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Dieser Artikel ist in der MSZ 5-1990 erschienen.

Systematik

Das Ende des jugoslawischen Staates
EIN NÜTZLICHES CHAOS IM NEUEN EUROPÄISCHEN HINTERHAUS

Die Jugoslawen schaffen es wahrscheinlich als erste, ihren Staat auseinanderzuhauen. Natürlich gefällt sich der bildungsbürgerliche Verstand, so wie er in den Redaktionsstuben herumhockt, im Ziehen von Parallelen. Gab es nicht schon einmal einen ziemlichen Aufruhr, der mit einem Attentat in Sarajevo losging? Weiß man nicht um die Gefahr, die vom "Pulverfaß Balkan" für ganz Europa ausgeht? Die Parallele wird gesucht, um sie zu verwerfen:

"Heute indes, im Zeitalter der Entspannung zwischen den Supermächten fällt Jugoslawien, so jedenfalls scheint es, in der Ost-West-Balance kaum mehr ins Gewicht. Europa zittert nicht mehr, wenn es da hinten auf dem Balkan scheppert und die Völker dort einander an die Gurgel gehen." (Süddeutsche Zeitung, 25.9.)

Im "Zeitalter der Entspannung" ist es eben so, daß der Begriff des "Machtvakuums" ziemlich aus der Mode gekommen ist: In dem Moment, wo es entsteht, ist es auch schon weg - nämlich durch die sehr einseitige "Auffüllung" durch jene Macht, die der Freie Westen (und speziell für den Ostblock: Europa) heißt. Auf die Idee, daß die östliche Supermacht sich noch mal einmischen könnte, kommt längst keiner mehr. Insofern ist die Behauptung, Europa zittere nicht mehr, wenn die Völker dort einander an die Gurgel gehen, eher eine Verschleierung: Europa ist zufrieden, weil Nationalitätenstreitigkeiten, bewaffnete Auseinandersetzungen und wirtschaftlicher Niedergang "da hinten auf dem Balkan" so wunderbar in die eigenen Hände arbeiten. Nicht im Traum fiele es 'Europa' ein, sich dort unten einzumischen oder gar dem Volk Vorschriften zu machen. Das Volk macht ja schon alles richtig, wenn es sich in seinen diversen Nationalismen ergeht. Seine im imperialistischen Sinn fortschrittliche Funktion besteht darin, im Namen der Nation die alte Staatsgewalt zu zerstören - das macht es mit Leidenschaft. Es nimmt seine Misere nur unter dem Blickwinkel wahr, den ihm die einheimischen Konkurrenten um die Staatsmacht vortragen: Die widernatürliche, kommunistische Klammer des Zentralstaates habe die Entwicklung des Reichtums der hinsichtlich ihrer Tradition und Landsmannschaft so unterschiedlichen Provinzen verhindert - also liege das einzige Heilmittel in der "Selbständigkeit"; die wiederum ist auch nicht anders definiert als durch die Abschaffung der Zentrale und die Suche nach neuen Bündnispartnern. Westliche Begutachtung begrüßt das mal als berechtigtes Aufbegehren "tief empfundener nationaler Gefühle"; oder fühlt sich bei Gelegenheit auch mal von "plärrendem Chauvinismus" abgestoßen - es ist sowieso scheißegal: Hauptsache, die Jugos kriegen ein anständiges Chaos hin. Die alten Pluspunkte, nämlich Titos frühe Gegnerschaft zur "stalinistischen Vormacht", zählen jetzt nichts; die Einheimischen sind "uns" den Beweis schuldig, daß sie auch noch den letzten Hauch einer kommunistischen Staatmacherei abstreifen. Ein Aufbauwerk wird von ihnen nicht erwartet. 'Europa' hat nämlich keinen Zweifel hinsichtlich der prinzipiellen Nützlichkeit des Zerstörungswerks -

für sich.

Wenn Außenminister Genscher seinen jugoslawischen Amtskollegen besucht, wird dieser ihm wohl seine Nöte vortragen und um Unterstützung aus Europa nachsuchen. Er bekommt sie in Form guter Ratschläge:

"Bundesaußenminister Genscher hat ... Jugoslawien empfohlen, seine Probleme auf demokratischem Wege zu lösen und dabei auf die Minderheiten im Lande zu achten... Die Bundesregierung unterstütze Jugoslawiens Bemühungen um eine Annäherung an Europa. Bonn sei sich der großen Probleme Jugoslawiens bewußt. Die europäische Perspektive sei die beste Art, ihrer Herr zu werden, fügte Genscher hinzu. " (Frankfurter Rundschau, 3.9.)

Zur Lösung jugoslawischer "Probleme" "empfiehlt" der Minister also eine andere Herrschaftsform. Abgesehen davon, daß die Jugoslawen auf diesen Trichter selbst schon gekommen sind, hat diese "Empfehlung" unübersehbar den Charakter, weitere Zersetzung fördern zu wollen. Um was soll es sich denn anderes handeln als um die Aufforderung, beim Gegeneinander der Nationalitäten und bei der Stiftung regionaler Souveränitäten kräftig weiterzumachen? Ein Interesse an "Stabilität" spricht aus den Worten des Ministers gewiß nicht - da wäre ja eher die sonst gern gesehene "starke Hand" angebracht - und recht deutlich sagt er den Jugoslawen, wohin die Reise zu gehen hat: Ohne die schon begonnene "Annäherung" an Europa werden sich die "Probleme" nie lösen lassen - eine andere "Perspektive" gibt es nicht für Jugoslawien. Wieviel diese "Annäherung" taugt, wie weit sie gekommen ist, um Entgegenkommen Europas ihrerseits zu verdienen, beurteilt und entscheidet natürlich nicht Jugoslawien. Der als "Annäherung" definierte Zerfall dieses Staates wird vom Standpunkt des EG-Interesses aus betrachtet, und die EG ist es, die den Schiedsrichter macht: Mit ihren politischen und ökonomischen Zuwendungen entscheidet sie darüber, welches Interesse n Jugoslawien den Titel "Freund Europas" zugesprochen bekommt, sich also durchsetzt. Selbstverständlich nicht ohne skrupulöse Untersuchung unterschiedlicher Reifegrade des "Demokratiebewußtseins"...

Für diesen "Zugriffswillen, der an jedem jugoslawischen Feind des "inneren Friedens" - sei er Monarchist, Faschist, Klerikaler oder bombender Separatist - Gefallen findet, ist eine staatskonstruktive Anstrengung in Jugoslawien unerheblich, ja hinderlich, sei sie auch noch so demokratieversessen und europageil. Dahingehende Verlautbarungen der Politfiguren werden zwar gerne zur Kenntnis genommen, aber jeder Versuch zur Sicherung einer Machtposition wird ungern gesehen. Eine Parteinahme für eine Bewegung oder für eine bestimmte Republik erfolgt nicht, liegt doch im Gegeneinander der Repubtiken die Gewähr, daß sich die EG als quasi naturwüchsiger Nothelfer aufdrängt und gerufen wird. Die nützliche Funktion des Nationalismus besteht also nicht nur in der Zerstörung des Staatszusammenhangs, sondern gerade auch in der Verhinderung einer neue eigenen nationalen Position gegenstellen könnte. Von diesem Standpunkt verteilen sich dann - vorurteilsfrei - die Sympathien.

Schlecht beleumundet ist ein Milosevic, der unter serbischer Führung einen neuen Zentralstaat aufbauen will und mit der Einverleibung des Kosovo schon einen Zugewinn verbuchen kann. Deswegen sind die Albaner im Kosovo, geschweige denn Albanien selbst, noch lange nicht "unsere Freunde" - recht machen sie es aber, wenn sie der "Besatzungsmacht" möglichst viel Widerstand entgegensetzen. Auch Slowenien und Kroatien kriegen Pluspunkte,

wenn sie sich den "serbischen Fürsten" widersetzen, ziehen sich zugleich aber den Verdacht zu, ähnliches wie Milosevic im Schilde zu führen. Und schon hat auch letzterer wieder ein paar Sympathien auf seiner Seite, nämlich als "Gegengewicht" zu den Ambitionen seiner nördlichen Konkurrenten.

Dem EG-Imperialismus vorzuwerfen, er ginge über Leichen wäre in diesem Falle eine Übertreibung. Seine Annehmlichkeit ist, daß das die Jugoslawen - wie die anderen Völker des ehemaligen Ostblocks auch - schon selber besorgen. Nach dem Wegfall der "kommunistischen Klammer" tragen sie einen Kampf um die Anerkennung und Unterstützung durch Europa aus. Die EG weiß sich als Ordnungsmacht, die gar nicht vor Ort zu sein braucht. Für sie handelt es sich beim Zusammenbruch Jugoslawiens allemal um eine produktive Zerstörung: Der dort verfügbare Reichtum, den die ansässige Staatsgewalt nicht mehr an sich binden, geschweige denn fördern kann, wird ihr aus freien Stücken zur "Entwicklung" angeboten; Volk und Herrschaft in Jugoslawien sind sich darin einig und sehen sich jeden Tag mehr bestärkt, daß sie eine andere "Chance" nicht haben. Hierzulande sind Sorgen um den jugoslawischen Schuldendienst ans Ausland - der umfänglich ist - und um die Sicherheit privatwirtschaftlicher Anlagen nicht laut geworden. So wenig ein Maßgeblicher daran denkt, Jugoslawien zu "entwickeln", so sicher ist er sich, daß dort einiges zu holen ist. Die an Jugoslawien vergebenen Kredite haben ja in doppelter Weise ihre Wirkung getan: Sie haben einerseits die Abhängigkeit der nationalen Produktion vom Weltmarkt gestiftet und befestigt, was nicht so schwer, weil ausdrücklicher Wille des jugoslawischen Staates selbst war; sie haben andererseits im Lande etliche produktive Stätten entstehen lassen - Jugoslawien war nie ein Entwicklungsland, das wird es jetzt -, in denen kapitalistische Mitsprache- und Gewinnanteilsrechte reichlich verankert waren und die mit dem Verlust auch der ökonomischen Souveränität des jugoslawischen Staates ihrer "natürlichen" Bestimmung zugeführt werden.

Die passende Form für den Übergang und für die Absicherung des neugewonnenen Einflusses wird die EG sich schon einfallen lassen. Da wird als erstes zu prüfen sein, ob die Nation, die in Europa aufgehen will, auch über ein genügendes Maß an politischer Stabilität verfügt. Zu sichten und zu gewichten ist zweitens die ökonomische Leistungskraft des entsprechenden Gebildes. Denn ein Unternehmen zur Sanierung von Balkanstaaten ist die EG nun wirklich nicht. Dabei muß drittens der Fehler vermieden werden, auf eines der neuen Staatsgebilde zu setzen und darüber die Interessen der Nachbarn und die an ihnen zu vernachlässigen. Denn viertens geht es außerdem noch um einen Rechtsnachfolger für die jugoslawischen Schulden.