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Dieser Artikel ist in der MSZ 5-1990 erschienen.

Altlastenbeseitigung im akademischen Überbau
DER EINZUG DER FREIEN WISSENSCHAFT IN OSTDEUTSCHLAND

Folgt man einer gängigen Selbsteinschätzung des freien Geistes, müßte sich der Export der Wissenschaft ungefähr so abspielen: Im Westen gibt es bekanntlich einen Wettstreit der vielfältigsten Ideen, der sich Pluralismus nennt. Seine Verfechter preisen ihn als eine Art Leipziger Messe im Reich des Geistes und rühmen die freie Konkurrenz der "Erklärungsansätze", die sie ausrichten, um damit all ihre schönen "Modelle" einem angemessenen Leistungstest zu unterziehen. Jahrelang waren die im Osten von diesem Diskurs "abgeschnitten" und mußten eine "Epoche des Niveauverlustes" erleiden, wie man hört. Also, denkt man, nichts wie rüber mit dem Niveau, mit Max Weber gegen Karl Marx, mit der subjektiven Wertlehre gegen die Arbeitswertlehre, mit Idealismus gegen Materialismus... Von wegen! So eine Leistungsshow wird nicht ausgerichtet - sie wird auch von keinem der ehemaligen ML-er überhaupt nur beantragt. Die Wissenschaft Ost kriegt keine Chance, sich mit den Spitzenprodukten West zu messen. Es steht etwas anderes an:

Die Säuberung der Wissenschaft

Ihr widmen sich Gelehrte aus Ost- und Westdeutschland im Gefolge des Wissenschaftsrats, dem im "Vertrag zur deutschen Einheit" die Aufgabe zugeteilt wurde, Forschung und Wissenschaft drüben einer gründlichen "Begutachtung" zu unterziehen. Die Prüfung, was den Namen Wissenschaft verdient, welche Fächer und Forschungseinrichtungen samt Personal staatlich gefördert und finanziert werden sollen, übertragen die politischen Entscheidungsträger dem Gelehrtenstand selber, der es ja wissen muß. Auslese und Erneuerung der Abteilung Geist soll gemäß innerwissenschaftlichen Kriterien stattfinden. Die "Freiheit von Forschung und Wissenschaft" ist ja bekanntlich per Grundgesetz verbrieft, "ideologische Gängelung" von oben unterbleibt.

Wie also säubert man eine Wissenschaft? Die einfache Antwort lautet: Wissenschaft treiben! Die Elaborate auf den Tisch, die Stimmigkeit der Urteile und Theorien prüfen, Fehler kritisieren und die Regale von verkehrtem Zeug säubern. Dieses Verfahren ist merkwürdigerweise von keinem der Beteiligten überhaupt nur in Erwägung gezogen worden. Dabei steht immerhin die Anklage "Legitimationswissenschaft" im Raum. Ein vernichtendes Urteil über den Geist, das einen Nachweis verlangt, sonst bleibt es ein bloßes Vorurteil. Wenn Wissenschaft im Osten Deutschlands wirklich ein ideologischer Dienst an der SED-Herrschaft war, dann hat sich dieser Dienst in die Denkart eingebildet. Dann ist der Beweis fällig und nötig, wie sich in den Bestimmungen der Wissenschaft eine Voreingenommenheit für das Objekt der Untersuchung geltend macht; inwiefern ihre Urteile nicht objektiv sind, sondern nur die Reproduktion einer interessierten Sichtweise, die vor der Beurteilung feststand. Eine wissenschaftliche Säuberung in dem Sinn findet nicht statt. Kundige Geistesgrößen aus dem Land der Freiheit erklären sich unzuständig für die Widerlegung von Gedanken. Es erscheint ihnen ganz und gar überflüssig, den Erklärungsanspruch marxistisch-leninistischer Theorien einer Überprüfung zu unterziehen. Die Notwendigkeit einer Säuberung der Welt des Geistes entnehmen sie nämlich keinem theoretischen Klärungsbedarf, sondern dem Niedergang der einen Hälfte des ehe@als geteilten Deutschland, also einem politischen Faktum. Daß mit dem Verschwinden des DDR-Staatswesens dessen theoretischer Überbau gleich mitabgerissmen gehört; daß mit der SED-Macht ihr Geist zu verschwinden hat, einfach weil er ihrer war, dessen sind sich diese Denker sicher, auch wenn sie nicht angeben könnten, inwiefern er eigentlich ihr Geist war. Umgekehrt gilt also für die Westwissenschaft die Gleichung: Wer im Recht ist, liegt richtig, und zwar in dieser Reihenfolge!

Der Vorwurf "Legitimationswissenschaft"

erteilt der DDR-Wissenschaft eine Absage, die sie nicht für falsch, sondern für befassungsunwürdig erklärt. Sie spricht der östlichen Wissenschaft das Recht ab, sich als auch so ein "Ansatz" im wissenschaftlichen Leben breitzumachen, wie ihn demokratische Denker als Inbegriff einer wissenschaftlichen Leistung kennen und schätzen. Professoren, die sich untereinander ein X für ein U vormachen lassen, wenn nur dazu gesagt wird, daß man nicht mehr vorhat, als eine "interessante" "Annäherung" an die Sache, sind sich in diesem Fall absolut sicher: Marxismus-Leninismus verdient nicht mal eine Behandlung als Hypothese, als immerhin auch denkbare Denkmöglichkeit.

Der Grund für dieses Vorurteil ist eine Sache: Der Marxismus-Leninismus war die Staatswissenschaft eines falschen Staates, den es nicht mehr gibt - schon deswegen paßt er nicht mehr in die Landschaft. Wissenschaftler sehen diesen Zusammenhang allerdings professionell borniert. Sie sehen den Theorien des feindlichen Staates nicht mehr und nicht weniger an, als daß sie nicht auf dem Boden ihrer Zunft gewachsen, nicht nach den Sitten und Gebräuchen ihrer pluralistischen Theoriebildung zustande gekommen sind. Deswegen fällt ihnen für ihr Verdikt über die ehemalige DDR-Wissenschaft ganz von selbst eine völlig unpolitische Begründung ein:

"Mangelnde Qualifikation"

Es zahlt sich hier aus, daß demokratische Wissenschaftler von Haus aus viel Erfahrung darin haben, Beiträge zu ihrer Disziplin zu be- und verurteilen, ohne sich bei ihrer Beurteilung mit so unwissenschaftlichen Gesichtspunkten wie richtig oder falsch aufzuhalten. Die Befassung mit Wissenschaftlern und ihren Werken folgt einem allgemein anerkannten Verfahren: Man mißt sie an den "Standards" der Disziplin. Sind die richtigen und wichtigen "Ansätze", mit denen "man" sich "auseinanderzusetzen" hat, gebührend gewürdigt oder vergessen worden: (Es trifft sich gut, daß sich diese fundamentale Wahrheitsfrage in der Regel schon am Literaturverzeichnis und Fußnotenapparat entscheiden läßt.) Kommt der neueste Stand der Auseinandersetzung mit den allgemein für befassungswürdig gehaltenen "Theorieansätzen" vor? Gelingt es glaubwürdig, den Entschluß zur Borniertheit als "thematische Schwerpunktsetzung" und die eigene Spinnerei als Betreten von "theoretirchem Neuland" vorzuspiegeln ? (Eine wissenschaftliche Grundfrage, die praktischerweise durch das Renommee des Doktorvaters und die Konkurrenz der Zunft entschieden wird.)

So geht Niveau im bürgerlichen Denken. Und daran gemessen blamiert sich automatisch jeder, der in seinem Vorwort die eigenen Erkenntnisse in eine Tradition von Parteitagsbeschlüssen statt von Historiker- oder Germanistentagen einordnet; der in seinem Fußnotenapparat statt den schulbildenden Autoritäten seiner Disziplin eine Autorität des "wissenschaftlichen Sozialismus" zitiert; und erst recht, wer durchblicken läßt, daß er die Lehrsätze des Marxismus-Leninismus als Berufungsinstanz betrachtet hat. So etwas ist ganz einfach nicht professionell.

Daß demokratische Geistesgrößen ihren ostdeutschen Kollegen in früheren Zeiten oft genug durchaus diese sagenhafte Professionalität zugestanden haben, auch wenn in der Interpretation des Nibelungenlieds die fortschrittlichen Produktivkräfte in Gestalt der Bauern eine hierzulande ungewohnte Rolle gespielt haben, irritiert keinen der westdeutschen Profis, die jetzt die wissenschaftliche Säuberung betreiben. Damals war sogar DDR-Wissenschaft insofern respektabel, als es sie immerhin als fest etabliertes Stück deutschen Geisteslebens gab, an dem man nicht einfach vorbeigehen konnte - zumindest dann nicht, wenn man mal nach drüben eingeladen werden wollte. Das hat nämlich schon auch fürs eigene "Niveau" gesprochen. Diese guten Gründe, sich mit einer schon immer befassungsunwürdigen Sache zu befassen, sind jetzt weg; also wird jetzt die Sau rausgelassen. Und niemand hat wissenschaftliche Skrupel, seinen ehedem geschätzten Kollegen auch den politischen Klartext aller wissenschaftlichen Vorbehalte mitzuteilen:

"Ihr habt den Falschen gedient!"

Daß es die Falschen waren, steht sowieso fest. Daß die Kolleginnen und Kollegen von der Schreibtischfront zumindest (mit)verantwortlich zu machen sind, steht für die ideologischen Schreibtischtäter der Demokratie ebenfalls fest. Und damit wird die wissenschaftstheoretische Absage zur moralischen Verurteilung.

Dabei lassen die beamteten Denker aus dem Westen durchaus mit sich reden. Sie erkennen großzügig an, daß es ja wohl auch schwer bis unmöglich war, ohne Bekenntnis zum falschen System in der DDR Karriere zu machen - welcher demokratische Karrierist hätte dafür nicht Verständnis! Das hilft bloß andererseits nichts; denn ein Opportunismus, der auf eine verlorene Sache gesetzt hat, ist nun einmal blamiert. Jedem, der drüben eine Funktion im Wissenschaftsbetrieb bekleidet hat, wird ein verlorener innerer Zweikampf zwischen aufrechtem Gang und Karrierismus nachgesagt; also im Ausnahmefall Tragik, im Normalfall ein schlechter Charakter.

Die Auslese, die ansteht, ist also eine moralische, und zwar anhand eines sehr einfachen Leitfadens: Wer mitten in einer Gedichtinterpretation oder einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung Honecker zitiert, ist ein schlechter Mensch. Und wo es an solchen Bekenntnissen fehlt, geht der Indizienbeweis noch viel einfacher: "Professor gewesen? Drüben? Unter der SED? Der ist nicht sauber, sonst wäre der Mann doch nichts geworden!" So denken hiesige Beamtenwissenschaftler, und man darf sicher sein - sie gehen auf in ihrem Dienst und sorgen dafür, daß nur Linientreue mit Karrieren belohnt wird! Daß Anpassung ratsam ist, wenn man eine Karriere anpeilt, ist also geläüfig. Nützt denen aber nichts.

Die Forderung, die diesem Vorwurfswesen auf dem Fuße folgt und als Angebot daherkommt, ist eine Spitzenleistung der Heuchelei:

"Wandelt euch!"

Wer also immer noch an seinen Gedanken von gestern festhält, womöglich Streit sucht und überzeugt werden will, ist sowieso aus dem Rennen. Ein unverhohlener Aufruf zum Opportunismus wird erlassen, und, kaum wird er befolgt, als solcher entlarvt. Wer nämlich von den Denkern drüben heute eingesehen haben will, daß er sich 40 Jahre lang getäuscht hat; wer Reue zeigt und sich auf die neue Linie einstellen will - wobei sich übrigens keiner von diesen Marxisten so arg selbstverleugnen muß, weil er als historischer Materialist gelernt hat, daß kommen mußte, was gekommen ist; aber wen interessiert schon noch eine Kritik dieser Lehre -, muß sich prompt anhören, daß er das bloß tut, weil sich die politische Richtung geändert hat. Als wäre nicht genau das gefordert gewesen! So anspruchsvoll sind westdeutsche Opportunisten: Anpassung aus Freiheit, nicht weil sie gefordert wird! Das sagen die, die gerade Anpassung fordern und geben damit kund, daß sie keinem Gewandelten trauen. Der Aufruf, die Gesinnung zu wechseln, ist also unerfüllbar, und genauso ist er gemeint. So verschafft sich nämlich der Säuberungswahn, der von westdeutschem Boden ausgeht, den Auftrag, an dem dann kein Weg vorbeiführt: Die Wissenschaft aus Westdeutschland muß rüber! Und sie marschiert ein - mit vorgehaltener Gastvorlesung, Lehrbüchern und eigenem Personal. Dann ist sie dort.

Ob die Denker von drüben freiwillig oder berechnend ihrem System treu gedacht haben das wird im Einzelfall abgewogen und durchleuchtet -, die waren eben Diener einer Macht, die "wir" nie leiden konnten und die endlich das Zeitliche gesegnet hat. Zwar gibt es sie mithin nicht mehr, aber eben ihre Diener noch. Und ob die weiter in Amt und Würden vor sich hindenken dürfen, ob sie für den hiesigen Staatsdienst taugen und übernommen werden, entscheidet der westdeutsche Gesinnungs-TÜV.

Hierbei ist die Lage sehr viel anders als in den guten alten Zeiten der Entnazifizierung. Im Unterschied zu Hitlers akademischen Funktionären werden die Größen des realsozialistischen Bildungs- und Forschungsbetriebs vom neuen Staat für die Einrichtung eines passenden Überbaus im großen und ganzen nicht gebraucht. An nord-, west- und süddeutschen Universitäten sitzen haufenweise an Stellenplänen bisher gescheiterte Karrieristen in ihren Startlöchern und warten bloß darauf, von ihren Professoren und deren Ansprechpartnern in der neu geschaffenen -ostdeutschen Kultusbürokratie nach drüben betreut zu werden. Da tut man sich leicht mit dem Säubern.