem Gebiet der Weltmacht von gestern.

Die ist also nicht mehr imstande, mit ihrer Staatsgewalt ihre Arbeiter und Bauern nützlich zu machen, nicht einmal mehr annähernd in dem Maß, das die realsozialistische Ordnung hingekriegt hat. Geben tut es die Zentralmacht noch und solange, wie die mit ihrer Emanzipation beschäftigten Nationalisten um ihr Gewicht in der Union besorgt sind. Von der Abhängigkeit in der alten Arbeitsteilung haben manche noch eine Ahnung, ebenso von der unerläßlichen Verbindung zur "Außenwelt" des Weltmarkts mit seiner Diplomatie. Für die steht Gorbi vorerst noch ein, und für ihre Fortführung wie für die Rahmenbedingungen der allunionsmäßig tobenden Perestrojka kriegt er sogar "Kompetenzen" erteilt, die sich Stalin auch gewünscht hätte und im deutschen Fernsehen mit dem "amerikanischen Präsidialsystem" verglichen werden. Die entsprechenden Mittel wird er jedoch schmerzlich vermissen.

Die äußeren Aspekte des Machtverfalls

Inzwischen häufen sich Absagen von Terminen, Verschiebungen von Verhandlungen, in denen Gorbatschow eine weitere Kapitulationsklausel im marktwirtschaftlichen Ausland signieren müßte. Aber nicht kann, weil es daheim Probleme gibt. Ob er die dann löst, ist zu bezweifeln.

Auch das gibt es nämlich schon, daß er mit dem Ausland wegen der Bewältigung innerer Probleme verhandelt. Die Not, gegen die er im großen sowjetischen Imperium einfach die Mittel nicht findet, hat ihn zur Suche nach einem Nothelfer gebracht. Für diese noble Aufgabe hat sich die BRD angeboten - und ihre Bundeswehr als das effektivste Instrument der Abwicklung dazu. Das hat noch einmal ein paar diplomatische Verwicklungen ergeben, weil man denn doch auf russischer Seite darüber erschrocken ist, daß jetzt deutsche Soldaten auf sowjetischem Hoheitsgebiet herumturnen, um eine innersowjetische Angelegenheit zu regeln. Aber auch das konnte glücklich geklärt werden, weil der Notstand des sowjetischen Staates, den er an der Not seines mit einer Perestrojka beglückten Volkes erkennt, einfach auch die Landung von Transall-Maschinen und echten deutschen Soldaten unumgänglich macht. Fraglich ist nur, ob ein Beitrag dieses Typs zur Stabilität der Perestrojka vorhält. Auch die NATO hat da ihre Zweifel - und deswegen sich als Feuerwehr für Turbulenzen im gesamten ehemaligen Ostblock vorgesehen. Einen Vorgeschmack auf den Eifer, der da am Werk ist, haben die deutschen Hungerhelfer gegeben, die auf die Zuständigkeit der deutschen Wehrmacht so viel Wert zu legen wußten. Angst vor der sowjetischen Atomstreitmacht scheint sowieso niemand mehr zu haben, obwohl auch wieder keiner weiß, wer auf welche Weise dereinst ihren Gebrauchswert wiederentdeckt.

Der Schluß

Dies ist - nicht zum ersten Male - unser Urteil über die Leistungen von Gorbatschow.

Daß die Geschichte in ihrer imperialistischen Weisheit wieder einmal ein ganz anderes Urteil sprechen wird, ist kaum zu vermeiden.