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Der Anschluß als Material des Parteienstreits
VOM NUTZEN DER DEMOKRATIE UND IHRER LÜGEN FÜR DIE NATION
Deutschland "wächst zusammen" - und die Parteien hören nicht auf zu streiten. Sie "buhlen" in "historischer Stunde" um Wählerstimmen - und die Nation schüttelt bedenklich ihr Haupt über solch "unwürdiges" Verhalten. Ein Skandal wird aber nicht draus: Parteien "sind nun mal so", parteilich eben - dafür ist die Nation ganz was Feines.
Es kursiert also das Gerücht, demokratische Verfahren seien "non-essentials" der Einigung, wenn nicht schlimmer noch: Störfaktoren des nationalen Aufbruchs. Zweifel scheinen aber angebracht, ob der behauptete Gegensatz von Parteienstreit und nationaler Sache deren Verhältnis richtig faßt. Immerhin hat niemand anderer als die "parteilichen" Parteien selbst dies Gerücht zielstrebig in Umlauf gebracht.
Die Basis des Streits: Deutschland ist regelungsbedürftig - die Parteien "gestalten" es gemeinsam
Einvemehmen besteht unter den D-Parteien in folgenden Punkten: Der Anschluß der DDR ist der wichtigste Erfolg der BRD seit ihrer Gründung. Bonn ist die allein zuständige Adresse für die Regelung der mit der Einheit anfallenden "Probleme"; damit der Erfolg sich auszahlt, müssen von hier aus "die Weichen gestellt" und alle nötigen Bedingungen gesetzt werden. Unter keinen Umständen darf der Erfolg durch Mißhelligkeiten unter den Parteien über die Modalitäten der Regelung gefährdet werden - also setzen sie sich hinter ihre verschlossenen Türen und handeln sie aus.
Die Parteien beziehen sich auf den Machtzuwachs, den die Einverleibung der DDR Bonn beschert hat, in schöner Einmütigkeit. Nämlich 1. als automatische Vergrößerung ihrer Macht: Alle miteinander nehmen sie ihr selbstverständliches Recht wahr, Vorschriften zu erlassen, wie sich in der DDR das Autofahren oder Geldverdienen, Kinderkriegen und Arbeiten gehört. Das bundesrepublikanische Monopol der Zuständigkeit für die Verhältnisse in der DDR betrachten sie als Chance für sich: Man dringt darauf und sorgt dafür, an der Ausarbeitung des Regelungswerks beteiligt zu werden. 2. aber ist Sicherung und Ausbau des nationalen Erfolgs oberstes Parteianliegen aller. Weder Erfolg - der steht uns zu! - noch Erfolgskurs - den bestimmen wir! - sind strittig. Also muß auch der letzte aller möglichen Streitpunkte, die Klärung der jetzt anstehenden Verfahrensfragen so erledigt werden, daß die Einheit keinen Schaden leidet. Die Modalitäten der Einigung gehen das Volk eh nichts an, und damit es nicht auf falsche Gedanken kommt, wird auch die Abwicklung und politische Durchführung der Einheit von deren Managern einvemehmlich in gemeinsamen Verhandlungen geregelt.
Wo bleibt bei dieser Sachlage noch Platz für Mißverständnisse? Das Interesse der demokratischen Parteien geht ganz auf im nationalen Interesse - sie wollen die Nation voranbringen, sonst nichts. Was jeweils "ansteht", das diskutieren und beschließen sie und setzen es in die Tat um: Also existiert "die nationale Sache" gar nicht getrennt von ihren Sachwaltern. Der Vorwurf, daß so eine große Koalition möglicherweise der Demokratie schade, kommt angesichts des Bekenntnisses der Parteien zu ihrem nationalen Auftrag gar nicht erst auf. "Bande" sagt keiner zu den Parteien, wenn sie "sich ihrer nationalen Verantwortung stellen". Denn die Respektspersonen und die ehrwürdige, von ihnen vertretene Sache haben ein unbedingtes Recht auf die Gültigkeit der Lüge, daß die "nationalen Erfordernisse" jenseits der Vorstandsetagen der Parteien angesiedelt sind und nicht ebendort ausgemauschelt werden.
Mitmachendürfen! Die große Stunde der verantwortungsbewußten Opposition
Regierung und Opposition tüfteln tausendseitige Vertragstexte miteinander aus. Zur Mitarbeit am Gelingen des nationalen Gemeinschaftswerks läßt sich die SPD nicht zweimal bitten. Die Regierung braucht ihre Zustimmung damit die "2/3-Hürde" im Parlament genommen wird - und die Opposition sieht durchaus keine Veranlassung, ihre Unterstützung zu verweigern. Die Nation braucht Geschlossenheit, das Hochkommen unzufriedener "Rand"gruppen steht zwar nicht auf der Tagesordnung, ist aber um so entschiedener zu befürchten - die SPD malt an den bekannten Bildern - und daher zu unterbinden. Was der Nation guttut, erfreut auch ansonsten eher verdrießliche Gemüter wie Hans-Jochen. Das Mitbestimmen an den Geschicken der Nation befreit die Opposition immerhin ein Stück weit, Macher und "Symbol der Einigung" ist nach wie vor Kohl, von ihrem Makel und Grundärgernis. Sie ist jetzt mitverantwortlich - und zwar wie! Aus ihrem Entschluß zur Mitarbeiter an der sich die Gestaltungskünstler von der Opposition als die besseren Verwaltungsfachleute in Sachen Deutschland und "Krisenbewältigung" profilieren möchten, fabriziert die SPD gleich nochmal einen Pluspunkt für sich, indem sie ihn als die schiere Selbstverleugnung und Aufopferung aller Parteiinteressen für Deutschlandr, das ruft, verkauft. Oskar möchte nicht mitmischen, er muß "Verantwortung übernehmen", weil die Regierung schlecht regiert hat:
"Nachdem die D-Mark zum 1. Juli versprochen worden ist, ...ist es natürlich eine Woche vorher kaum noch verantwortbar, diesen Prozeß zu stoppen." (Spiegel, 28.5.)
Die DM-Lawine rollt, setzt damit den Automatismus des anstandslosen Passierens des 1. Staatsvertrags in Gang - und die SPD ist getrieben und gehalten, schon Monate vorher allem zuzustimmen, wozu sie dann hinterher nicht "kurzfristig" nein sagen "kann". Dieser Beweis ihrer Verantwortlichkeit berechtigt sie dazu, ihre zweite staatstragende Rolle zu spielen. Am Wirtschafts-, Währungs- und Sozialvertrag inszeniert sie beispielhaft die hohe Schule des Neinsagens, ohne einen einzigen Einwand gegen die damit gefaßten Beschlüsse verlauten zu lassen. Oskar - "Ich brauche das Nein für den Wahlkampf" - muß nein sagen dürfen wegen der erwiesenen Dienstbarkeit seiner Partei für die Nation. Oskar ist kein "Nörgler", wie parteiliche böse C-Zungen ihm unterstellen, noch ist er jemand, der etwas Bestimmtes zu beanstanden hätte: Seine Kritik, die "leider sein muß", und zu der er "sich traut", thematisiert nichts als ihre Daseinsberechtigung. Weil er verantwortlich ist, ist er zum Kritisieren befugt - und wenn er kritisiert, beweist er damit sein ausgeprägteres Verantwortungsbewußtsein.
So bringt die SPD ihre Oppositionsrolle ins Spiel, um dem Gemeinschaftswerk ihren Stempel aufzudrücken und ihren Beitrag dazu hervorzuheben. Sie "bessert nach" und verpaßt den Regierungsgeschäften, an denen sie beteiligt ist, mit dieser Sprachschöpfung die nötige Doppeldeutigkeit: einerseits Pfusch, andererseits ein voller Erfolg. Sie bringt das "So nicht!" und "Nicht ohne uns!" in die Politik ein - und schon sieht sie gleich viel akzeptabler aus. Sie sagt zu allem "Wir hätten es anders gemacht" - und das ist schon ihr ganzes Programm. Im gleichen Atemzug tönt sie "Wie es ist, gibt's nichts dran auszusetien, denn der Vertrag trägt unsere Handschrift" - und geht mit Verbesserungen hausieren, die sie in den Gesetzeswerken untergebracht hat. Dann hängt das Wohl und Wehe des Einigungsvertrags am von der SPD extra "für Deutschlands Frauen" erzielten Kompromiß in der Abtreibungsfrage.
Worum geht der Streit? - Bloß Wahlkampf?
In unermüdlicher Kleinarbeit beackern die Parteien den Wust der, weil alles feststeht, jetzt "anstehenden" strittigen Fragen - von der Höhe der Hundesteuer über den Termin für die Schulferien bis hin zur Sitzverteilung der Länder im gesamtdeutschen Parlament. Diese Kontroversen, bei denen sie sich stets zur ge meinsamen Entscheidung durchringen, sind aber gar nicht die Streitpunkte, mit denen die Parteien öffentliche Aufmerksamkeit erregen. In ihrer politischen Propaganda trennen sie ihr tägliches politisches Einheitstreiben von sich ab und begutachten, welche Streitfragen sich für die Themen benutzen lassen, die "beim Wähler ankommen".
Anschluß bedeutet "Wohlstand"
Wie wird aus "Deutschland" ein für den Wahlkampf taugliches Thema? Wie lassen sich aus der gemeinsam verfügten Politik Argumente für die konkurrierenden Parteien verfertigen?
Der Sachverhalt, nüchtern betrachtet, gibt nichts her - außer ein paar Gründen gegen die Politik, die aber hier nicht gefragt sind. Die große Koalition West hat die DDR unter ihre treuhänderischen Fittiche genommen. Sie sorgt dafür, daß die realsozialistische Wirtschaft, sofern noch was von ihr übrig ist, Bankrott macht. Alle vorhandenen Einrichtungen werden danach beurteilt, ob sich aus ihnen ein Geschäft machen läßt oder ob sie es wert sind, daß sie zugrundegehen. Dann wird entweder die Bude dicht gemacht oder auf einen Käufer gewartet, der den Laden noch billiger übernimmt. Daß jetzt die Fetzen fliegen und die Betroffenen über das Schlamassel - "Chaos! Notstand!" - stöhnen, ist notwendiges Resultat einer Politik, die aus einem realen Sozialismus einen Kapitalismus machen will.
Wenn sich die politischen Parteien um die Anteile am Gelingen des großdeutschen Projekts streiten, ist derselbe Sachverhalt: der beschlossene Zweck und seine sich aus ihm ergebenden Wirkungen, kaum wiederzuerkennen. Sie legen mit der Frage, warum in der DDR, trotz Einführüng der DM, der Wohlstand immer noch nicht eingekehrt ist, die Antwort nahe, daß die Herstellung von Verhältnissen wie in der BRD unmöglich Zustände wie jetzt in der DDR zur Folge haben, daß sich "das Chaos" da drüben unmöglich dem Willen der Bonner Zentrale verdanken kann.
Was die Politik und ihre Vertreter nach eigenen Angaben wollen, ist nicht die Kapitalisierung der DDR, sondern was ganz Feines: Nationales und persönliches Wohlergehen haben eigentlich in eins zu fallen. Mit dem Wohlstandsversprechen stellt sich jede Partei als Dienst am Bürger dar, das Gelingen der guten nationalen Sache einzulösen. Was die Verwandlung der Politik in fromme Absichten angeht, stehen sich CDU und SPD in nichts nach. Verheißt Kohl: "Keinem wird es schlechter, vielen aber besser gehen", fordert Lafontaine: "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse"! Ein hellhöriger Zeitgenosse könnte zwar schon hier die Relativierung seines Wohlstands heraushören. Die CDU verlangt von ihm, seine Erwartungen nicht an Verhältnissen wie in der BRD, sondern an so "unerträglichen Zuständen" wie in der DDR auszurichten. Und die SPD will die Lebensumstände nicht danach, was sie für den einzelnen bedeuten, sondern am Maßstab der Gerechtigkeit beurteilt wissen - besser oder schlechter, auf jeden Fall in beiden Landesteilen gleich. Doch die Einschränkung tut der Botschaft keinen Abbruch. Mit der Einverleibung der DDR kehrt dort Wohlstand ein, und auch die Bundesbürger können zufrieden sein. Deutschland verdient unsere Sympathie, denn hier meint man es gut mit uns, wo sich die Repräsentanten ganz dem höheren Anliegen des menschlichen Wohlergehens zu verschreiben haben.
Der Zweck geht also in Ordnung. Auf der anderen Seite sind die notwendigen Ergebnisse der Politik kein Argument gegen sie. Dem Glauben an das Gute in der Politik tun auch negative Erfahrungen keinen Abbruch, wenn die Wirkungen der Anschlußpolitik als Verstoß der Parteien gegen das tadellose nationale Programm und als vorläufiges Scheitern bester Vorhaben besprochen werden - so als ob der Beschluß in Bonn gehießen hätte: demnächst bricht in der DDR das BRD-Schlaraffenland aus.
Die SPD, die als Opposition fürs Kritisieren zuständig ist, hat als erste das Gerücht unters Volk gebracht, die Wirkungen der gemeinsam "zu verantwortenden" Anschlußpolitik seien ein im Drehbuch für Deutschland eigentlich nicht vorgesehener Regiefehler, für den die politische Gegenseite haftbar zu machen ist. Sie spürt Unterlassungen, Mißgriffe und Versäumnisse auf, derer sich der Kanzler schuldig gemacht habe. "Zu schnell" hat er den Übergang in die Marktwirtschaft vorgenommen, "zu abrupt" die langsamen DDRler mit der DM konfrontiert. Und was wäre, wenn's gemütlich und immer hübsch der Reihe nach gegangen wäre? Dann hätten dieselben Wirkungen ein paar Monate später Einzug gehalten. Keine einzige "unangehme Begleiterscheinung" wäre irgend jemandem erspart worden. Die SPD will ja auch nur zu Protokoll gegeben haben, daß sich die CDU in Sachen Geschwindigkeit einigermaßen "verkalkuliert" habe. Die Zurückweisung der Regierung ist kongenial. Nicht sie, sondem die "Anschlußdynamik" hätte das Tempo der Vereinigung vorgegeben - behaupten genau die Politiker, die sich um die "Beschleunigung" der "Deutschlandfrage" verdient gemacht haben. Am Ende steht das Bild vom Zusammenwuchern und -nageln gegen den Bahnhof der Geschichte, durch den der Zug der Einigung langsam, aber unaufhaltsam hindurchrollt. - Und der Wähler kann sich entscheiden.
Die Regierung Kohl hat die DDR-Wahlen gewonnen, weil sie den Erfolg der Anschlußpolitik für sich reklamieren konnte. Das "Symbol der Einigung" hat's gebracht, weil die DDRler prompt auf die Verwechslung von Anschluß mit Wohlstand abgefahren sind. Doch danach konnte auch die CDU sich der Aufforderung der SPD nicht verschließen, Schuldige dafür zu benennen, warum der versprochene Wohlstand auf sich warten läßt. Die Regierung, die ansonsten das Argument der Opposition, sie sei für alle negativen Wirkungen der Politik haftbar zu machen, mit dem Konter abzuwehren pflegt, sie bewältige nur die Folgelasten der von der Opposition gestellten Vorgängerregierung, unter der die Schulden noch viel höher und die Arbeitslosigkeit noch viel größer gewesen seien, ist auch in dieser besonderen Lage nicht um einen Schuldigen verlegen. Die "Erblast", die sie übernommen hat, stammt aus "40 Jahren SED-Herrschaft". Die Einführung des Kapitalismus zeitigt also fürchterliche Wirkungen, nicht deshalb, weil sich jedermann in der DDR jetzt "echtes Geld" zu verdienen und den Gesetzen von dessen Vermehrung zu beugen hat. Nicht weil kapitalistische Verhältnisse eingeführt, sondern weil sie eingeführt werden, weil vorher ein anderes System da war, soll's da jetzt so zugehen. Bei den negativen Wirkungen soll es sich um Folgeerscheinungen eines Systems handeln, das abgeschafft ist - und bei seinen- Lebzeiten nicht die Wirkungen zu produzieren vermochte, die es mit seinem Ableben in die Welt setzt: Die Ankläger, die sich auf Zahlenvergleiche verstehen, beschwören selbst den "dramatischen" Rückgang in Produktion und Handel, von der Arbeitslosigkeit ganz zu schweigen, die früher systematisch verhindert und "versteckt" wurde. Honecker und Co., die zwar eine ganz andere Politik und deren Folgen zu "verantworten" hatten, haben sich der besonderen Gemeinheit schuldig gemacht, das neue System um seine Früchte zu betrügen. Das Rätsel, wie sich ein zu Grabe getragener Verein dermaßen unangenehm bemerkbar machen kann, ist niemandem eins. Dem alten System ist alles Schlechte und dem neuen nur das Beste zuzutrauen, denn feststeht: "Die Folgen" sind nie und nimmer die Folgen des jetzt herrschenden Systems und des in ihm gültigen Zwecks. Der Deuter auf die Verbrechen des Vorgängerregimes erfreut sich auch in Kreisen der Opposition größter Beliebtheit. So ergibt sich das für die in Bonn gemachte Politik erfreuliche Resultat, daß sie gleich doppelt gegen alle Verdächtigungen in Schutz genommen ist: unfähigen C-Politikern anvertraut, die einen Berg von Schlechtigkeit abzutragen haben, kommt die gute Sache nur mühsam voran.
"Wohlstand braucht Wachstum"
Was die DDRler brauchen, ist unsere Wirtschaft, nur so rücken sie dem versprochenen Wohlstand näher. Sie sollen die Ärmel hochkrempeln wie nach dem Krieg und fürs Wachstum sorgen, das ist mal das Erste. Damit soll sich die Bevölkerung selbst am besten dienen. So die Rede aller Parteien.
In Wirklichkeit ist mit der Ineinssetzung von wirtschaftlichem und persönlichem Aufschwung die Erfüllung der persönlichen Bedürfnisse zur abhängigen Variablen erklärt: "Die Menschen" haben "dem Wachstum" zu dienen und nicht umgekehrt - und nur unter der Bedingung fällt für sie etwas dabei ab. Opfer und Verzicht sind kein Dementi des Wohlstandsversprechens, sondern dessen Bekräftigung. Sie sind nötig und sinnvoll zur Herstellung von Bedingungen, unter denen das gute Leben Einzug halten kann. Die Unzufriedenheit aber hat sich darauf zu konzentrieren, daß die allgemeine Wohlstandsbedingung: das Wachstum "der Wirtschaft" nicht entschieden genug von den zuständigen Stellen angegangen wird.
Regierung und Opposition sind sich in der Diagnose, wie der DDR und ihren "Menschen" aufzuhelfen sei, voll einig. Was fehlt sind Investitionen, damit die DM ihre wohltätigen Wirkungen zeitigen kann. Unisono bringen sie die Lüge unters Volk, mit Infrastrukturmaßnahmen würden die Voraussetzungen für allgemeinen Wohlstand geschaffen. Und im Duett singen sie die Arie, woran's denn hapert, wenn's mit dem Wachstum nicht vorwärts geht.
Die Koalition ist "Herr der Lage" und hält die Bedingungen zum Investieren "eigentlich" für ideal. Wenn die von ihr geschnürten "Maßnahmenpakete" (noch) nicht "greifen", ist Sabotage am Werk. Der Vampir lebt! Stasi in der Treuhand: Aber auch "die Menschen" haben die Botschaft noch nicht komplett kapiert: Erst die Wirtschaft, dann die Videos. Sie müssen "erzogen"werden und sollen nicht mit "überzogenen" Lohnforderungen das Wachstum gefährden.
Die SPD sieht die Sache ziemlich genauso, nur kennt sie weitere Schuldige. Die Regierung hat versagt, zu konstruktiven Aufbauleistungen ist sie nicht fähig. Anstatt rechtzeitig Infrastrukturprogramme anlaufen zu lassen, hat sie das schöne Geld in "Löcher ohne Boden" wie die Sozial- und Rentenkassen verpulvert.
So werden von Regierung und Opposition alle für die Kapitalisierung der DDR-Wirtschaft erforderlichen Schritte in die Wege geleitet - und gleichzeitig arbeiten sie an der Verfestigung des Eindrucks, das sei noch gar nichts und bei weitem nicht genug.
Der Anschluß - nichts als Kosten
Mit der seit Jahr und Tag landauf landab ohn' Unterlaß verkündeten kühnen "Prophezeihung";
"Kosten kommen auf uns zu!"
gedenkt Lafontaine den Wahlkampf zu gewinnen. Er macht aus der politischen Notwendigkeit, die Mittel für die Finanzierung des Anschlusses im bundesdeutschen Haushalt locker zu machen und ihm per Steuererhöhung und Kreditaufnahme zur Verfügung zu stellen, das propagandistische Argument für seine Partei.
Die Kostenfrage, im Lafontaineschen Sinn gestellt, lebt von der Gewißheit, daß er (er dreimal unterstrichen) recht behält. Das möchte er honoriert haben, vor allem von den westlichen Bürgern, die diese Kosten zu tragen haben. Zweitens kennt Lafontaine in der Frage der fälligen Opfer eine Unterscheidung, die ihm auch niemand streitig machen kann. Vor allem den ostdeutschen Wählern, die ja bekanntlich jetzt erst einmal durch ein "tiefes Tal hindurchmüssen", hat er die Mitteilung zu machen, daß die anstehenden Härten in unvermeidliche und vermeidbare zerfallen. Das Zugeständnis, daß manche Opfer unvermeidlich sind für die Sache Deutschland, ist nötig für die sozialdemokratische Glaubwürdigkeit - denn an nationale Erfolge zum Nulltarif glaubt ohnehin kein Wähler. Alle Kosten dagegen, die den Wähler wirklich ärgern, darf dieser sich, sofern er mit Lafontaine sympathisiert, als die vermeidbaren vorstellen. Denn das ist ja das Schöne an Lafontaines Unterscheidung: daß sie gar nichts Objektives an sich hat; daß niemand sagen kann, und Lafontaine auch gar nicht zu sagen braucht, wo die "nötige" Arbeitslosigkeit, Teuerung, Abgabenerhöhung usw. aufhört und wo die vermeidbaren Härten anfangen. Daß jeder sich das Seine dabei denken darf, ist der eine Witz. Der andere ist, daß Opfer überhaupt kein Einwand gegen die Sache zu sein haben - das ist damit auch von der Opposition klargestellt. So bedient Lafontaine den mündigen Bürger, der nach folgender Logik Mal für Mal zur Wahl latscht: Erst "denen da oben" großspurig das Recht einräumen, alles Mögliche mit einem anzustellen, nämlich über alles Nötige zu befinden, weil man eh "nichts von Politik versteht": Was sein muß, muß sein. Dann die kleinlaute Beschwerde nachreichen, daß die Regierung schon ein bißchen Rücksicht hätte nehmen können und das mit "dem Nötigen" nicht so gemeint gewesen wäre. Und am Schluß mehr vom Regieren verstehen als jede Regierung und sich ganz genau auskennen, was nötig gewesen wäre und was nicht. Das verschafft Genugtuung. Und sorgt für die nötigen und nicht vermeidbaren SPD-Stimmen.
Der dritte und schlimmste aller Fehler, den Lafontaine Kohl anzukreiden hat, ist
Das "Verschweigen der Kosten"
Mit der "Wohlstandslüge", die "dem Wähler" "die volle Wahrheit" und "das ganze Ausmaß" der auf ihn und Deutschland zukommenden Kosten vorenthält, verhindert er das Wichtigste:
"Große Männer haben ihren Völkern in vergleichbaren Situationen die Größe und Schwere der Aufgaben klar vor Augen geführt und dadurch zusätzlich Kräfte geweckt. Kohl hat das Gegenteil getan und dadurch Enttäuschung und Bitterkeit geradezu vorprogrammiert." (FAZ, 13.8.)
In "Situationen" wie diesen schmeißen sich selbst Figuren wie der Vogel in die Pose eines Volkstribuns. Mit der Anklage: 'Du verkennst und verspielst damit die Opferbereitschaft des Volks, Kohl!', sollen die Kleingeister von der Regierung in die Ecke und ins politische Abseits gestellt werden. Die SPD hat "Vertrauen in den Wähler": Der "mündige Bürger '90" schluckt alles, so man ihm nur "sagt", was er zu schlucken hat. So wird der Preis für die deutsche Einheit als Ehrproblem derjenigen, die ihn zu zahlen haben, verhandelt: Wer die Kosten nicht auf den Tisch legt, unterschätzt die Zahlungsmoral und beleidigt mit dieser Unterstellung alle zur "Solidarität" - koste sie, was sie wolle - entschlossenen Deutschen. Das ist die "Kostenwahrheit". Die Kosten sind kein Problem, wenn die Stellung zu ihnen stimmt: Nicht die Opfer, die falsche Einstellung iu ihnen muß verhindert werden. Der "mutige" Oskar, der von Anfang an "auf die Folgen hingewiesen" hat, macht sich und dem Volk das Kompliment, von dessen Opferbereitschaft nur die höchste Meinung zu haben. Seine Partei, die die Rücksichtslosigkeit gegen das Volk "ungeschminkt" sich auszusprechen "traut", verkörpert die Verantwortung für die Volkseinheit - die Regierung aber spaltet den Willen der Nation, in der Stunde der Not zusammenzustehen. Es sei denn, es verhält sich genau umgekehrt.
Die Regierung verkörpert nämlich die Verantwortung für die Volkseinheit allein dadurch, daß sie das vereinigte Volk regieren darf. Sie entscheidet von Amts wegen nicht nur über die Kosten, sondern auch darüber, was die fälligen Kosten das Volk angehen. Niemand kann so kompetent über die verlangten Opfer reden wie diejenigen, die sie durchsetzen; da sieht die Opposition auf alle Fälle schon mal ziemlich inkompetent aus. Und wenn zweitens Opfer für Deutschland in Ordnung gehen, dann heißt das auch Zustimmung zu denen, die sie anordnen; insofern ist oppositionelles Gemecker an der Regierung antinational.
Wer die Nation wirklich spaltet, entscheidet also der Wähler. Und auf alle Fälle bringt der Parteienstreit um "die Kosten" die nationale Sache voran. Er macht das Volk mit allen "Erfordernissen der Lage" vertraut und vollbringt zugleich das Kunststück, daß Opfer nicht nur kein Einwand gegen, sondern zum Argument für "die nationale Sache" werden.
Im Namen der Opfer, die einen Sinn haben müssen, beauftragen sich die Parteien in schöner Einmütigkeit, keinen anderen Gesichtspunkt in der Politik mehr gelten zu lassen, als "das Gelingen" der nationalen Sache. Die Opfer bekommen das Recht zur Forderung zugesprochen, daß sich Opfer zu lohnen haben - für die Nation.
Lebendige Demokratie - endlich mal ein richtiger Streit!
Der Streit um Wahltermin und Wählgesetz...
hat die Parteien 2 Monate lang in Anspruch genommen. Das ist verständlich. Denn für freiheitliche Demokraten sind die Modalitäten einer freien Wahl schon das halbe Wahlergebnis. Aber der Reihe nach. Es ging 1. um eine Souveränitätsfrage. Die Geschicke der Nation hängen daran, wer über sie verfügen darf: Die "Laienschar" der "Hobbypolitiker" aus dem Osten muß weg, und "die Nachfolgeorganisation der SED" soll gar nicht erst ran. 2. fällt die Klärung dieser Souveränitätsangelegenheit ganz in die Zuständigkeit der erprobten und bewährten Parteienmannschaft West. Wer anders sollte denn die Regeln für die Inbesitznahme der Macht regeln, wenn nicht die, die sie ausüben und die auch sonst für alles zuständig sind: 3. wird, auch wenn das Staats- und Parteieninteresse an geordneten Wahlverhältnissen hier prinzipiell zusammenfallen, der Regelungsbedarf aufgrund eines Streits entschieden. Die in Konkurrenz befindlichen Parteien wollen entweder die Macht erhalten oder erringen und dementsprechend ihre wahltaktischen Interessen berücksichtigt haben.
In der Terminfrage waren sich alle einig, daß die Übernahme der DDR allmählich endgültig fällig ist. Nach der Notstandslogik, nach der alles, was dort nicht klappt, das Versagen der ostdeutschen "Bremser" und die Notwendigkeit der "Beschleunigung" des Anschlusses und der Alleinzuständigkeit der bundesdeutschen Polit"profis" beweist, setzten sie Beitritt samt Wahlen auf die Tagesordnung. Streit gab's, weil sich an die beiden Daten, ihren Zusammenfall oder ihre Differenz, alle möglichen Wahlspekulationen der feindlichen Brüder knüpften. Durchgesetzt hat sich die SPD mit der Abtrennung der Kontrolle der DDR, Nationalfeiertag am 3. Oktober, von der Zustimmung dazu und Wahl am 2. Dezember. Wenigstens hier stimmt einmal die Reihenfolge.
Beim Wahlgesetz bestand Einigkeit in folgenden Punkten:
- Aufs Führen haben nur die einen Anspruch, die ihre Leistung für die Allgemeinheit schon unter Beweis gestellt haben und im Besitz der entsprechenden Prozente sind.
- Wem das Wohlergehen der Nation so sehr am Herzen liegt, daß er sich nur noch darum balgt, wem die Führungsgeschäfte übertragen werden, hat ein Recht darauf, daß die mit seinem Berufsstand verbundenen Gefahren minimalisiert werden.
- Weil die Staatsgeschäfte nach der Wahl von den Repräsentanten abhängen, haben die vor der Wahl die Pflicht, das Ideal der Manipulation wahrzumachen. Die Abhängigkeit der Politiker von den Bürgern, die ihr Kreuz an der richtigen Stelle machen sollen, ist so zu gestalten, daß sie sich nicht bemerklich macht und Parlamentssitze garantiert.
- Um den Erfolg sicherzustellen und alle Unwägbarkeiten der Launen des Wählers auszuschalten, ist einerseits "unser" Wahlgesetz "das Beste": Das Wahlrecht ist das Recht der Parteien auf Machtprozente -, denn mit der "bewährten 5-Prozent-Hürde" ist es so beruhigend "stabilisierend": nämlich die Ansprüche der Machthaber auf einen Sitz im nächsten Bundestag. Andererseits brauchte es für die Sicherung der passenden gesamtdeutschen Parteienlandschaft ein paar Sonderregelungen. Lambsdorff sprach aus, worauf alle Parteien sich letztlich geeinigt haben:
"Wir brauchen eine Regelung, die die DSU ins Parlament bringt und die PDS möglichst draußen hält."
- Summa summarum: Unsere Macht ist zu erhalten und auszudehnen, diejenige von unliebsamen Konkurrenten ist zu begrenzen und auszuschalten.
...Zum Wahlkampfthema aufbereitet
Für den Wähler attraktiv wurde diese Füllung des Sommerlochs, indem ihm die Parteien die Kriterien für die gewünschte Beurteilung ihres "häßlichen" Streits mit an die Hand gaben.
Sie haben manipuliert wie die Teufel und dann "Manipulation!" geschrien, bei der Konkurrenz natürlich. Sie haben ihre Berechnungen angestellt, aber die unverantwortlichen Berechnungen der Gegenseite aufs schärfste gegeißelt. Die Wahlkampfworbereitungen waren also ein gefundenes Fressen für alle Parteien, die "Parteilichkeit" nicht ausstehen können.
Und gerade weil ihr Streit sich rein parteipolitischen Überlegungen verdankte, sind sie mit dem Schein hausieren gegangen, nationale Wohltaten unters Volk zu streuen. Die Überhöhung des Parteiinteresses als Deutschlanddienst dann wieder wie üblich: Sich an die Brust geklopft und die Folgen eines frühen/späten Wahl-/Beitrittstermins fürs Vorankommen in der Deutschland-, Wohlstands- und Bewältigung der Kostenfrage für ganz ausgezeichnet befinden. Oder mit den Folgen unverantwortlicher "Verweigerungshaltung" des Gegners nichts zu tun haben wollen: CDU und SPD "warnen vor den Folgen"! Alle Parteien kannten "Wichtigeres" als diesen Streit, diese "kleinliche" Taktik, und alle waren der Ansicht, daß durch ihn die Beförderung des ökonomischen Aufschwungs zu kurz komme, wenn nicht verhindert werde.
Die Parole der Saison ist Lafontaine als erstem eingefallen: "Affentheater!" Darauf kommt es an in der Demokratie: der erste zu sein bei der Beschimpfung des Theaters, das man anzettelt. Und noch ein goldenes Wort vom SPD-Kanzlerkandidaten: "Wem geht es denn besser, wenn schon im Oktober statt im Dezember gewählt wird? "Das ist schon die hohe demokratische Kunst: die allerheiligste Kuh der westlichen Freiheit, die gleiche und geheime Wahl, demonstrativ verachten, als ziemlich nutzlosen Luxus im Vergleich zu den wirklich wichtigen nationalen Fragen abstempeln - u m gewählt z u werden.
Fazit
Demokratische Parteien sind nie so parteilich wie dann, wenn sie einander bloße Parteilichkeit, mangelnde Unterordnung unter die überparteiliche nationale Sache vorwerfen. Das faschistische Gemüt demokratischer Bürger möchte deswegen bisweilen am nationalen Pflichtbewußtsein seiner Parteien verzweifeln - und liegt völlig falsch. Denn die Wahrheit ist die: Demokratische Parteien sind nie so national wie dann, wenn sie sich berechnend und gehässig zerstreiten. Dann halten sie nämlich einander nichts als den einen allerhöchsten Maßstab entgegen: die nationale Sache und die Tauglichkeit des Parteiführungspersonals, sie durchzusetzen. Die nationale Sache wiederum ist aus dem Schneider, ist aus jeder Kritik schon deswegen heraus, weil alles Unangenehme, was ihre Durchsetzung mit sich bringt, von vorneherein nicht ihr, sondern bloß den Parteien angelastet wird, die nichts Besseres zu tun hätten, als sich um sie zu streiten.
So national funktioniert die Demokratie. Ist das vielleicht nichts?