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Dieser Artikel ist in der MSZ 6-1990 erschienen.

Systematik


VON DER ARBEITERKLASSE (Teil 1 und 2)

Ob sich die Arbeiter für eine Klasse halten oder einfach meinen, sie wären klasse, tut überhaupt nichts zur Sache. Darin, dass sie manchmal viel auf sich halten und genauso oft behaupten, die Dummen zu sein, unterscheiden sie sich wirklich von niemandem. Selbst Kapitalisten und Grundeigentümer wollen abwechselnd die Tüchtigsten und die Betroffenen sein. Die Zugehörigkeit zu einer Klasse ist schon deshalb keine Frage der Wertschätzung oder gar des "Selbstbewusstseins", weil die Menschheit dann seit Jahrtausenden in zwei große Klassen gespalten wäre, in die der Anständigen und in die anderen. Ein paar objektive Bestimmungen sind aber auch deswegen ganz brauchbar, weil sonst ein bisschen menschliche Hochachtung wahre Revolutionen vollbringen würde - und dass es so einfach nicht ist, weiß ja wohl jeder. Selbst wenn die Anerkennung vom Staat, von der politischen Gewalt höchstpersönlich ausgeht und vor dem Gesetz wie an den Wahlurnen alle gleich gelten, ist kaum zu übersehen, dass da ansonsten vorhandene Unterschiede und Gegensätze dem Staat ganz recht sind; dass er sie nicht abschaffen, sondern zu gedeihlichem Zusammenwirken anhalten will, seine so unterschiedlichen sozialen Charaktere.

Die ergeben sich eben daraus, was sie zum ökonomischen Lauf der Dinge beisteuern, welche Aufgaben ihnen bei der Produktion des Reichtums zufallen und was von demselben für sie abfällt. Insofern liegen die Dinge im Falle der Arbeiterklasse ziemlich klar: Ihr Beitrag besteht im Arbeiten, und ihr Anteil am Reichtum ist der Lohn, bzw. das, was sie sich von ihm kaufen können. Damit richten sie sich ihr Leben ein.

Dieser Sachverhalt ist Anlass für das dauerhafte Gerücht, Lohnarbeiter gingen arbeiten, weil und damit sie davon leben. Dieses Gerücht übersieht, dass es außer der Lohnarbeit immerhin noch andere, durchaus respektable Wege gibt, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Doch nicht nur das. Der recht universelle Zusammenhang zwischen Arbeit und Leben wird da unversehens zum "guten Grund", zur einleuchtenden Erklärung dafür, dass erwachsene Menschen Tag für Tag zu Tausenden in die Fabrik marschieren, dort ihren Dienst verrichten, der sich in einer immensen Masse von Reichtum niederschlägt - und darüber immerzu so arm bleiben, dass sie das ein Leben lang tun. Aus der Allerweltsweisheit, dass ohne Arbeit kein brauchbares Zeug zustande kommt - auer demjenigen, was der Schöpfer der Natur an in unzubereiteter Form Genießbarem beigemischt hat, wäre ja wirklich nichts vorhanden -, folgt garantiert nicht das Montageband, die Lohngruppe VI oder die "Solidar"gemeinschaft der Pflichtversicherten. Wer die Lohnarbeit für das natürlichste Lebensmittel von der Welt hält, kommt jedenfalls nicht umhin, auch dem Gegenteil beizupflichten. Die umfangreiche Klasse derer, die ihre Dienste verkaufen, hat sich ein denkbar fragwürdiges Lebensmittel ausgesucht, also aufzwingen lassen, das seinen Mann schlecht bis gar nicht ernährt.

a)

Der Grund dafür, dass so viele Leute Lohnarbeiter sind, ist ebenso einfach wie bekannt: Sie haben es nötig. Worauf es ankommt, das Geld, haben sie nicht. Solange alles seinen Preis hat, also alles brauchbare Zeug in festen Händen und der Privateigentümer nur durch Bezahlung dazu zu bewegen ist, die ihm gehörige Ware abzutreten, gilt es, an Geld zu kommen. Das rücken umgekehrt die, die welches haben, aber nur heraus, wenn sie was dafür bekommen. So ist es nur allzu verständlich, dass, wer sonst nichts hat, "eine Arbeit" haben muss. Bedarf nach seinen Diensten besteht bei Geldbesitzern, die ihr Vermögen nicht verbrauchen, sondern erhalten und mehren wollen. Sie erwerben Produktionsmittel und bezahlen Arbeiter, die unter ihrem Kommando ans Werk gehen. Der Erlös aus dem Verkauf der Produkte, die selbstverständlich dem gehören, der alles gekauft hat, bringt dann den Vermögenszuwachs, auf den es ankommt.

Dass so Kapitalismus geht und Wirtschaft überhaupt gehen muss, ist die Auffassung, die sich das Kompliment "Sachverstand" einfängt, sooft sie einer zum Besten gibt. Dass man diese Meinung so oft vernehmen kann, dürfte am Bedürfnis mancher Zeitgenossen liegen, anderen mitzuteilen, dass ein Grund zur Unzufriedenheit nicht besteht. Die Interessen der beiden Seiten, die an Arbeit resp. Geld ihren Gefallen finden und das eine abliefern, weil sie das andere kriegen, passen schließlich zusammen - so dass eine "Sozialpartnerschaft" angesagt ist. Die hat nur einen kleinen Haken: Der Preis der Arbeit ist bei aller schönen wechselseitigen Abhängigkeit der "Partner" für beide Seiten nicht ganz dasselbe. Der Geschäftsmann berechnet den Lohn als Kosten, die sich lohnen müssen, macht also die Höhe der Bezahlung, ja diese überhaupt - wie einige Arbeitslose beweisen - davon abhängig, dass die Leistung des Löhners sich in seiner Bilanz positiv bemerkbar macht. Solange ihm die Marktlage es überhaupt geraten erscheinen lässt, Leute für sich arbeiten zu lassen, ist er auf viel Arbeit für wenig Geld aus - und das kann man vom Lohnarbeiter nun wieder nicht behaupten. Als "Lebensmittel" taugt ihm die Arbeit umso mehr, je knapper sie und je großzügiger der Lohn bemessen ist.

Diesen ökonomischen Gegensatz bemerken freilich auch die Sachverständigen der Marktwirtschaft, aber nur, um sich für sie zu entscheiden. Im Namen der Abhängigkeit der Lohnarbeiter von den "Arbeitgebern" - sie sind ja auf Arbeit angewiesen - nennen sie die Bedingung, die für die soziale Wohltat eines Arbeitsplatzes erfüllt sein muss: Der Preis der Arbeit muss stimmen, d.h. der Kalkulation des Geschäfts entsprechen. Und nicht wegen dieser täglich beredt vorgetragenen Bekenntnisse zum Prinzip des Kapitalismus, das in Tarifrunden noch öfter als sonst abgespult wird, sondern wegen der ökonomischen Macht der Kapitalisten wird die Bedingung auch erfüllt. Der Zwang zum Angebot - der Arbeit, des "Lebensmittels" - führt allemal zur Nachgiebigkeit gegenüber einer Kalkulation, die so frei ist, entweder mit "preiswerten", rentablen Lohnkosten zu rechnen oder mit gar keinen. Wieviel Arbeit und zu welchem Preis nachgefragt wird, ist eben Sache des Bedarfs, der im Unternehmensgewinn sein einziges Maß hat.

Von der Geschichte, die Arbeit für Lohn sei eben das Lebensmittel der meisten Leute, bleibt schon nach den elementarsten Bestimmungen des Verhältnisses, das Lohnarbeiter eingehen, nichts übrig. Ihr Ein- und Auskommen ist mit ihrer Arbeit ja gerade nicht garantiert - umgekehrt ist der Einsatz dieses Mittels immer eine Frage des Geschäfts, das mit ihm geht. Solange sie Arbeit haben, d.h. sie verrichten, sind Lohnabhängige den Bedingungen unterworfen, die ihre "Arbeitgeber" mit Rentabilität definieren. Und das dafür fällige Verhältnis von Leistung und Lohn ist nicht das Produkt ihrer Bedürfnisse, welche auf die Einrichtung der Arbeit und auf eine Höhe des Lohnes zielen, die ihrem "Leben" zugutekommen. Sie müssen sich schon als die abhängige Variable eines Produktionsverhältnisses bewähren, um überhaupt gefragt zu sein. In ihrer Macht steht lediglich die matte Wucht des Angebots, fähig zu sein, den Anforderungen eines lohnenden Arbeitsplatzes nachzukommen. Und wodurch ein Arbeitsplatz lohnend wird, entscheidet sich danach, ob ihre Arbeit ein Geschäftsmittel ist; wovon wieviel gearbeitet wird und wieviel Geld es dafür gibt - das findet ein Lohnabhängiger als handfeste Bedingung dafür vor, dass seine Arbeitskraft überhaupt zum Zuge kommt.

Insofern ist ein ziemlich bekanntes Ergebnis erfolgreich angewandter Arbeitskraft auch kein Zufall. Die Einkommen der "sozial Schwachen", wie sie im Bundestag heißen, haben mit dem Reichtum, der durch ihre Arbeit zustande kommt, herzlich wenig zu schaffen. So laufen die Lohnabhängigen ständig Gefahr, "über ihre Verhältnisse" zu leben, was auch nicht gerade von der Qualität ihrer Einkommensquelle zeugt. Die Kunst des Haushaltens ist in Arbeiterhaushalten schwer gefragt, manchmal wegen der Schulden, manchmal bloß, weil gespart wird - oft wegen beidem. Schulden werden gemacht, weil man sich was leisten will, was man sich nicht leisten kann; und das Sparen findet statt, damit man sich später etwas gönnen kann, worauf man jetzt verzichtet; bisweilen werden da auch vorhersehbare Notlagen in Rechnung gestellt, so dass sich ein wenig der Verdacht aufdrängt, dass die guten Leute wissen, was sie sich mit ihrer Abhängigkeit eingebrockt haben, in der sie es aushalten wollen.

Zugegeben - "sozial" gedacht ist das alles nicht. Dazu bedarf es ja des gleichermaßen erfahrungswidrigen wie begriffslosen Gedankens, dass Lohnabhängige nun einmal außer ihrer Arbeit nichts haben, von dem sie ihr Leben bestreiten können. Deshalb noch einmal, bevor die "Ungerechtigkeiten" und "Auswüchse" angeklagt werden, ihr Grund aber nicht: über ihre Arbeit verfügen und bestimmen Lohnabhängige nicht, und über den Lohn noch weniger - sie laufen als Arbeitskräfte herum und kommen über ganz andere Maßstäbe als die ihres "Lebens" zum Arbeiten. Dass die Existenz dieser Klasse auf nützliche Armut berechnet ist, besagt im Übrigen etwas ganz anderes als die Behauptung, es müsse so sein und bleiben. Das nachzuweisen, kann man getrost den Knappheitstheoretikern überlassen, die mit zwei Gedanken - "maßlose Bedürfnisse" und "Knappheit der Güter" - das eine ausdrücken. Traurig ist nur, dass sich die Gewerkschaften längst der Frage angenommen haben, wieviel Lohn und Arbeitslose die "Wirtschaft" verträgt.

b)

Dass für einen Arbeiter die Ausdehnung der Arbeitszeit und die Minderung des Lohnes von Nachteil sind, bedarf keiner Diskussion - ersteres geht auf Kosten der Freizeit, letzteres bedeutet, dass er sich wenig leisten kann. Im Interesse des "Lebens" liegen umgekehrt allemal Erhöhungen des Verdienstes und die Senkung der Arbeitszeit. Diese einfachen Rechnungen, so folgerichtig sie sich aus dem Lohnsystem ergeben, kommen in ihm erst einmal gar nicht zum Zug. Und zwar deshalb, weil der Bedarf der Unternehmen nach rentabler Arbeit sehr grundsätzlich durchgesetzt worden ist. Mit jedem Arbeitsplatz, an dem einer seinen Lebensunterhalt verdienen kann, ist ein Maßstab der Bezahlung verbunden. Darüber entschieden hat ganz bestimmt nicht der Lebensbedarf der Arbeiter und ihrer Familien, sondern die betriebliche Kalkulation: Sobald sich ein Lohnabhängiger an einem Arbeitsplatz zu schaffen macht, steht auf wundersame Weise fest, was eine Arbeitsstunde "wert" ist, so dass sich der Mensch ausrechnen kann, mit wieviel Stunden in der Fabrik er auf welchen Lohn kommt. Das Ganze nennt sich Zeitlohn und hat mit der Bezahlung von Arbeitszeit nichts zu tun. Verschiedenen Arbeitsplätzen sind unterschiedliche Stundenlöhne zugeordnet, obwohl die Stunde überall 60 Minuten dauert und die Empfänger des niedrigen Entgelts von sich aus sicher nicht vermeldet haben, dass sie weniger Geld für ihr Leben brauchen als ihre Kollegen. Und das Argument, die teurer veranschlagten Arbeitsstunden würden dem Betrieb mehr einbringen, sollte besser unterbleiben - gebraucht werden sie offensichtlich alle; acht "teure" Arbeiter ersetzen keineswegs zwölf "billige" - sie arbeiten ja neben- und miteinander, was die einen tun, können sie ohne die anderen gar nicht. Die Differenzierung der Zeitlöhne zeugt von gar nichts außer von der Macht über den Lohn, die den Arbeitgebern das Recht gibt, zu bestimmen, wieviel an Lohnkosten ihnen ein Arbeitsplatz wert ist. Sie haben mit der technischen Ausgestaltung die Dienste definiert, die ein Arbeitsplatz erfordert, und mit dem Stundenlohn ist auch das Entgelt festgesetzt. Und auch damit hat es nicht sein Bewenden: Die Entscheidung darüber, wie viele Stunden pro Tag oder Woche zu arbeiten sind, ist ebenfalls schon getroffen. So einfach der Tages- oder Monatsverdienst aus dem Stundenlohn zu errechnen geht, praktisch steht es nicht im Belieben des Arbeiters, die Ansammlung von Stundenlöhnen abzubrechen - weil es ihm reicht - oder fortzusetzen - weil er noch ein wenig Geld machen will. Dem "Arbeitgeber" freilich stehen beide Alternativen durchaus offen.

Die Form der Bezahlung nach dem schlichten Muster "Geld pro Zeit" ist alles andere als harmlos, auch wenn unentwegte Anhänger der Gerechtigkeit im Verhältnis zwischen den Klassen davon nichts wissen wollen. Die Berechnung des Einkommens eines Arbeiters nach der absolvierten Arbeitszeit lässt die oben vorgestellten "Lebensinteressen" in Bezug auf die Gestaltung des "Mittels" Arbeit konsequent scheitern. Stets verbindet sie ganz "sachzwangmäßig" den Vorteil in Sachen Arbeitszeit mit dem Nachteil Geldmangel, und die großartige Chance, ein paar Mark mehr verdienen zu können, gibt es nur auf der Grundlage des Opfers an freier Lebenszeit. Wie die Ansetzung von Kurzarbeit oder Überstunden beweist, bleibt dem guten Arbeitsmann die Wahl zwischen dem verschleißträchtigen Lohn und der geldlosen Freizeit auch nicht überlassen. Er kann die ihm aufgemachte Alternative zwischen Zeit und Geld, Muße und Armut bewältigen.

Diese Bewältigung ist ganz seine Sache und macht sein "Leben" aus. Die pfäffische Kritik an der "Konsum-" und " Freizeitgesellschaft" bleibt den meisten Repräsentanten der abhängigen Variablen in der "Marktwirtschaft" deshalb ein bisschen unverständlich, weil sie sich nicht in Ausschweifungen ergehen, sondern in Notwendigkeiten umtreiben. Diese rühren schlicht daher, dass sie als Lohnarbeiter von Berufs wegen für den ökonomischen Erfolg ihrer "Arbeitgeber" geradestehen müssen, bevor sie sich ans "Leben" machen können. Diese Bedingung, die sie nach der Seite des Lohns wie nach der Leistung erfüllen müssen, verhindert konsequent, dass sich im Arbeiterleben Saus und Braus einstellen, stattdessen "Disziplin" angesagt ist.

1. Wenn der Lohn für eine Stunde feststeht, auf sie berechnet wird, dann wird er noch lange nicht für die Zeit bezahlt, so dass mit der Anwesenheit auch alles erledigt ist. Wie die Arbeitsstunde genützt und eingeteilt wird, ist Gegenstand größter Aufmerksamkeit. Die bringt der "Arbeitgeber" auf, weil er den Verdacht nicht los wird, zu viel Gemütlichkeit könnte seine Lohnkosten zweckentfremden. Da lohnen sich sogar Kosten, die für Aufsichtsfunktionen ausgegeben werden, denn ohne Kontrolle kämen ja die Rechte des Betriebs zu kurz - und die liegen in der optimalen Ausfüllung der Arbeitsstunde. Wenn schon Pausen notwendig sind, weil eine Stunde konzentrierter Arbeit am Stück dem "Menschen " kleine Probleme bereitet, dann gehören sie nicht dem Zufall und individuellen Eigenarten der Beschäftigten überlassen. Ihre Beschränkung auf das unerlässliche Maß gehört gesichert und der Ablauf der kombinierten Tätigkeiten ist vor Störungen zu schützen: Also wird der Dienst leistungsdienlich geregelt und die "Freiheit" des Arbeiters auf den "Spielraum" beschränkt, der unumgänglich ist.

So lautet der Vertrag auf "Zeitlohn", und niemand braucht sich zu täuschen, dass damit ein Entgelt für die Verfügbarkeit des Arbeiters gemeint ist. Die Leistung, die anfällt, ist Gegenstand der Bemühungen des Unternehmers, die Arbeitskraft, die er bezahlt, so gründlich wie möglich einzusetzen.

2. Wer meint, das wäre nicht weiter schlimm, hat recht. Allerdings nur, wenn nach der Stunde erst einmal ein bisschen gewartet wird. Der Lohn für die Stunde erlaubt es nicht, Schluss zu machen - und überhaupt ist dergleichen nicht vorgesehen. Die "Arbeitgeber" exekutieren schließlich am Lohnarbeiter die Multiplikation des Stundenlohnes, so dass dem der Arbeitstag schon zu schaffen macht. Während die Berechnung des Lohnes den Arbeitstag so handhabt wie einen mit acht multiplizierten Stundenlohn, wollen acht Arbeitsstunden erst einmal ausgehalten sein. Dass Lohnarbeiter müde bis fertig sind, wenn sie sich an den Genuss ihrer freien Zeit machen, wissen nicht nur sie selber recht gut. Dabei beginnt die "Erholung", geschweige denn das Vergnügen, nicht einmal nach Arbeitsschluss. Der Heimweg gehört ebenso wenig wie der Anmarsch zur Freizeit, sondern kostet zwei Stunden von ihr. Arbeitszeit ist der Aufwand für den Weg vom und zum Arbeitsplatz aber auch nicht, wenigstens nicht nach den Regeln des Zeitlohns. Ob ein Fahrtkostenzuschuss den bescheidenen Lohn wenigstens nicht zu sehr einer unerträglichen Belastung aussetzt, hängt davon ab. Manchmal holt auch ein starkes Unternehmen mit Bussen die Arbeitskräfte im Hinterland um 4 Uhr früh ab, damit sie pünktlich um 6.30 Uhr in der Frühschicht sind. Das ist sehr sozial, hat mit "Ausbeutung" nichts zu tun, selbst wenn der Tag dieser Bürger mit der Arbeit auch schon gelaufen ist.

In der Arbeit selbst wird selbstverständlich ebenfalls Sorge getragen um die Physis von Leuten, die unter dem Regime des Zeitlohnes ihre Stundenlöhne akkumulieren. Den Tücken der menschlichen Natur wird Rechnung getragen und die Pausenfrage so geregelt, dass sie genau zu den Notwendigkeiten des Betriebs passt. Die Beanspruchung von Muskeln und Nerven, das Verlangen nach Kalorien wird mit den passenden Arbeitsunterbrechungen berücksichtigt: Der unvermeidliche Müßiggang findet statt, natürlich hauptseitig unbezahlt und in der Kantine, deren Besuch durch die Güterabwägung um Zeit und Geld glaubwürdig ist.

Diese Güterabwägung ist auch die Grundlage dafür, dass aus dem Zeitlohn bzw. seinem Ertrag kein Argument dagegen erwächst, auch einmal ein paar Stunden über die Zeit zu arbeiten. Dieses Angebot ergeht von "Arbeitgeberseite", wenn die Marktlage günstig ist und die vollen Auftragsbücher schnelle Amortisation von Kapital gestatten. Mit dem "Lebens"interesse eines Arbeiters hat es sehr wenig zu tun, ebenso wenig wie das Ansetzen von Kurzarbeit, die immerhin durch den "Mehr"verdienst einer Sonderschicht in etwa kompensiert wird. Schließlich wird man für den Ausfall von Arbeitszeit mit Verdienstausfall haftbar gemacht, so dass man für das fehlende Geld an anderen Tagen Erholung und Freizeit "gerne" sausen lässt.

3. Noch bevor die Wirkungen der modernen Arbeitszeitordnung auf die "Lebenshaltung" ihrer Instrumente, also die Dialektik von Geldbeutel und Feierabend besichtigt wird, darf vielleicht noch erwähnt werden, dass sich die Arbeitszeitordnung auch auf größere Zeiträume erstreckt. "Arbeit zu haben" heißt ja auch, sich der Frage zu stellen, wieviel Arbeitstage man hintereinander durchsteht. Einer eventuellen Antwort seitens der "Betroffenen", die ihre Belastbarkeit, ihre Gesundheit, die erholungsgewährenden Qualitäten des täglichen Feierabends erst prüfen müssten, ist die Marktwirtschaft unter Zuhilfenahme des christlichen Kalenders zuvorgekommen. Ausnahmen sind nur nach Maßgabe des Geschäfts an der Tagesordnung, das Kassenwesen moderner Betriebsführung orientiert sich an den Monden - und das erübrigt allemal eine Berücksichtigung der menschlichen Natur, die in der Einteilung von Woche und Monat bestens aufgehoben ist.

Sie kommt am Tage des Herrn zum Zuge, kann sich im planbaren Wochenende für alle Versäumnisse schadlos halten, die in Sachen Lebensgestaltung an den Werktagen auf der Strecke bleiben. Ob sich das mit dem Bedürfnis nach Erholung verträgt, ist zweifelhaft, legt aber den Blick auf den Urlaub frei.

Der ist so richtig für Wiederherstellung und "selbst etwas unternehmen" gedacht. Dieser Abschnitt des Arbeitsjahres anerkennt die Notwendigkeit der Muße, welche die gewöhnliche Arbeitszeitregelung nicht gewährt, auch den Verschleiß. Alles, worauf der auf die Regelmäßigkeit des Arbeitens angelegte Stundenplan des Arbeitsjahres keine Rücksicht nimmt, harrt da seiner nachholbedürftigen Erfüllung. Das Klappen dieser größten, auf Brauchbarkeit angelegten Kompensationsveranstaltung ist auch mit Urlaubsgeld, ohne das sie nicht einmal ginge, sehr fragwürdig. Die vernachlässigten Lieben, die angegriffene Gesundheit, kulturelle Ambitionen, eine andere Umgebung, die Preise nicht zu vergessen - das alles lässt sich schwerlich in drei bis vier Wochen erledigen, die häufig auch noch der Kalender des Betriebes und des Schuljahres verordnet. Ein bisschen, das lässt sich per Vorgriff erahnen, stellt auch diese Errungenschaft an "Lebensqualität" nichts weiter dar als den Rest, der von der disponiblen Arbeitszeit bleibt, für die ein Werktätiger gut ist und die er kaum aushält. Unbezahlten Urlaub gibt es, um nicht ungerecht zu werden, natürlich auch. Mit seinem Geldbeutel und dem auf seiner Verfügbarkeit bestehenden Betrieb hat ein Lohnabhängiger gleich zwei Instanzen zur Seite, die den Ausnahmecharakter dieser Freizeitbeschaffung gewährleisten.

4. Wie lange die Lebensarbeitszeit dauert, ist nicht geregelt. Die Diskussionen, die unter diesem Titel geführt werden, betreffen das Einkommen von Leuten, die aufgrund gesetzlicher Zwangsversicherungen und aus Zufall in der Lage sind, am Ende ihres Arbeitslebens eine Pause anzuhängen und dafür etwas von ihren Beiträgen zu verzehren. Solche Diskussionen und die auf Sparsamkeit zielenden Verbesserungsvorschläge sagen weniger aus als die dabei zu Rate gezogenen Statistiken, die niemand gern mit dem Regime des Zeitlohns in Verbindung bringt. Die Zahlenwerke bestätigen, dass das freiwillig eingegangene Lohnarbeitsverhältnis nur sehr unfreiwillig aufgegeben zu werden pflegt. In den Fällen, wo die Dienste eines Lohnarbeiters überflüssig werden, schlägt sich dieser trotz der ihm erlassenen Arbeitsmühen damit herum, vom Lohn leben zu müssen, der ihm gemäß den Regeln der Lohngerechtigkeit vorenthalten wird. In anderen Fällen geben Lohnabhängige die Gelegenheit zur einkommenswirksamen Beschäftigung auf, weil ihnen die Arbeitszeit nicht mehr zuträglich ist; irgendwie hat da die absolvierte Beschäftigung ihren Tribut gefordert und den natürlichen Prozess des Alterns merkwürdig beschleunigt. Und für eine erhebliche Anzahl ist die Lebensarbeitszeit mit einem Mal beendet, weil sie schon vor der letzten großen Pause zu leben aufhören. So erfahren die Lohnabhängigen in der unterschiedlichsten Weise, dass sie mit ihrem Beruf als personifizierte Arbeitszeit zählen.

5. Als schlimmster Fall gilt deswegen im Kapitalismus immer noch die Arbeitslosigkeit. Sie wird ausnahmslos beklagt. Selbst die, die sie durch ihre Entscheidungen hervorbringen, versehen die Entlassungen - die wegen des geschwundenen ebenso wie wegen des zu sichernden Erfolges des Betriebs, also in jedem Fall einfach sein müssen - stets mit einem "leider". Voller Verständnis für die Opfer ihres Rechnungswesens beklagen Unternehmer den Druck der Konkurrenz, in der sie tüchtig zu Werke gehen; und bei denen, die sie für die gedeihliche Fortführung ihrer Geschäfte brauchen, bestehen sie darauf, dass ihre Arbeit auch preiswert bleiben bzw. werden muss - alles im Namen derjenigen, die sie außer Lohn gesetzt haben.

Mit diesem Bekenntnis zur Unterwerfung von Lohn und Arbeitszeit unter die Ansprüche des Geschäfts handeln sich die Kenner "wirtschaftlicher" Notwendigkeiten im demokratischen Kapitalismus keine Kritik ein. Im Gegenteil. Politiker, Medien und Gewerkschaften greifen die Sorge um die Arbeitslosigkeit, die als "Problem" gilt, auf - aber nie das System an, dem sich der einschlägige Umgang mit Leuten verdankt, die auf die Anwendung ihrer Arbeitskraft angewiesen sind. Der Standpunkt, dass zur Vermeidung solcher Opfer die Rechnung des Kapitals zu durchkreuzen oder gar zu unterbinden sei, kommt da nicht auf. Eher schon die Befürchtung, dass zu viele Arbeitslose so etwas wie "sozialen Sprengstoff" abgeben könnten und der geschäftsdienliche soziale Frieden gestört würde. Großer Beliebtheit erfreut sich das laute Nachdenken darüber, wie die Arbeitslosen wieder "beschäftigt" werden könnten, wobei wiederum niemand an eine andere Art und Weise der "Beschäftigung" denkt als die einzig bekannte: die in einem rentablen Unternehmen also nach den Grundsätzen, denen sich die Arbeitslosen verdanken. Da werden Modelle einer Verteilung der Arbeitszeit breitgetreten, in denen alle ihre Portion aus dem gesamtgesellschaftlichen Arbeitszeittopf "kriegen" - Modelle, die sich regelmäßig daran blamieren, dass es diesen Topf gar nicht gibt, weil die Unternehmer die Arbeitszeit nicht haben und verteilen, sondern in Anspruch nehmen und einteilen. Sämtliche Instanzen, die zur Behebung des "Problems" aufgerufen werden und ihr Bestes zu tun versprechen, krönen ihre Einsatzbereitschaft in dieser sozialen Frage mit dem Verweis auf ihre Ohnmacht. Die besteht selbst beim Staat darin, dass er sich den Erfordernissen des Geschäftslebens, an dem ihm so viel liegt, beugen muss und den Arbeitslosen einen guten Ertrag der "Wirtschaft" herbeiwünscht, der es gestattet, sie dereinst wieder lohnend zu verwenden.

Der Ertrag dieses ganzen Theaters ist eine Ideologie, unter der es im nationalen Kampf gegen die Arbeitslosigkeit niemand mehr macht. Erstens wird der Kapitalist mit dem Kompliment bedacht, der arbeitenden Klasse zu dienen, sooft er sie benützt. Sein Beruf lautet "Beschäftigung stiften", und das aus Anlass einer praktizierten Berechnung, die ein ziemlich anders geartetes Berufsbild verrät. Zweitens wird auch die Rolle des Arbeiters im Kapitalismus gründlich gewürdigt: Was ihm als der Güter höchstes zusteht, ist ein Arbeitsplatz, eine Beschäftigung bei einem Unternehmer eben. Diese "Folgerung" aus dem "schlimmsten Fall" marktwirtschaftlichen Haushaltens mit kostspieliger Arbeitszeit lässt einen Einwand gegen die Unterwerfung von Arbeit und Einkommen unter die Profitbilanz einer Firma und der Nation endgültig nicht mehr zu. Sie macht sich umgekehrt stark für die einzig denkbare "sachdienliche" Verwendung der Ware Arbeitskraft, als die so mancher herumläuft. Drittens ist mit dem Seufzer nach Beschäftigung ein prüfender Blick auf diesen eigenartigen Lebensinhalt völlig abwegig. Wenn es für eine ganze Klasse ein Glück ist, auf dem freien Markt der Arbeitskräfte einen Käufer zu finden, dann erledigt sich jede Begutachtung der Dinge, die die Spender von Arbeitsplätzen mit den "Beschäftigten" innerhalb der Arbeitszeit anstellen, die sie ihnen abnötigen.

Die Gnade, jemanden für die Betriebsbilanz arbeiten zu lassen, rechtfertigt allemal die zielstrebige Abwicklung des Programms "Weniger Kosten - mehr Leistung!" - also den Grund der Arbeitslosigkeit.

c)

Den Ärger mit der Arbeitszeit, deren Ausdehnung die Freiheit und die Lebensqualität eines Lohnarbeiters allemal schmälert, sind die Arbeiter im Kapitalismus auch dadurch nicht losgeworden, dass sie in ihrer Arbeitszeit immer mehr leisten. An Maßnahmen, ihre Leistung zu steigern, hat es im Kapitalismus nie gefehlt: Die Intensivierung der Arbeit pro Stunde, Tag und Woche findet immerzu statt, und die Produktivität des Arbeitseinsatzes wird von Jahr zu Jahr enorm vermehrt. Von einer entsprechenden Vermehrung des Einkommens derjenigen, die diese Arbeit leisten, und von einer verhältnismäßigen Erweiterung ihrer freien Lebenszeit kann jedoch keine Rede sein. Weniger und leichtere Arbeit und ein bequemeres Leben sind nicht herausgesprungen bei den ständigen Produktivitätssteigerungen, auf die sich die Anhänger des Kapitalismus und seiner unschlagbaren "Effektivität" so viel einbilden. Aus den immer ansehnlicheren Ergebnissen ihrer Mühen haben die Arbeitenden keinen großen Nutzen gezogen; nicht einmal den, dass sie für diese Mühen entschädigt worden wären.

Das ist auch gar kein Wunder; denn darauf sind die einschlägigen Fortschritte nicht berechnet. Wenn der produktive Einsatz der Beschäftigten immer effektiver gestaltet worden ist und sich der Wirkungsgrad ihrer Arbeit ständig erhöht hat, dann dient das eben einem ganz anderen Zweck als dem, die Arbeitenden teilhaben zu lassen an den immer mannigfacheren Gütern, die sie schaffen, und an der wachsenden Leichtigkeit, mit der sie hergestellt werden können. Diese Fortschritte verdanken sich und dienen ausschließlich der Produktivität des Kapitals - und die ist umso größer, je gründlicher sie sich der Produktivität der Arbeit als ihres Mittels bedient. Nicht die Verringerung der Arbeitsbelastung, sondern Lohnkostensenkung ist das Gebot kapitalistischer Kalkulation, also ausgiebigere Nutzung der Arbeitskräfte, die man zahlt.

1. Angefangen haben die handfesten Bemühungen um das, was Lohnarbeiter pro Zeit leisten, mit der Einführung einer neuen Lohnform. Scheinbar in einem Anfall von Gerechtigkeitssinn haben Unternehmer beschlossen, das Entgelt für die von ihnen angemieteten Arbeitskräfte davon abhängig zu machen, was deren Fleiß an zählbaren Produkten hervorbringt. Der Akkord bemißt die Löhne der Arbeiter an einer verbindlichen Durchschnittsleistung. Abweichungen von dieser für alle gültigen Norm werden belohnt und bestraft, so dass der Arbeiter, der auf die Aufbesserung seines Lohnes scharf ist, seine zusätzlichen Verdienstprozente mit einem ansehnlichen Verschleiß seiner Kräfte büßt. Umgekehrt schlägt der mangelnde Wille ebenso wie die fehlende Fähigkeit, den eigenen Einsatz zu steigern, gegen den Geldbeutel aus - wenn die Beurteiler und Beaufsichtiger der tätigen Arbeitskräfte daraus nicht gleich den Schluss gezogen haben, auf die Mitarbeit notorischer Nachzügler zu verzichten. Auf die gebotene Möglichkeit, sein Einkommen zu verbessern, zu verzichten, es sich etwas bequemer zu machen und sich mit dem Leistungsdurchschnitt oder weniger zu begnügen, war als dauerhafte Alternative nämlich nicht vorgesehen bei diesem hochherzigen Angebot an die Werktätigen. Gesichert war in jedem Fall, dass die "Arbeitgeber" keine "Arbeitszeit bezahlen" mussten, die nicht mit der vorgeschriebenen Leistung ausgefüllt war und die entsprechenden produktiven Ergebnisse zeitigte, sich also rentierte.

Wenn das Akkordsystem Unmengen von Lohnarbeitern Gesundheit und Leben gekostet, aber keinen reich gemacht hat, so ist das ganz im Sinne seiner Erfinder und kein Zufall. Bei der Festlegung des Durchschnitts hat nämlich die Gerechtigkeit, die man dem Arbeiter und seinem Tagwerk widerfahren lassen könnte, erst einmal gar keine Rolle gespielt. - Eher schon die Unzufriedenheit der lohnzahlenden Instanz, die sich beim Vergleich zwischen Lohnkosten und einträglichen Arbeitsergebnissen einstellt. Beim Akkord ist der Nutzen der Arbeitskraft im Visier, und zwar der für die Rechnung des Betriebs; keineswegs eine Entsprechung von Arbeitslohn und Arbeitsmühe aufseiten der Betriebsbelegschaften. Der gar nicht festgestellte, sondern ziemlich einseitig vom Anwender der Arbeitskräfte festgelegte Durchschnitt, an dem sich die individuellen Bemühungen im Betrieb vergleichen dürfen, bezeichnet lediglich ein Verhältnis von Lohn und Leistung, das aus der Erfahrung mit dem Zeitlohn stammt und vom Standpunkt einer lohnenden Betriebsbilanz aus für unerlässlich gilt. Die vielgepriesene Gerechtigkeit einer "Bezahlung für Leistung" besteht in einer betriebsgerechten Zuordnung. Einer Zuordnung, die ihren erpresserischen Charakter im Übrigen gar nicht verbirgt: Sie definiert, welche Mühen dem Betrieb wieviel wert sind, weil sich die Kosten für ihre Ergebnisse lohnen - und überlässt es den Arbeitern, diese Rechnung aufgehen zu lassen. Die dürfen sich mit ihrem Interesse an einem brauchbaren Einkommen an den Vorgaben bewähren und sich durch unterschiedliche Leistungen dem Interesse an der Produktivität ihrer Arbeit und der Intensität ihrer Verausgabung unterwerfen. In der entsprechenden Konkurrenz untereinander dürfen sie die Lüge wahrmachen, dass ihre - zumindest ihre relativen - Fähigkeiten und Werke den Grund für ihren mehr oder weniger hohen Lohn abgeben. Soweit ihre unterschiedlichen Anstrengungen Unterschiede in der Bezahlung nach sich ziehen, ist also höchstens ihrem Gerechtigkeitssinn, nicht aber ihnen gedient. Dafür profitieren auf jeden Fall ihre Anwender, die dem von ihnen veranstalteten Wettbewerb ganz neue Erkenntnisse über die Leistungsmöglichkeiten, die sich zur gültigen Durchschnittsleistung machen lassen, gewinnen, wenn sie die Auslagen für Löhne an die Steigerung der Arbeit pro Zeit binden.

Bei den Arbeitergenerationen, die das Regime des klassischen Stücklohns erlebt haben und sich in ihm zu bewähren suchten, war die Parole "Akkord ist Mord" im Umlauf. Sie haben zu spüren bekommen, dass sie das Verhältnis zwischen Lohn und Leistung gar nicht als einen Hebel in ihrem Interesse betätigen können; dass immer nur die Kapitalisten mit dem Lohn wachsende Leistung mobilisiert haben, nie aber die Arbeiter mit wachsender Leistung dauerhaft mehr Lohn locker gemacht haben. Nicht ihr Einkommen ist laufend gestiegen, sondern die Akkordnormen, an denen sie sich bewähren mussten, haben sie mit ihren Bemühungen in die Höhe getrieben, sich besser zu stellen - wobei dieses "besser" sein bescheidenes Maß sowieso nur im "Normalverdienst" eines vergleichbaren Zeitlöhners, nicht aber in den Bedürfnissen gehabt hat, die alle bezahlt sein wollen. Der vermehrte Fleiß am Arbeitsplatz hat ihnen auch keine Verringerung der Tages-, Wochen- und Monatsarbeitszeit eingebracht. Im Gegenteil: Akkordarbeit war für ihre Veranstalter immer mit Überstunden vereinbar, so dass sich der Genuss des relativen Mehrverdienstes auch nach dieser Seite ziemlich relativiert hat. So verwundert es gar nicht, dass die Lohnabhängigen dieses "leistungsgerechte" Lohnsystem weder aufgebracht, noch sich als Belegschaftsmitglieder frei und freudig für den Akkord entschieden haben. Das konnten sie auch gar nicht. Die Betriebsherren haben ihnen diese Weise, ihr Geld zu verdienen, mitsamt den wachsenden Leistungsnormen vorgegeben, wo es ihnen zweckmäßig erschien - die Arbeiter waren damit zur entsprechenden Akkordarbeit verpflichtet und durften sie dann als mehr oder weniger aushaltbare Gelegenheit für ihren Mehrverdienst verstehen.

2. Dass der als ziemlich brutal eingestufte Akkordlohn heute größtenteils nicht mehr üblich ist, verdankt sich umgekehrt aber auch keinen wehrhaften Anstrengungen seiner Opfer. Entfallen ist für den Arbeiter die Gelegenheit, eine mit 100% definierte Leistung zu überbieten und seinen Lohn durch diese Abweichung vom Durchschnitt seiner Kollegen aufzubessern. Die Leistungen, die nach wie vor mit einer Prozentzahl und Ausbringungsmenge zur Grundlage des Entgelts erklärt werden, sind erzwungener Durchschnitt, der mit der Bewältigung der Arbeitsstunde einfach anfällt, also für jeden verbindlich ist. Seine Erfinder haben akkordmäßige Leistungen zur Normalität gemacht, so dass die Berechnung eines Akkordlohns als pure Formalität gilt. Geblieben ist in gültigen Tarifverträgen die gültige Definition von Normalleistung: "Normalleistung ist die Leistung, die von jedem geeigneten Arbeitnehmer nach Übung und Einarbeitung mindestens erreicht werden kann, ohne die Gesundheit und Arbeitsfähigkeit zu gefährden."

Und diese Normalleistung verändert sich ständig. Der Stücklohn, der eine Zeit lang den Inbegriff kapitalistischer Ausbeutung ausgemacht hat, ist für deren Zweck so tauglich gar nicht gewesen. Das haben die Kapitalisten, die die Belastbarkeit ihrer Arbeiter wahrlich gründlich getestet haben, festgestellt. Als Mittel zur Senkung der Stückkosten war der Stücklohn nur soweit brauchbar, wie der Wille und die Fähigkeit der Arbeiter eine Intensivierung ihrer Arbeit gestattet haben. Nicht an den Anstrengungen ihrer Belegschaften, wohl aber am Ertrag selbst ihres äußersten Einsatzes war zu bemerken, dass bei gegebener Organisation der Arbeit das Geschäft mit ihren Produkten auf eine Schranke gestoßen ist. Eine Erhöhung der Ausbringung im Verhältnis zu den Kosten war ohne Veränderung der Arbeitsmittel nicht zu haben. Und durch solche Veränderungen wurden ganz neue Möglichkeiten eröffnet, die Intensität des Arbeitens zu steigern. Richtig lohnend wird ein Arbeitstag nämlich in dem Maße, in dem er einem Umgang mit den sachlichen Elementen des Produktionsprozesses untergeordnet ist, der für sich schon eine einträglichere Verwendung von Lohnkosten garantiert. Eine Verwendung, die noch einträglicher wird, wenn die neue Arbeitsweise auch die Leistung des Arbeiters, seine Verausgabung, das Tempo seiner Verrichtungen erhöht.

Das ist der "technische Fortschritt", der unter kapitalistischer Regie die Arbeitsmittel und die gesamte Arbeitsorganisation ständig revolutioniert und in seinem Gefolge das Leben in der Fabrik für die Beschäftigten entsprechend gründlich ändert. An die Stelle des mörderischen Akkords tritt der moderne Arbeitsplatz mit seinen "menschengerechten" Anforderungen. Die arbeitenden Menschen sind der "Willkür" ihrer Antreiber und einer ständig gesteigerten Akkordhetze entronnen - sie müssen nur noch die technisch durchorganisierten Arbeitsplätze ausfüllen. Das ist allerdings gar nicht so einfach, angenehm und einträglich, wie die Propagandisten des technischen Fortschritts samt seinen nach arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen gestalteten Fabrikhallen und Maschinen weismachen möchten.

Die Steigerung der Arbeitsproduktivität, die mit der Entwicklung der Maschinerie zustande kommt, bewirkt Fortschritte in der Teilung der Arbeit. Die den einzelnen Arbeitern abverlangte Tätigkeit wird darüber ebenso einfach wie einseitig, so dass sie zwar nicht über eine gewaltige Beanspruchung ihrer besonderen Fähigkeiten, ihres Könnens klagen können. Andererseits haben sie keinen Grund zur Freude; eine Erleichterung ihres Tagewerks tritt nämlich keineswegs ein, wenn sie morgens um 6 oder zu allen möglichen anderen Tages- und Nachtzeiten die moderne Fabrik betreten, um gemeinsam als eine Art kollektiver Hilfsarbeiter kooperativ ihre Dienste zu verrichten.

Wenn in der Technik heutiger Betriebe eine Menge Naturkräfte zum Einsatz gelangen, also Energie angewandt wird, die der Organismus des Arbeiters nicht hergeben muss und auch gar nicht könnte, so besagt das noch lange nicht, dass es mit der körperlichen Anstrengung ein Ende hätte. Und wenn mit den Apparaten Funktionen mechanisch verrichtet werden, die das Geschick von Arbeitern im Gebrauch von Werkzeugen ersetzen, so spielen für die Leistung an den Maschinen die besonderen Fertigkeiten und "Qualifikationen" der Arbeiter keine Rolle mehr. Die eigentümliche Anstrengung, die von den "Mitarbeitern" eines "hochtechnisierten" modernen Betriebs verlangt wird, besteht darin, alle Anforderungen zu bewältigen, die der Arbeitsplatz in puncto Bewegung, Kraftaufwand, Aufmerksamkeit und Tempo gebietet. Die Zeit und die Geschwindigkeit, in der er zu arbeiten vermag, sind die einzige "Qualifikation", die sein Arbeitsplatz verlangt. Gemütlichkeit stellt sich dabei nicht ein, weil der technische Sachzwang - ein System von Maschinen regelt die Teilung und Kombination der Arbeiten - einem ökonomischen Interesse entspringt und es durchsetzt.

Im unerbittlichen Leistungsdiktat ihres jeweiligen Arbeitsplatzes erfahren seine "Besitzer", dass sie bloß das Material einer Rentabilitätsrechnung sind, die mit ihnen angestellt wird und nach deren Kalkulationsgrundsätzen sie als tätiges Kollektiv funktionieren. So spüren die Arbeitenden am eigenen Leibe, dass sie Arbeit verrichten, die nicht möglichst zweckmäßig viele nützliche Produkte hervorbringen soll, sondern möglichst gewinnbringend verkäufliche Ware. Eigentümlicherweise will angesichts dessen heute keiner mehr Ausbeutung im Betrieb entdecken. Dabei ist in der modernen Fabrik mit Händen zu greifen, dass Lohnarbeiter das pure Anhängsel der Maschinerie und der in der technischen Organisation der großen Industrie festgeschriebenen Leistungsansprüche an die Arbeitskraft sind - und sonst nichts. Und an allen Erscheinungsformen von "Beschäftigung" - von den massenhaften Arbeitsplätzen, an denen unausgebildete Ausländer ohne Schwierigkeiten "deutsche Wertarbeit" verrichten, bis zu den Facharbeiterjobs, die viel Einsatz, sonst aber wenig verlangen - zeigt sich, wie wenig vom Geschick, vom Können und vom Willen der Maschinenbediener abhängt, ob und wie die Produktion funktioniert.

3. Dass mit der Zerlegung der Produktion in immer einfachere Verrichtungen an immer komplizierteren Geräten die Arbeit produktiver wird, können die Arbeiter den Erfolgsmeldungen in den Betriebszeitungen entnehmen. Ihre Lohnstreifen berichten von diesen Fortschritten nichts, sondern beschränken sich auf einfache Multiplikationsbeispiele. Ihre Bezahlung ist auf eine Leistung bezogen, die sie an ihrem Arbeitsplatz erledigt haben, weil der als eine einzige Leistungsvorgabe eingerichtet ist. Vom Zeitlohn bleibt ihnen die Arbeitszeit, vom Akkordlohn die Kontrolle der Leistung erhalten - ganz gleich welche Form die Bezahlung annimmt. Diese ist eine eindeutige Formsache und gibt keinen Anlass zu Illusionen bezüglich der Korrekturen, die besonderes Geschick und außergewöhnlicher Einsatz am Verdienst bewerkstelligen könnten. Zu tun haben Arbeiter genug - sie müssen sich einteilen, um stets den unabhängig von ihrer Tagesform fälligen Durchschnitt zu schaffen bzw. Schwankungen auszugleichen.

In vielen Fällen bleibt ihnen diese Mühe erspart, weil das Arbeitstempo durch so sinnreiche Erfindungen wie den Band-Akkord feststeht. Der Zusammenhang der Teilarbeiten, das gewünschte Zusammenwirken der Teilarbeiter ist durch die Geschwindigkeit gesichert, in der die Bewegung der Maschinerie den Arbeitsablauf diktiert. Der individuelle Spielraum erschöpft sich im Einhalten oder Herausschinden von Pinkel- und Zigarettenpausen. Alle größeren Abweichungen vom erzwungen Durchschnitt - der also keine bloß rechnerische Größe ist - rufen Platz- und Zeitprobleme hervor, die in Abhängigkeit vom Vorder- bzw. Hintermann durch zeitweilige Zusatzanstrengung gelöst werden müssen. Dabei haben diese "Spielräume" nichts mit einei Beeinflussung der Lohnhöhe zu schaffen, weil die mit der Bewertung des Arbeitsplatzes erledigt ist. Was ganz und gar nicht heißt, dass sich der gute Arbeitsmann an diesem Ort einhausen kann und durch das gewohnheitsmäßige Wegstecken seiner Belastung genug gutes Geld verdient. Nicht zuletzt, weil mit dem festen Bandakkordlohn, der über einem vergleichbaren Zeitlohn für 'ungelernte' Arbeiter liegt, auch alle Variationen in der Bandgeschwindigkeit und Bandorganisation abgegolten sind, die der Betrieb beschließt.

4. Das mit der Gewohnheit klappt schon deswegen nicht, weil die Belastung des Organismus an modernen Arbeitsplätzen ziemlich einseitig und anstrengend ausfällt; dazu dauert sie acht Stunden am Tag und mehr, fünf Tage die Woche und mehr. Einen modernen Arbeitsplatz ausfüllen, bedeutet also vor allem, ihn auszuhalten - was ohne gesundheitliche Schäden nicht zu machen ist. Die einschlägigen Statistiken von berufstypischen Leiden, die sich "mit dem Alter", manchmal aber schon mit fünfunddreißig einstellen, belegen, dass die normale alltägliche Beanspruchung auch und gerade in den technisch fortschrittlichsten Fabriken mit Belastungen einhergeht, die durch die Pausen, Erholungs- und Freizeiten nicht ausgeglichen werden. Diese Sorte Beschäftigung ist eben nicht auf den Erhalt der Arbeitskraft berechnet, sondern auf ihre ausgiebige Benutzung. Deshalb hat das Arbeitsleben gewöhnlich die Form eines mehr oder weniger flotten Verschleißes, der in den Krankheits"bildern" sogar noch die negativen Spezialitäten des Arbeitsplatzes erkennen lässt. Andererseits sind die Strapazen für Physis und Psyche so allgemein, dass sich die Redeweise vom "Stress des modernen Lebens" eingebürgert hat, womit feststeht, dass sie ausgehalten werden müssen; wer das nicht schafft, ist mit seiner Konstitution und den ungesunden Gewohnheiten, sein Arbeitsleben auszuhalten, - Alkohol, Nikotin usw. - selber schuld an seinem frühzeitigen Ruin. Von der unausweichlichen 'mentalen' Verknöcherung, welche ein Übermaß vereinseitigter Aufmerksamkeit und tagtäglicher Langeweile mit sich bringt, wird weniger Aufhebens gemacht, weil sie - funktional wie sie ist - gar nicht auffällt und nicht unter die "Zivilisationskrankheiten" gerechnet wird.

Diese allgemeine Bilanz eines gesunden nationalen Geschäftslebens wird aufgestockt durch die Wirkungen, die der kostenschonende Umgang mit Lärm, Dreck, Gift und sonstigen "Gefahren" hervorruft. Dass über eine Million Arbeitsunfälle pro Jahr in der demokratischen BRD anfallen, zeugt zwar nur davon, dass die Arbeitsplätze auch in dieser Hinsicht sehr "unsicher" sind - und wohl kaum von den Lohnarbeitern so sinnig eingerichtet wurden. Aber die sind ja sowieso nicht die Subjekte ihrer Arbeitsteilung und Kooperation, geschweige denn die des "technischen Fortschritts", dem sie sich anzupassen haben. Und die im Zuge des Umweltkatastrophentums bemerkten "Skandale" beim Umgang mit krankheitsförderlichen Materialien und Abfällen aller Art belegen dasselbe: die Zerstörung der Gesundheit von Lohnabhängigen ist in der Kalkulation enthalten, der sie sich unterwerfen.

Allerdings ist nicht zu übersehen, dass die Anwender der Arbeitskraft auf eine gewisse "menschengerechte" Einrichtung ihrer Arbeitsplätze Wert legen, auch da streng kostenorientiert. Zweckdienlich soll die ausgiebige Beanspruchung und der Verschleiß von Hirn, Muskel, Nerv schließlich sein, und das gebietet manche Rücksicht auf den menschlichen Faktor bei der Einrichtung des Arbeitsplatzes, damit man beim Arbeitsprozess dann keine Rücksicht mehr auf ihn zu nehmen braucht. Leistungsgerecht sollen die Arbeitsplätze sein, damit durch die ausgiebige Beanspruchung bei der Bedienung der Maschinerie keine unnötigen Reibungsverluste und Beeinträchtigungen des Produktionsablaufs auftreten. Deswegen sind die Arbeitsplätze mit ihrer "humanen" und "ergonomischen Gestaltung" nicht gesund, sondern nur immer ausgeklügelter und effektiver für das Interesse geworden, den Menschen an ihnen wie eine Leistungsmaschine funktionieren zu lassen.

Schließlich sehen sich Lohnarbeiter immer wieder mit dem Problem konfrontiert, dass sie sich von ihren Gewohnheiten beim Bewältigen "ihres" jeweiligen Arbeitsplatzes verabschieden müssen. Wenn der Betrieb eine Umstellung der Produktion vornimmt, müssen sie sich umstellen und auf den Lohn, der mit den neuen Arbeitsplätzen und ihren Erfordernissen "verbunden" ist, einstellen. Anlässlich der dauernden, von ihnen nie bestellten und geplanten Veränderungen des Produktionsablaufs, die, wenn sie etwas umfangreicher ausfallen, Rationalisierung heißen, sehen sie sich nicht nur neuen Anforderungen ausgesetzt, was die Qualität ihrer Arbeit anbetrifft. Sie werden auch nachdrücklich mit der Ideologie der bezahlten Leistung bekannt gemacht, wie sie die "Arbeitgeber" von heute praktizieren.

5. In den Verfahren der analytischen Arbeitsplatzbewertung wird Abstand genommen von der Zählung der Resultate der Arbeit, wenn es gilt, die der unternehmerischen Kalkulation gemäße Normalleistung zu "ermitteln". Sicher, wo ein diskretes Arbeits- und Zwischenprodukt auszumachen ist, findet sich nach wie vor der Vermerk "Ausbringung pro Stunde". Der Vorstellung, die Lohnhöhe habe mit der Produktivität der Arbeit etwas zu tun, wird jedoch kein Zugeständnis gemacht. Stattdessen wird zum Zwecke der "Lohnfindung" der Arbeitsvorgang in seine abstrakten Elemente zergliedert, um die Zuordnung der definierten Leistung zu einer Lohngruppe vorzunehmen, die dem Lohnempfänger wohlabgestuft etwas mehr oder weniger Stundenlohn im Vergleich zu anderen zumisst. Der für die Arbeit gezahlte Preis wird als notwendige und gerechte Konsequenz dessen ausgegeben, was von den Fähigkeiten des Arbeitnehmers beansprucht wird. Ermittelt wird, ob die Arbeit im "Sitzen, Stehen, Gehen" stattfindet, welche "Muskelgruppen" zum Einsatz gelangen, welches "Gewicht" mit welcher "Körperhaltung" mit welcher "Häufigkeit pro Schicht" wie weit bewegt wird; da wird geprüft, ob sich die geistige Anstrengung des Arbeiters aufs "Wahrnehmen" und "Beobachten" beschränkt oder ob auch "Nachdenken" und "Reagieren" gefordert ist. Gilt die Tätigkeit als "fremdbestimmt", so entfällt der Punkt "eigenbestimmt", und von "Verantwortung" kann nicht die Rede sein. Wird tagelang im Sitzen gelötet und geschraubt, so vermerkt die Analyse, dass sich Arme und Finger zu schaffen machen und in welchem Radius sie sich bewegen; eine nützliche Bewegung der Füße ist dann freilich nicht festzustellen, ebenso wenig ein nennenswertes Gewicht, mit dem der Arbeitsgegenstand Widerstand leistet. Schiebt einer wochenlang schweres Zeug hin und her, ist das anders - jedoch ist dann von "Nachdenken" und "Sitzen" nichts zu merken. Usw.

Die Sammlung von objektiven Belastungsmerkmalen interessiert sich durchaus für die Leistung des Arbeiters. Allerdings wird die minutiöse Registrierung der Bewegungen und des geistigen Einsatzes mit einer programmatischen Lüge vollzogen. Diese besteht in der bewussten Definition der Momente einer Tätigkeit als bloßer Teilbelastung des lebendigen Anhängsels der Maschinerie. Der Standpunkt, den diese Sorte gerechter Bewertung praktiziert, misst den Arbeiter an der Fiktion einer Totalbeanspruchung aller seiner Fähigkeiten. Die Arbeitskraft wird unabhängig von ihrer wirklichen Natur und Benutzung wie ein Leistungsautomat aufgefasst, der mit all seinen einzelnen Organen und Gliedern gleichzeitig produktiv eingesetzt werden könnte und erst damit voll ausgelastet wäre - um ihm vorzurechnen, wie wenig von dem, was eigentlich in ihm steckt und worauf der "Arbeitgeber" ein Recht hat, an seinem Arbeitsplatz beansprucht wird.

Das hat mit einer Beurteilung der Verausgabung des Arbeiters, seines Verschleißes überhaupt nichts zu tun, sehr viel aber mit dem Beschluss, möglichst wenig zu bezahlen. Die Lohnform Arbeitsplatz vollendet die Praxis wie die Ideologie des "Leistungslohns", indem sie die Kosten-Nutzen-Kalkulation mit der Lohnarbeit als Maßstab geltend macht, welcher der Arbeit als Qualität angerechnet wird. Die Lohnhöhe hat weder mit dem Bedarf des Lohnabhängigen noch mit der Produktivität seiner Arbeit etwas zu schaffen - er stellt von Berufs wegen personifizierte Arbeitskraft dar und verdient genau so viel bzw. wenig, wie diese seine Fähigkeit in Beschlag genommen wird. Durch diese Lohngerechtigkeit werden die Löhne differenziert - und zwar nach unten. Die bekannten Lohngruppen, in denen der Verdienst von vornherein nicht den Lebensunterhalt des Arbeiters, geschweige denn einer an ihm hängenden Familie abdeckt, "begründen" sich aus der Bornierung, die der produktive Arbeitsplatz seinem lebendigen Inventar aufherrscht. So büßt der Arbeiter auch beim Lohn, dass diejenigen, die über die Arbeitsmittel verfügen, seine Arbeit immer "einfacher", d.h. eintönig und aufreibend machen. Da mögen sich Männer und Frauen noch so flott ruinieren, weil es lediglich auf den intensiveren Einsatz einseitiger Fertigkeiten ankommt - die Bewertung ihres "Arbeitgebers" kann dabei keine Leistung entdecken. Sie macht sie umgekehrt dafür haftbar, dass besondere Leistungen gar nicht verlangt werden. Alle Fortschritte der Produktivität gehen auf das Konto der Investitionen in den "technischen Fortschritt", und soweit der nur noch Arbeitskraft schlechthin erforderlich und jedes spezielle Können überflüssig macht, werden die Lohnarbeiter für ihre "Nicht-Beanspruchung" bestraft. So gelangen die mit der miesesten Arbeit beschäftigten Arbeitskräfte gewöhnlich auch in den Genuss der miesesten Löhne.

Ausgerechnet diese Lohnform, die jede leistungssteigernde Verbesserung in der Arbeitsorganisation außerdem als Mittel benutzt, die Arbeitsplätze neu zu "bewerten" und damit den bisherigen Lohn in Frage zu stellen, gilt als Beweis, dass anstelle der früheren unternehmerischen "Willkür" bei der Lohn- und Akkordfestsetzung endlich Objektivität und Lohngerechtigkeit in die kapitalistischen Fabriken Einzug gehalten hat. Objektiv wird mit der "analytischen Arbeitsplatzbewertung" nur die alte Spezialität des Leistungslohns: dass sich das Lohn-Leistungs-Verhältnis laufend zugunsten der Anwender der Arbeitskraft und zuungunsten derjenigen, die sie verausgaben, verändert. Das passiert im modernen kapitalistischen Betrieb mit jeder Veränderung des Arbeitsplatzes quasi automatisch - und zwar im Prinzip nach beiden Seiten: Der neue Arbeitsplatz diktiert neue Leistungsanforderungen an die Arbeitskraft; und die der Tätigkeit zugeschriebene Leistungsdefinition gebietet eine neue "Lohnfindung". Kein Wunder also, dass die Lohnhierarchie mehr denn je die alte Eigentümlichkeit zeigt, dass anstrengende Arbeit mit wenig Lohn entgolten wird.

6. Einen Normalverdienst, der dann ein "guter Verdienst" heißt, lassen sich die "Arbeitgeber" großzügig für Tätigkeiten entlocken, die sich durch ein relatives Extra auszeichnen. Dafür kommen erst einmal Arbeitsplätze in Frage, die mit und wegen der allgemeinen "Dequalifizierung" samt ihrer objektiven Entsprechung aufseiten der Arbeitsmittel fällig werden. Mit dem Überblick über den Produktionsablauf, mit entsprechenden Sachkenntnissen, mit der Fertigkeit zur Behebung von Störungen, zur Wartung der Maschinerie etc. verdient sich eine Minderheit von Spezialisten den Titel "Verantwortung" für ihre berufliche Tätigkeit und ein paar Märker mehr. Dasselbe Prädikat stellt sich über Vorgesetztendienste ein, zu denen sich Lohnarbeiter auch hinarbeiten können, indem sie als bewährte Kräfte und betriebsergeben den Wandel der Produktionsbedingungen bewältigen, d.h. sich in alten wie neuen Techniken kundig machen. Ihr Berufsfeld ändert sich dann dahingehend, dass sie ihr Können nicht mehr selbst einsetzen müssen, sondern für die Organisation und Überwachung der Arbeit anderer anwenden dürfen.

Freilich kann man sich auch anders für eine außergewöhnliche Bezahlung "qualifizieren". Wer sich an einem Arbeitsplatz zu schaffen macht, wo der Verschleiß ein paar unübersehbare Extras aufweist und die Leistung die Rechnung des Unternehmens unmittelbar auf Kosten der Physis des Arbeiters befördert, wird durch eine Prämie entlohnt, die als Sonderverdienst zählt, auch wenn ihr Bezieher diese Lohnextras für seine normalen Lebensnotwendigkeiten verbraucht und verplant. Extreme Arbeitsbedingungen, was Lärm, Hitze und Dreck angeht, sind dafür genauso brauchbar wie Sondereinsätze für die aktuelle betriebliche Konjunktur: Es gibt Prämien für die Einhaltung von Lieferterminen und Qualitätsansprüchen, die ohne Sondereinsatz gar nicht geht, für leistungsintensive Senkung von Unkosten etc. Schichtarbeit der härtesten Sorte, weil wegen des Sachzwangs der Kalkulation natürlich kein Ofen ausgehen darf, bringt auch einigen Zusatzverdienst. Mit der Einkommensquelle Arbeitskraft ist eben jedes Stück Gesundheit (ver)käuflich. Und wenn wesentliche Teile des Lohnes an den bilanzierten Geschäftserfolg "gebunden" werden, besteht über die Verdienstmöglichkeit namens "Leistung" endgültig kein Zweifel mehr. Der Schein, mit dem die alte Idee des Akkords einherging, ist weg. Der Erfolg, den Leistung garantiert, liegt nicht beim Lohn.

7. Die Trennung der Ware Arbeitskraft von den Bedingungen ihres Einsatzes, die ihr als Kapital gegenübertreten, hat ein unübersehbares Ergebnis: Je brauchbarer die Lohnarbeit für die Geschäftsbedürfnisse zugerichtet wird, desto unbrauchbarer wird sie als Mittel des Arbeiters. Die Ausübung seines Berufes gerät ihm zum Verbrauch seiner Arbeitskraft, als deren Personifizierung er lebt. Dabei ist die Notwendigkeit des Lohnes, dessen Höhe das Kapital an seinem Wachstum bemisst, der Hebel zu einer dauerhaften Erpressung. Sie zielt auf die Verausgabung abstrakter Arbeit - auf die stunden-, tage-, jahrelange Leistung, möglichst viel zu schaffen ohne Rücksicht auf das Wie und Was. Denn die Geschäftsartikel wie die gesamte Betriebsplanung und -kalkulation des Unternehmens sind nicht Sache des Arbeiters. Seine Sache ist es, sich daran zu bewähren, was diese Kalkulation ihm an Arbeits- und Lohnverhältnissen beschert.

Ein Gesichtspunkt dieser Kalkulation hat mit der quasi vollständigen Anpassung des Arbeitsablaufs an die technische Organisation des Betriebs, die Rentabilität garantiert, an Bedeutung gewonnen. Die Ausnützung der Kosten, die die Unternehmen für ihre Anlagen aufbringen, hat nun endgültig keine Schranke mehr an irgendwie gearteten Fähigkeiten der Belegschaft. Andererseits erledigt ein herkömmlicher Schichtplan nicht das leidige Problem, das einem auf dauerhafte "Auslastung" bestehenden Unternehmen mit den überkommenen Arbeitszeitregelungen erwächst. Also vertragen die teuren Maschinen einfach keine Unterbrechung ihrer Anwendung, die mit dem christlichen Wochenende trotz gelegentlicher Sonderschichten noch zu häufig vorkommt. Fällig ist die Einführung von betriebsspezifischen Arbeitszeitmodellen, damit endgültig kein Rad mehr stillsteht, solange die Bilanz es nicht verlangt. Das hat den modernen Leistungslöhnern eine Errungenschaft namens flexible Arbeitszeit eingebracht, die ihren Stundenplan mit regelmäßiger Unregelmäßigkeit gestaltet, weil der Bedarf des Betriebs allein ausschlaggebend ist.

Auch diese Neuerung, die das Regime der Lohnarbeit gemäß ihrem Zweck vervollkommnet, ist unter einem Titel in die Arbeitswelt gekommen, der mit der Sache nichts zu tun hat. Das Gebot der Flexibilität wurde als Angebot zur Verkürzung der Arbeitszeit verkauft, nachdem die Gewerkschaften im Namen der Arbeitslosen einige Tarifrunden lang gequengelt hatten. Seitdem gibt es tatsächlich durchschnittliche und rechnerische Wochenarbeitszeiten, die verringert sind gegenüber vorher, und wirkliche Tages-, Wochen- und Monatsarbeitszeiten, die vom Durchschnitt abweichen, damit sich der für den flexiblen Arbeitsmenschen auch irgendwann ergibt.

8. Es wäre ungerecht, die Chancen zu verschweigen, die Lohnarbeitern in einer Arbeitswelt offenstehen, in der die Arbeitsplätze über die geforderte Leistung und den gewährten Lohn entscheiden. Wenn Kapitalisten aus Gründen, die in der Berechnung ihrer Lohnkosten liegen, eine Hierarchie der Arbeitsplätze schaffen und keine Gleichmacherei zulassen, dann haben Arbeiter auch das Interesse, weiter nach oben zu kommen, und die Möglichkeit dazu - allerdings auch die, weiter unten zu landen. Auch wenn sie bei der Gestaltung der Arbeitsplätze nichts zu melden haben, weil diese Verantwortung von Rationalisierungsfachleuten ihres Betriebes oder gleich von McKinsey wahrgenommen wird, so liegt es doch an ihnen, sich als geeignet zu erweisen. Geeignet für einen Arbeitsplatz, von dem man durch ein Zeitungsinserat erfährt oder für einen anderen, den es im eigenen Betrieb gibt und der frei wird.

Da heißt es sich auszeichnen - auch wenn die Arbeitsplätze für persönliche Glanzleistungen eigentlich wenig Raum bieten -, und zwar so, dass die entscheidenden Figuren, die Overlooker, die es ja trotz allem Teamwork- und Mitarbeiter-Geschwätz auch noch gibt, es auch merken. Im modernen Betrieb sind - je weniger es auf besondere Fähigkeiten und Fertigkeiten in der Routine der täglichen Verrichtungen ankommt - inzwischen sehr seltsame Fähigkeiten gefragt. Vom Einstellungsgespräch bis zum Auftreten bei Vorgesetzten, Kunden und seinesgleichen versprechen die feinen Künste der Selbstdarstellung Erfolg. Demonstrierte Souveränität, Selbstsicherheit, Zurückhaltung, Entschlossenheit und so Zeug haben ihren festen Platz, wenn es um den für die Personalauswahl entscheidenden Beweis einer Kompetenz geht, deren ganzer Glanz in der Bewältigung von Notwendigkeiten besteht, die mit der technischen Organisation und der innerbetrieblichen Arbeitsteilung feststehen. Einmal eingestellt und an einen Arbeitsplatz gestellt, wahrt man seine Aufstiegschancen, die durch den aktuellen Platz in der Hierarchie schon ziemlich eindeutig definiert sind, schlicht durch die zuverlässige Ausfüllung des Postens, den man innehat. Fähig und willig, nicht zuletzt gesund zu bleiben, kann nie schaden, auch wenn es schwer genug fällt; der Vergleich mit anderen wird von den dazu Befugten allemal angestellt. Der Einbildung, die Ergebnisse der immer wieder mal fälligen Auslese würden sich einem persönlichen Verdienst verdanken, steht nichts entgegen, gerade weil die Freiheit der Unternehmen bei der Vergabe von Verdienstmöglichkeiten feststeht.

Als lohnend gilt auch die Bereitschaft zum Lernen, mit dem manche freilich etwas spät anfangen, nachdem sie gemerkt haben, dass sie wegen mangelnden Eifers in den Ausbildungsstätten der Nation in den Niederungen der Lohnarbeit gelandet sind. Die Frage ist nur, ob ein EDV-Kurs eine angenehme Arbeit und guten Verdienst gewährleistet oder einfach zur Anforderung an einem Arbeitsplatz gehört, für den sich tausend andere auch bereithalten.

Leider versagt das Mittel, sich durch die eigene Tüchtigkeit und Anpassung an die entsprechenden Arbeitsplatzangebote für deren Besetzung als der geeignetste Mann anzubieten und dadurch zu verbessern, mindestens genauso oft, wie es hinhaut. Einerseits in dem unausweichlichen Normalfall, dass genügend Gleichgesinnte auch das Ihre getan haben und die Instanzen, die über den Zugang zu einem Arbeitsplatz entscheiden, bedauernd mitteilen, dass dem Angebot an Qualifikation einfach keine Nachfrage gegenübersteht. Wenn also wieder einmal herauskommt, dass die nützlichen Arbeitsplätze samt ihrer Hierarchie den Maßstab für die Brauchbarkeit der Arbeitskräfte und ihre Anstrengungen, sich brauchbar zu machen, bilden und nicht die Brauchbarkeit von Hinz und Kunz mit einer Beschäftigung honoriert wird, auch wenn Hinz und Kunz sich für diese Perspektive mit ihren Ausbildungsanstrengungen mehr oder weniger vereinseitigt haben. Andererseits scheitern auch "qualifizierte Mitarbeiter" dann, wenn von Rationalisierungsmaßnahmen keineswegs nur oder vornehmlich die untersten Stufen der Hierarchie betroffen sind. Das hindert zwar einen Wirtschaftsminister nicht daran, dem nationalen Arbeitslosensockel mit dem wohlfeilen Rat zu kommen, er möchte sich zum kenntnisreichen Facharbeiterstand hinaufqualifizieren, hat aber mit der Lohnkostenrechnung eines Betriebes nichts zu tun. Dass Rationalisierungen gewöhnlich darin bestehen, dass durch die Bedienung neuer Maschinerie weniger Leute mehr produzieren, wobei gleichzeitig die Anforderungen an die Qualifikation der meisten einzelnen, also auch die Lohngruppen sinken, ist ja auch kein Geheimnis.

Die ganzen Veranstaltungen, die von der Umschulung für einen bestimmten Arbeitsplatz, den man gar nicht besitzt, bis zu dem Qualifikationsmerkmal "Mobilität und Flexibilität" gegenüber den wechselnden Anforderungen der möglichen Arbeitsplatzangebote reichen, laufen schlicht darauf hinaus, dass Lohnarbeiter, selbst wenn sie es zum Angestellten gebracht haben, keine andere Chance haben, als sich anzupassen. Das kann man von ihnen erwarten im Kapitalismus, auch und gerade dann, wenn ihren Bemühungen auf dem Arbeitsmarkt kein Erfolg beschieden ist. Selbst über eine angepasste Manövriermasse an Arbeitskräften fällt der Bedarf des Kapitals sein Urteil. Und die Produktivitätssteigerung, die mit den glücklichen "Besitzern" von Arbeitsplätzen veranstaltet wird, senken diesen Bedarf und bereichern den Arbeitsmarkt mit zusätzlichen Anwärtern auf eine Anstellung, die in den Augen der Öffentlichkeit ein "Problem", aber keinesfalls eine Reservearmee darstellen, die dafür sorgt, dass dem Kapital für seine wohlfeile Auswahl genügend arbeitswilliges und -fähiges Volk zur Verfügung steht. Das macht den Personalbüros die Auswahl leichter, den "Arbeitsuchenden", aber auch denen, die schon eine Arbeit "haben", ihre Zukunftsperspektiven auf eine Anstellung - und zwar egal, welche - endgültig zu einer höchst unsicheren Sache.

Das ist für viele der Grund, sich höchst realistisch Rechenschaft darüber abzulegen, dass sie aus eigener Kraft ohnehin nicht viel bewirken können, was die Gestaltung ihrer Arbeit und ihren Platz in der Hierarchie der Lohnarbeiten betrifft. Sie bescheiden sich mit der Wahrnehmung eines letztlich alles entscheidenden Unterschieds. Des Unterschieds zwischen Lohnarbeitern, die das Glück haben, eine Beschäftigung zu haben, und denen, die ausgemustert sind. Kritisch ist dieser Realismus beileibe nicht; auch dann nicht, wenn er im Kielwasser von Gewerkschaft und Parteien in Gestalt einer politischen Forderung daherkommt: Schafft Arbeitsplätze! Eher schon das Eingeständnis, dass Lohnarbeiter kein anderes Mittel in der Hand haben, als ihrer Abhängigkeit hinterherzurennen.

d)

Lohnarbeiter, die ihre ganze Karriere lang ihre Zeit und Kraft in den Dienst einer "Wirtschaft" stellen, die ihren Lebensunterhalt den möglichst rentabel zu gestaltenden Kosten zuschlägt, hausen nicht nur daheim - wo sie ihren Lohn verbrauchen - und im Betrieb - wo sie sich verbrauchen -, sondern auch in einem Staat. Und zwar nicht in irgendeinem. Die Nation, deren mehr oder minder stolzes Mitglied sie sind, begegnet ihnen auf Schritt und Tritt als öffentliche Gewalt, die beschlossen hat, was Recht ist und was nicht - und die auch darüber wacht, dass das Recht befolgt wird. So finden sich leibhaftige Arbeiter über ihren Beruf hinaus in der Rolle des Bürgers wieder, der sich, mit einer ansehnlichen Latte von Rechten und Pflichten ausgestattet, mit seinem Staat herumschlägt.

Diesen Umstand pflegen die meisten Menschen zu begrüßen, auch wenn sie das Recht, das ihrer Meinung nach zu oft gegen sie ausschlägt, ebenso oft für ziemlich ungerecht halten. Dabei täuschen sie sich sehr gründlich mit ihrer Auffassung vom Recht, das sie als ein ihnen dank des staatlichen Gewaltmonopols zugestandenes Mittel betrachten; als ein Mittel, das ihnen ihr Fort- und Auskommen sichern müsste. Bevor jedenfalls Lohnarbeiter an die kundige Befolgung von irgendwelchen Rechtsmittelbelehrungen gehen können, sind ihnen durch die Grundsätze des Rechtsstaates schon alle brauchbaren Mittel entzogen. Ein Staat, der sich höchstförmlich dafür entscheidet, dass unter seiner Aufsicht und auf seinem Gebiet "Marktwirtschaft" stattfinden soll, hat nämlich vor seiner Zusicherung, vor Gericht alle Bürger gleich zu behandeln, einige Unterschiede für verbindlich erklärt. Mit dem per Verfassung ergangenen Beschluss, der Reichtum in seiner Gesellschaft sei als Privateigentum zu mehren und in Geld zu beziffern, dessen Gültigkeit er garantiert, leistet der Rechtsstaat nichts Geringeres als die Scheidung seiner Bürger in Klassen. Diese befolgen das Gebot zum Geldverdienen dann gemäß den ökonomischen Mitteln, über die sie verfügen. Genügend Besitz rechtfertigt das Arbeitgeben, das ausgiebige Börsenspekulieren und das Kassieren von Mietzins. Knapper Besitz lädt zum Geldverdienen durch "unselbständige Arbeit", die garantiert "unselbständig" bleibt. Durch Arbeit Eigentum erwerben, geht nämlich gar nicht, wenn Arbeit dazu da ist, fremdes Eigentum zu mehren.

Das staatliche Interesse daran, dass sich sämtliche Mühen von mit allen Menschen- und Bürgerrechten ausstaffierten Lohnarbeitern im Wachstum von Kapital niederschlagen, kennzeichnet die Heimat von Arbeitern als Klassenstaat. Ein solcher verfügt allein durch seine Eigentums- und Geldordnung, dass das nützliche Zusammenwirken von Kapital und Arbeit das Kapital vermehrt - und dass die mit diesem Zusammenwirken verbundenen Gegensätze zu Lasten der Lohnabhängigen gehen, die sie aushalten müssen. Insofern ist die Rede vom Fortschritt, der mit dem Rechtsstaat über die arbeitende Menschheit hereingebrochen sein soll, nicht ganz zutreffend.

Die Liebhaber der effektiven Staatsräson des 20. Jahrhunderts machen freilich der Heimat des freien Lohnarbeiters noch ein zweites Kompliment: Die Verwalter der Marktwirtschaft hätten selbige sozial gestaltet: Mit lauter speziell die Lohnabhängigen betreffenden und berücksichtigenden Maßnahmen, die allesamt Rechtsgültigkeit haben, soll der Sozialstaat das leibhaftige Gegenteil des Klassenstaats darstellen, ihn also überwunden haben.

Das ist merkwürdig, spottet jeder Erfahrung und verdankt sich einer eigenartigen Logik: Weil sich der Gesetzgeber mit den besonderen Lebensumständen, Risiken und Opfern der Lohnarbeiter extra befasst und sich allerlei Regeln und Maßnahmen einfallen lässt, die ihre Erhaltung betreffen, soll es diese Klasse nicht mehr geben! Ebenso verwegen mutet die Freude über die Errungenschaften des Sozialstaats an, die sich daraus speist, dass man sich die Lage der Lohnabhängigen ohne sozialstaatliche Betreuung vorstellt. Der unausweichliche, weil beabsichtigte Befund lautet schlicht, dass der die soziale Frage ausmachende Personenkreis ganz schön blöd dastünde. Womöglich könnte er nicht einmal existieren, was ihm mit Sozialstaat immerhin möglich sei.

Dann wird es darum wohl auch gehen, wo immer der Sozialstaat sein angeblich so segensreiches Wirken entfaltet - und das ist eigentlich überall, wo das einfache Volk sich dem Arbeitsleben widmet. Nichts anderes bildet den Ausgangspunkt staatlicher Berechnungen - von denen die wichtigsten auf den notorischen Arbeiterfreund Bismarck zurückgehen - als die Gewissheit über die unvermeidlichen Wirkungen der Lohnarbeit. Diese bringen bei denen, die auf sie angewiesen sind, verschiedene Formen der Unbrauchbarkeit hervor, mit denen sie von sich aus unmöglich fertig werden. Unbrauchbar werden Lohnarbeiter durch den Gang der Geschäfte - den guten, der die Leistung der einen Arbeiter heranzieht, um die Kosten für die anderen überflüssig zu machen, wie den schlechten, der wegen Konkurrenz und Krisen auf ihre Dienste Verzicht übt. Unbrauchbar sind Arbeiter, wenn sie ihr Dienst ruiniert, wenn sie als Kranke und Invalide zeitweilig oder gar nichts mehr zu bieten haben. Unbrauchbar sind sie im Alter sowieso... Für alle diese Fälle, die nicht einmal der bürgerliche Staat für Wechsel- oder Zufälle hält, ist ein Arbeiterhaushalt in einem kapitalreichen Land schlecht bis gar nicht gerüstet. Das und nichts anderes anerkennt der Staat mit seinen sozialen Maßnahmen, und zwar weil es ihn mit seinem Interesse an einem kapitaldienlichen und nicht zuletzt sozialfriedlichen gesellschaftlichen Leben stört. Deswegen, also auch in diesem Sinne schafft er Abhilfe.

Da aus einem mehr oder weniger großen Teil der Lohnarbeiter immerzu unweigerlich pure Opfer der Lohnarbeit werden, organisiert die öffentliche Gewalt ein ständig und von allen Betroffenen zu leistendes Geldopfer, mit dem nach politischen Vorgaben den Unbrauchbaren über die Runden geholfen wird. Das System der Zwangsversicherung verpflichtet eine ganze Klasse auf die Finanzierung derer aus ihren Reihen, die ausfallen und ohne den Verkauf ihrer Arbeitskraft aufgeschmissen sind. Ein stattlicher Teil der in der Nation verdienten Arbeitslöhne wird gesetzlich eingezogen und auf "Sozialkassen" mit je besonderer Zuständigkeit verteilt:

- Die eine bedient das urmenschliche Bedürfnis nach Gesundheit, ohne groß danach zu fragen, welche Lebensbedingungen - außer Rauchen und "ungesunder Ernährung" - dieses kostbare Gut dauernd beeinträchtigen und wofür es fortwährend ge- und verbraucht wird. Dafür stellt sie umso mehr in Rechnung, dass es wie jedes Gut in der Marktwirtschaft seinen Preis hat, und zwar einen, den das krankenkassenpflichtige Individuum sich dann schon gleich nicht leisten kann, wenn es eine Krankheit zu kurieren hat. Deswegen organisiert die Kasse ja eine kollektive Kaufkraft für Arzneien, Krankenhausbetten und die Dienstleistungen von Ärzten, Apothekern und Schwestern. Und außerdem ein System von Zuzahlungspflichten des Patienten, die dafür sorgen, dass Leute, die ihr Lebtag mit ihrer Gesundheit, ihrem wichtigsten "human capital", verschwenderisch umgehen müssen, wenigstens bei der Kompensation der unausbleiblichen Schäden Sparsamkeit walten lassen.

- Dann gibt es eine staatlich verordnete "Solidargemeinschaft" zwischen benützten und freigesetzten Lohnarbeitern, die streng nach dem Kriterium der bislang bewiesenen und noch zu erwartenden Brauchbarkeit des Arbeitslosen für den Nutzen eines Arbeitgebers verfährt: Die "Stütze", die ein unbeschäftigter Lohnarbeiter braucht, ist ein Anrecht, das erst einmal durch gehörige Beiträge erworben sein will, sich nach Höhe und Dauer an diesen Beiträgen bemisst, also erlischt, sobald es zu lange in Anspruch genommen wird, und durch ein Gnadenbrot abgelöst wird, das bei anhaltendem Misserfolg auf dem Arbeitsmarkt in die sog. "Sozialhilfe", das gesetzliche Kommunalalmosen, übergeht. Ein Recht somit, das gar nicht erst zustande kommt, wenn einer als Arbeitskraft nicht nachgefragt wird, und das durch seinen Gebrauch verwirkt wird. Am Ende sitzt der Mensch ganz sozialrechtsförmlich in der Scheiße, so als wäre sein Scheitern am kapitalistischen Arbeitsmarkt eine selbstverschuldete Karriere, mit der er sich aus der vorgeschriebenen Solidarität der Lohnarbeiter herausbegeben hat.

- Genauso kleinlich und nach entsprechend komplizierten Tabellen rechnet die dritte und größte Sozialversicherung der ausgedienten Lohnarbeitermannschaft bis ans Lebensende vor, wie ein jeder in jeder Phase seines Arbeitslebens mit seinem individuellen Einkommen im Vergleich zum Durchschnitt seiner Klasse dagestanden ist und was er sich damit, so als hätte das immer nur an ihm und seiner freien Entscheidung gelegen, an Anwartschaften verdient hat; dementsprechend verhält sich dann nämlich seine Rente zum Durchschnitt. Wie hoch dieser ausfällt, bestimmt sich andererseits nach einem Grundsatz, der für den kapitalistischen Staat sonst nie, bei seinen Sozialkassen aber immer gilt, nämlich dass "nicht mehr ausgegeben werden kann, als eingenommen wird": Was nach der jeweils gültigen Formel vom Lohn weggenommen wird, stellt die Obergrenze für die Summe aller Rentenzahlungen dar; reicht das nicht hin für den Lebensunterhalt, den die Regierung dem Durchschnittsrentner zubilligt, wird vom Lohn entsprechend mehr verstaatlicht. Das Ganze wird daher auch "Generationenvertrag" genannt, zeugt allerdings mehr von der Entschlossenheit des Staates, auch den unbrauchbar gewordenen Teilen der Arbeiterklasse keine Mark zum Leben zukommen zu lassen, die sich nicht zuvor nach allen Regeln der Geschäftemacherei und gemäß deren nationalen Konjunkturen für den Kauf von Lohnarbeit gelohnt hat.

Auch und gerade als Sozialstaat sorgt also die politische Gewalt der kapitalistischen Gesellschaft sorgfältig dafür, dass der Reichtum der Nation nicht für Bedürftige missbraucht wird und von der Welt der Armut, der produktiven wie der nicht mehr nützlichen, getrennt bleibt. Die Lohnsumme, also die entlohnte Arbeit wird für deren Opfer haftbar gemacht. Dass das auch so gemeint ist, stellen Sozialpolitiker und Unternehmerverbände immer wieder einmal mit der beliebten Rechnung klar, wie erfreulich niedrig der Lohn überhaupt sein könnte, wenn man seinen verstaatlichten Teil gleich weglassen dürfte. Es geht eben gar nicht um Linderung, geschweige denn Behebung von Armut, sondern um ein staatliches Regime darüber. Und dessen Leitfaden ist nicht Hilfe zum Lebensunterhalt, sondern Gerechtigkeit - also eine Einsortierung der Bedürftigen in den gesetzlichen Leistungskanon, die an deren Notlage nur das Nötigste verändert. In diesem Sinn wird die Bedarfslage der "sozial Schwachen" sowohl über einen kollektiven Kamm geschoren als auch in ihre individuellen Schranken gewiesen.

Das ist die Leistung, also wohl auch der Zweck der sozialstaatlichen Fürsorge: Sie überlässt die Armut nicht dem kapitalistischen Auf und Ab, das sie erzeugt, sondern organisiert ihre Herstellung nach Recht und Verdienst; nach vollbrachter Tat definiert sie dann eine Armutsgrenze, die nicht die Armut begrenzt, sondern festlegt, dass mehr als die Hälfte vom nationalen Durchschnittseinkommen gar nicht schlecht ist, weniger allerdings für viele normal. Ein Moment von Hilfe ist darin durchaus auch enthalten: Der Sozialstaat verhilft allen, die und soweit sie seiner Definition von Sozialfällen entsprechen, zu der Möglichkeit, sich dem Lebenszweck zu verschreiben, den im Kapitalismus jeder für normal hält, nämlich für einen Arbeitgeber verfügbar und nützlich zu sein und am Ende brauchbar gewesen zu sein - ob daraus etwas wird, ist eine ganz andere Frage. Der nationalen Wirtschaft verhilft er damit zu einer verfügbaren und brauchbaren Lohnarbeiterklasse, und zwar garantiert. Das ist die in der Demokratie erforderliche Mehrheit, die ihren Lebensunterhalt nicht nur durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft verdient, sondern auch über alle Konjunkturen des Geschäfts, über alle schädlichen Wirkungen ihres Dienstes hinweg, bei allen laufenden Einschränkungen ihrer Arbeitsfähigkeit und Anwendung, trotz der bedingten Tauglichkeit, die ihrem einzigen Lebensmittel Arbeitskraft anhaftet - verfügbar und brauchbar zugleich bleiben soll: für Lohnarbeit, die freie Unternehmer zu ihren Bedingungen nachfragen, denen sich die Exemplare dieser Klasse von sich aus gar nicht gemäß machen können. Der Staat schafft es, die national erwünschte Größe und Beschaffenheit dieses Kollektivs zu erzeugen, ganz gleich, ob er "den Sozialstaat" auf-, ab- oder umbaut. Der internationale Vergleich gibt Auskunft über die Spielräume, die er dabei sieht; und nebenher auch über die Rücksichtslosigkeit gegen ganze Völker der "Dritten Welt", die zwar in den kapitalistischen Weltmarkt einbezogen, für ihn aber gar nicht produktiv benutzt und deswegen auch nicht weiter sozialstaatlich betreut werden.

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Darüber, was Lohnarbeiter an modernen Arbeitsplätzen das ganze Jahr und das nächste schon wieder leisten, wird in der besten aller Gesellschaften wenig Aufhebens gemacht. Nur an gewissen Feiertagen und in historischen Stunden, wenn die Führungskräfte der Nation auf ihre Erfolge stolz Rückschau halten, wird auch ein dankbares Murmeln vernehmlich, das dem Fleiß der deutschen Männer gilt.

Mehr schon ist die Rede davon, was sich Lohnarbeiter leisten können. Durchgesetzt hat sich die Auffassung, dass es sich dabei um eine ganze Menge handelt, und sie eigentlich alles haben, was sie brauchen. Nachdem ein deutscher Kanzler einmal mit der Losung in den Wahlkampf gegangen ist: "Das deutsche Volk ist verwöhnt!", haben sich die Sozialpartner noch gründlicher als zuvor an die Devise gehalten, dass mehr Lohn gar nicht nötig ist. Der in Tarifrunden aufkommende Eindruck, dass es für Lohnabhängige doch so etwas wie einen (Nachhol-)Bedarf an Einkommen, Freizeit und "Lebensqualität" gibt - ein Bedarf, den die "Sachzwänge" dann immer nicht zu befriedigen gestatten -, verschwindet regelmäßig, wenn es um die öffentliche Beantwortung der Frage geht: Wie steht es mit dem Lebensstandard der Leute? Der ist nach allgemeiner Auffassung - hoch.

Dieses erfreuliche Ergebnis resultiert freilich nicht aus einem Lohnstreifen, dem die guten Leute ein rundum zufriedenstellendes Maß an Wohlbefinden und Genüssen zu verdanken hätten. Vielmehr handelt es sich bei dem Befund um die Folgen eines Vergleichs, der gleich mehrfach vorgenommen wird und das Leben von Lohnarbeitern auf wundersame Weise versüßt. Dieser Vergleich ist so billig, dass ihn sich sogar viele Lohnabhängige erlauben. Zur Verfügung stehen als kostenloses Material zunächst all diejenigen, für deren Arbeitskraft die Arbeit gebende Geschäftswelt gerade keine Verwendung hat. Ihnen gegenüber hat es Otto Normalverdiener auf jeden Fall gut getroffen, denn er "hat" einen Arbeitsplatz und fährt jeden Tag im Auto hin. Genauso unbestreitbar fällt der Vorteil aus, wenn der Blick ins nahe oder ferne Ausland schweift, wo die guten Taten des weltweiten Arbeitgebertums sehr drastische Wirkungen zeitigen: Im internationalen Maßstab weisen proletarische Lebensumstände dann klare Anzeichen von Wohlstand auf. Dieselbe Diagnose vermag auch die bisweilen noch anwesende ältere Generation beizusteuern - im Verhältnis zu früher und sogar zum Krieg, als die Leute enorm schlecht dran waren, kann von Armut heute nicht die Rede sein.

Geschichte und Gegenwart bieten für dieses Verfahren genug Hungerleider an, so dass für Zufriedenheit gesorgt ist. Die Unzufriedenheit, die sich durch einen Vergleich ergeben könnte, der sich am Reichtum orientiert, den die Herren Lohnarbeiter schaffen und merkwürdigerweise in anderen Händen antreffen, ist erledigt. Gänzlich unangemessen ist von daher eine Beurteilung des "Wohlstandes" vom Standpunkt der Bedürfnisse, die sich bei einem modernen Lohnarbeiter aufgrund seiner Arbeit und ihrer den Markt bevölkernden Produkte einstellen.

Das Leben von Lohnarbeitern, das für Angehörige eines abhängigen Standes so erstaunlich viel bieten soll, fängt an, wenn er seine Arbeit hinter sich hat. Ausgestattet ist er mit freier Zeit und einem Lohn, mit dem er sich ganz ohne Bevormundung auf dem Markt der Marktwirtschaft bedient. Über Beschränkungen, denen er unterliegt, unterrichtet ihn kein Herr und keine Behörde, und die Lehren der öffentlichen Moral, die davon künden, was sich gehört, braucht er nicht zu beherzigen. Seine Ausstattung, der Markt und die Fürsorge des Sozialstaats - sonst nichts - lassen ihn jedoch einige Notwendigkeiten spüren, wenn er sich an die Ausgestaltung seiner Freiheit macht.

Das Soziale an der Marktwirtschaft macht ihm weiter keine Schwierigkeiten; ebenso wie die Rechtsordnung, auf die er nun einmal angewiesen ist, hält ihn der um seine Sicherheit bemühte Staat eigentlich nur dazu an, den Unterschied zwischen Brutto- und Nettolohn zu beachten. Mit einem korrekt gelesenen Lohnstreifen kann er seine Freiheit nutzen. Zu der gehört erst einmal eine Basis, von der aus er operieren kann. Die Wohnungsfrage wird mit einem bescheidenen Viertel oder Drittel seines Einkommens gelöst, und was das Wohnen selbst betrifft, so bieten Elektrizitätswerke günstige Tarife und Möbelhäuser lauter praktische Dinge an, mit denen er sein Heim vollstellen kann. Selbst Kleidung und Nahrung hält der freie Markt bereit, so dass nichts mehr schiefgehen kann, wenn er sich sein Geld geschickt einteilt. Wenn es für die Anschaffungen, die er braucht, nicht reicht, steht es ihm frei, auf sie zu sparen. Dann kriegt er sie später; vorausgesetzt, er gibt sein Geld nicht für andere Dinge aus, nach denen ihm der Sinn steht. Die auf diese Weise eröffneten Beziehungen zur Bank, die ihn mit Kontoauszügen auch darüber auf dem Laufenden hält, wieviel Geld noch übrig ist, kann er jedoch auch anders ausschlachten. Um das Warten auf die Gegenstände seiner Wahl zu vermeiden, kann er sich verschulden und hinterher sparen. Da dies bei den laufenden Kosten nicht immer ganz einfach ist, wird manchem der große Batzen, den die Miete verschlingt, zum Problem. Aber auch dafür hält der Markt ein Angebot bereit. Durch eine Periode regelmäßigen Sparens und anschließender Verschuldung ist er in der Lage, selbst zum Haus- und Grundbesitzer zu werden. Für eine quasi lebenslängliche Verpfändung seines Lohnes kommt er in den Genuss, ein halbes Leben lang keinen Mietzins zahlen zu müssen. Die Zinsen für den Kredit sind jedenfalls viel niedriger und am Schluss gehört ihm ein eigenes Heim.

Man sieht, dass es geht, als Lohnarbeiter in der Marktwirtschaft sein Leben zu meistern. Jedenfalls gibt es Lösungen für alle Probleme, die sich bei der Einrichtung der Lebensbedingungen auftun. Es darf nur beim Arbeiten, wo der regelmäßige Verdienst herkommt, nichts dazwischenkommen. Dies wiederum ist eine Frage, die sich über wirtschaftliche Konjunkturen und die Erfolge des Betriebs entscheidet, in dem einer sein Geld verdient. Was der Lohnarbeiter dazu beitragen kann, um die einschlägigen Risiken zu mindern, betrifft seine Lebensführung; die muss ihm gestatten, seine Leistungsfähigkeit für die bleibenden und wechselnden Anforderungen des Berufs zu bewahren. Aber dies trifft sich ja glücklicherweise mit seinem Bedürfnis, seine Freizeit erholsam und gemütlich zu verbringen, wie es sich nach den Anstrengungen im Betrieb gehört. Deswegen achten moderne Lohnabhängige darauf, dass ihnen ihre Freizeit nicht gleich wieder unnötige Mühen bereitet. Zur Vermeidung des zeit- und kraftaufwendigen Umgangs mit Kernseife und Waschbrett schaffen sie sich eine Waschmaschine an; um keine verdorbenen Lebensmittel zu essen, stellen sie einen Kühlschrank auf, der ganz nebenbei als Lager für Vorräte dient, die einen Haufen Beinarbeit beim Einkaufen sparen. Ebensolche günstige Wirkungen gehen vom Besitz eines Automobils aus; es erspart lange Fußmärsche zur Arbeit, verkürzt die Verlängerung der Arbeitszeit, die der Weg zu und von der Stätte des Geldverdienens mit sich bringt, und erleichtert das sparsame Einkaufen in Großmärkten, was bei so vielen Auslagen unbedingt erforderlich ist. Die Kosten für das teure Fortbewegungsmittel müssen zwar aufgebracht werden, lassen sich aber einerseits mit Sparen und Schulden bewältigen, andererseits gegen die Ausgaben aufrechnen, die öffentliche Verkehrsmittel verursachen würden.

So gelangen Lohnarbeiter, die aus ihrer Freizeit das machen wollen, was der Name sagt, schon zu einem ansehnlichen Hausstand, der die chronische Geldnot erzeugt, die sie beim Arbeiten ein Leben lang so gefügig macht. Immerhin aber verfügen sie damit über die Bedingungen eines angenehmen Lebens, und die sind den Aufwand eben wert. Was das Ausnützen dieser Bedingungen angeht, so steht dem außer dem gründlich strapazierten Geldbeutel eigentlich nichts im Wege. Mit der Regelung der Notwendigkeiten der zweiten Ordnung kann gelebt und gewohnt werden, dass es nur so kracht. Solches Anspruchsdenken richtet sich - was ganz natürlich ist - bei vielen Lohnarbeitern auf das andere Geschlecht. Nicht so natürlich ist die Verwandlung der Liebschaften in lauter staatlich geschützte Lebensgemeinschaften, die wegen ihrer Ordnung durch Rechte und Pflichten zurecht "Bindung" genannt werden. Ob diese Art, sich einen dauerhaften Gefährten zu leisten, mehr Vor- oder Nachteile mit sich bringt, fragen sich die von ihrer freien Entscheidung Betroffenen ebenfalls zurecht. Dass die Gründung einer Familie schon wieder eine Geldfrage ist, respektiert sogar der Staat mit einer extra Steuerklasse, aber auch mit Regelungen für den Streitfall. Warum es in Ehen zu hässlichen Szenen kommt, die des öfteren bis zur Scheidung gehen, interessiert den Gesetzgeber nicht, weil er nur verletzte Rechte kennt, nicht aber den programmierten Interessengegensatz in der Familie; die fängt nämlich mit der Zuneigung zwischen den Geschlechtern nur an - ihre Abwicklung gleicht mehr einem Dienstverhältnis. Immerhin soll der Partner vom schwachen Geschlecht eine starke Leistung bringen. Durch seine Arbeit und den in die häuslichen Lebensbedingungen investierten Verdienst hat sich der Arbeitsmann schließlich die Sphäre geschaffen, in der es endlich um seine Bedürfnisse geht, wo der Sinn seiner Mühen liegt und er für diese entschädigt wird. Und diesem Recht können selbst Frauen mit ihrer sprichwörtlichen Opferbereitschaft - das ist die Eigenschaft, die ihnen wegen des Dienstes an der Familie angedichtet wurde - nicht entsprechen. Erstens haben sie auch selbst Interessen und Bedürfnisse, die unter ihrer Rolle etwas leiden. Zweitens ist die Haltbarkeit der wechselseitigen Zuneigung im Rahmen des Haushalts, zu dessen Führung die Ehe gerät, äußerst zweifelhaft. Drittens bleibt von der auf Gemütlichkeit berechneten Veranstaltung nicht viel mehr als eine Bewältigung von Organisations- und Geldfragen übrig, die mit dem Nachwuchs zunehmen. Und der Weg zurück in ein gefühlsgeladenes Miteinander - das Ideal der allgegenwärtigen Eheberatung durch Psychologen, Briefkastenonkel und "Bild"-Zeitung - ist auch dann nicht gefunden, wenn die Frau auch noch für die gemeinsame Sache arbeiten geht, was "Eigenes" statt nur den Haushalt hat und auf "Anerkennung" dringt. So steuert die frei eingegangene "Bindung", die so gut wie kein Lohnarbeiter missen will, zielstrebig auf den Charakter einer mit Belastungen aller Art versehenen Zwangsgemeinschaft zu. Die kann entweder von den Beteiligten ausgehalten werden, indem sie am Moralismus ihres Vertrags festhalten und einfach für "die Familie" da sind; oder indem sie sich Rechenschaft darüber ablegen, dass alles andere auch nichts taugt und nichts Besseres nachkommt, dass die moralischen und materiellen Kosten einer Trennung auch nichts für sich haben. Oder sie lassen es krachen, tragen den Streit um besagte Kosten auch noch aus, bereichern sich um ein paar schlechte Erfahrungen und werden sonst ein bisschen ärmer.

Aus dieser Normalform der Lebensgestaltung, die in lauter Einschränkungen mündet, haben ideologische Betreuer des Lebens in der freien Marktwirtschaft Kapital geschlagen. Pfaffen, Psychologen, Sexualaufklärer und Feministen kommen groß ins Geschäft, wenn es um Liebe, Treue, Seitensprung und Unterdrückung geht. Währenddessen ist der Lohnarbeiter - ob er sich nun die entsprechenden Tipps reinzieht oder nicht - damit befasst, die Zwänge seines Berufes um die Genüsse der Freiheit zu ergänzen, sich Erlebnisse zu verschaffen, durch die sich seine Arbeit als lohnend erweist. Auf der Suche nach Vergnügungen wird er - verheiratet oder ledig - allemal fündig, weil der "Markt" auf seine Kaufkraft berechnet ist und für Geld einfach alles bietet. Unterhaltung der bequemen Sorte ist das mindeste, was er verlangen kann, zumal der Verschleiß in den nerv- und kraftraubenden Betrieben Anstrengung genug verursacht, so dass eine Freizeitbeschäftigung, die schon wieder Konzentration und "Disziplin" verlangt, wenig erwünscht ist. Fernsehen und Stereoanlage bieten da für ein paar Tausender das Passende. Fürs erste kann er in seiner guten Stube "Don't worry, be happy!" oder "Freunde, das Leben ist lebenswert" hören, farbige Filme betrachten und sich darüber aufklären lassen, dass und wie er als Staatsbürger auch noch für die politischen Vorhaben seiner Nation gradezustehen hat. So kriegt er auch ganz ohne Studium, das ihm in seiner Karriere versagt blieb, mit, wie wichtig und notwendig freie Wahlen sind. Er nimmt - auch durch die Lektüre einer Zeitung mit großen Buchstaben und Bildern drin - Anteil an den Sorgen und Leistungen derer, die es zu etwas gebracht haben. Von nichts ist er ausgeschlossen - ideell zumindest ist er befugt, durch die Bildung seiner Meinung am Rechten und Richten in der großen Welt teilzunehmen. Da es dabei in den auf ihn zugeschnittenen Formen der Unterhaltung bisweilen etwas roh und primitiv zugeht - weil ihm die gebildeten Produzenten der Branche nichts anderes zumuten -, zieht er sich auch noch den Befund zu, von Haus aus einem ungebildeten, dummen Menschenschlag, eben der " Masse" zuzugehören. Wenn er sich gegen diesen Ruf verwahren will, steht ihm gegen Geld schon wieder eine Welt höherer Genüsse und Betätigungen offen, durch die er ein Niveau kriegt und sich unterscheiden kann. So ist es dahin gekommen, dass er wirklich von nichts ausgeschlossen ist, was es vom Skifahren bis zum Auslandsurlaub mit Surfbrett gibt - es sei denn, er kann es nicht bezahlen. Der Geldbeutel veranlasst ihn auch immer wieder, sich mit einer gewissen Auswahl zu bescheiden und nicht über seine Verhältnisse zu leben. Zur Vermeidung dieser Sünde ist auch die Beschränkung seiner Zeit hilfreich, die mit seinem Schichtplan gegeben ist. Denn Ausschweifungen rächen sich an seiner Fähigkeit, regelmäßig und leistungsbezogen dort seinen Mann zu stehen, wo er sich die Mittel für sein Leben in Freiheit verdient. Umgekehrt halten es immer mehr Lohnabhängige für angebracht, ausdrücklich "gesund zu leben"; also mit Müsli und gymnastischen Unternehmungen, ohne Fett und Alkohol etc. ihre Freizeit mit ganz viel Verantwortung abzuwickeln. So herrschen sie sich in "ihrem Leben" ein Regime auf, das in auffälligem Kontrast zu den gesundheitszerstörenden Leistungen steht, die ihnen in Fabrik und Büro abverlangt werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Lohnarbeiter weder in einer "Konsum-", noch in einer "Leistungsgesellschaft" leben. Vielmehr im Kapitalismus, in dem es auf ihre Leistung enorm ankommt. So sehr, dass sie in der Sphäre ihres Konsums mit jeder Wahrnehmung der ihnen gewährten Freiheit die Folgen ihres beruflichen Einsatzes zu spüren kriegen. Und sich lauter Notwendigkeiten stellen müssen, die sie mit dem Haushalten mit Zeit und Geld, Kraft und Gesundheit konfrontieren; so dass sie mit ihren Einteilungskunststücken an der Welt der Genüsse bei allen Unterschieden immer nur in dem Maße teilnehmen, das ihre Fähigkeit und ihren Willen erhält, ihrer Lohnarbeit nachzugehen. Für alle die Mitglieder der arbeitenden Klasse, die diese Reproduktion ihrer Arbeitskraft vergeigen, denen die Kombination aus Leistung und Einteilung nicht gelingt, ist - wie für die anderen zur Unbrauchbarkeit Verurteilten dann selbst im Kapitalismus das Etikett "arm" fällig. Wer unter Beteiligung an einer Veranstaltung namens "Massenkaufkraft" den Normalgrad nützlicher Armut bewältigt, repräsentiert "Wohlstand". Im Vergleich zu...

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Über die Leistung der Gewerkschaften, in denen Lohnarbeiter ihre Vertretung haben, sagen diese selbst alles Nötige. Sie rechnen es sich und ihrer Aktivität an, dass die Lohnarbeit so produktiv und wachstumsfördernd und kaufkräftig funktioniert, wie sie es tut. Und sie kümmern sich aufgeregt um Armutsstatistiken, mit denen sie beweisen, wie dringend Gewerkschaften gebraucht werden. Sie beherrschen alle Vergleiche, um das "gute Los" derer, die sie vertreten, als ihr Werk herauszustellen. Und die anderen, die auch sie arm nennen, gehen nicht auf ihr Konto. Dabei ist nichts im Regime der Lohnarbeit, keine Regelung von Arbeitszeit und Freizeit, von Leistung und Einkommen, also auch keine Wirkung auf den Arbeits- und Sozialfällemarkt ohne ihre Mitwirkung zustande gekommen.