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Dieser Artikel ist in der MSZ 1-1990 erschienen.

Systematik


SELBSTBESTIMMUNGSRECHT

Die Anschauung, all die wechselvollen Geschicke, die Nationen bei der mehr oder weniger erfolgreichen Durchsetzung ihrer Anliegen so erfahren, seien im Grunde von ihren Völkern in Auftrag gegeben und auf den Weg gebracht worden, ist ungefähr genauso alt wie das staatliche Herrschertum, welches nicht mehr von Gottes, sondern von Volkes Gnaden kommen soll. Gegenwärtig lebt der Mythos von den Völkern, die in Gestalt von Nationen ihren "geschichtlichen Gang " gehen sollen, in der Interpretation auf, wonach der Umsturz der Machtverhältnisse im ehemaligen Ostblock seinen Grund in den diesbezüglichen Drangsalen der dortigen Völkerschaften hätte: Die hätten sich auf eine neue Kursbestimmung geeinigt und alles Nötige in die Wege geleitet, damit ihre Staaten diese auch vollziehen. Insbesondere von den politischen Subjekten, die - woran ja andererseits auch keiner zweifelt - mit dem Einsatz staatlicher Machtmittel in Ost wie West das bisherige "Schicksal" ihrer Völker bestimmt haben, ist zu hören, dass eigentlich gar nichts weiter passiert sei, als dass die Völker ihr "Selbstbestimmungsrecht" wahrgenommen hätten bzw. im Begriff seien, dies noch zu tun. Das kann unmöglich die Wahrheit sein.

Das Volk und seine Rechte

Im Unterschied zu manch anderen hohen rechtlichen Gütern und Grundsätzen, die man aus der staatlichen Rechtsordnung kennt, macht mit dem "Selbstbestimmungsrecht des Volkes" ein Volksgenosse todsicher nie Bekanntschaft. Obwohl, wie aus dem Namen dieses vornehmen Rechtsguts hervorgeht, es ja schon irgendwie auch ihm persönlich gewidmet ist, hat er in allem, was er sein Lebtag lang tut und lässt, nicht den Hauch einer Chance, in den Genuß dieses Rechts zu gelangen oder es umgekehrt zu verletzen. Das ist schon daran bemerklich, dass in der vornehmen Abstraktion "Volk" der Volksgenosse gar nicht in seiner Eigenschaft als Arbeiter Bauer, Rentner, Eigentümer oder Banker auftaucht, sondern als höchst anonymes Mitglied eines Kollektivs, das bloß darüber zu einem solchen wird, weil es derselben Obrigkeit unterstellt ist. Insofern fällt, was immer man zur völkischen "Selbstbestimmung" und dem Recht auf sie sich denken möchte, ganz aus dem Rahmen der wirklichen Welt, in der das Volk mit den diversen Rechtsgütern beehrt wird: Diese machen den jedermann vertrauten Rechtszustand aus, der verpflichtend die Formen festlegt, in denen Bürger ihre Interessen mit ihresgleichen abzuwickeln haben, und umfassen so vergleichsweise handfeste Dinge wie den Zwang, Geld zu verdienen, Mieten zu zahlen usw.; darüber hinaus auch die Verpflichtung, sich mit ihrem Vermögen und dem Einsatz der eigenen Person ihrer staatlichen Obrigkeit zur Verfügung zu stellen. Und insofern die freien und gleichen Rechtssubjekte sich so betragen, wie das Recht es ihnen vorschreibt und gestattet, ist in Sachen "Selbstbestimmung" bei den Volksgenossen schon alles gelaufen. Sie sind so frei und tun alles, was sie von Rechts wegen tun dürfen, und falls sie etwas unternehmen, was gesetzlich verboten ist, wird ihnen dies nicht als Akt von Selbstbestimmung honoriert, sondern als Verletzung eines Paragraphen übelgenommen. Dann werden sie praktisch darüber belehrt, dass eine freie Entfaltung ihrer geschätzten Interessen entweder im Rahmen des Rechts geht, das das staatliche Gewaltmonopol erlassen hat oder gar nicht.

Schon von daher ist hinten und vorne nicht abzusehen, was ein Volk, das im geltenden Recht und im Einhalten der aus ihm erwachsenden Verpflichtungen schon komplett seine Freiheit genießt, mit dem Geschenk anfangen soll, sich eigens auch noch seiner eigenen "Selbstbestimmung" widmen zu dürfen.

Die Anwälte des völkischen Selbstbestimmungsrechts

Von besagtem Recht des Volkes hört man entweder, dass es mit Füßen getreten oder sonst wie schmählich verraten sei, oder aber - was seltener der Fall ist - dass es in zufriedenstellender Weise wahrgenommen werde. Besieht man sich die Anwälte näher, die für rechtliche Expertisen dieser Art verantwortlich zeichnen, so fällt sofort auf, dass die Volksgenossen, um deren Belange es ja gehen soll, schon wieder absolut keine Rolle spielen. Es sind die Herrscher über das Volk, Politiker, die einem souveränen Staatswesen vorstehen und die Richtlinien bestimmen, nach denen die Staatsgewalt ausgeübt wird, die sich da im Namen des Volkes und seiner Rechte an ihresgleichen wenden. Und was sie zu Protokoll geben, ist überhaupt nicht mit Volkes Stimme zu verwechseln, die sich bei auswärtigen Staatsmännern Gehör verschaffen wollte.

Vielmehr bauen sich da Machthaber voreinander auf, um wechselweise darüber zu rechten, dass sie sich bei dem, was der jeweilige Dienst an der nationalen Sache, die sie vertreten, gebietet, stets einem Auftraggeber namens "das Volk" verpflichtet wissen wollen. Gemeint sind damit freilich nicht die wirklichen Volksgenossen, wie sie so herumlaufen, sondern diese schon wieder in der abstrakten und gleichmacherischen Eigenschaft des anonymen Kollektivsubjekts von oben. Dessen Mitglieder zeichnen sich bloß noch durch die Funktion aus, sich um eine gemeinsame Sache, nämlich die der Nation, verdient zu machen - und geraten darüber glatt in den Rang der eigentlichen Trägerschaft des nationalen Interesses, das von Politikern dann gewissermaßen nur weisungsgemäß geltend gemacht würde: Mit der ehrenvollen Erwähnung als Volk, um dessen Rechte es der Politik zu tun sei, erfreut sich die Manövriermasse der staatlichen Gewalt ihrer Ernennung zum eigentlichen Subjekt all dessen, was ihre Herren in ihrem eigenen Machtbereich anstellen, und gleichermaßen zum Urheber aller Ansprüche und Rechte, die diese gegenüber anderen Potentaten in Anschlag bringen. Und wenn diese politischen Herren sich dabei dann auch noch als wackere Verfechter des "Selbstbestimmungsrechts des Volkes" geben, über das sie kommandieren, dann stellen sie den Zynismus bloß noch explizit zur Schau, der ihrer Berufung auf das Volk innewohnt: Im sicheren Wissen um die Dienstbarkeit und den Gehorsam ihres Volkes spendieren sie dem ein Recht auf Selbstbestimmung und lassen hinsichtlich dessen Verwirklichung gleich anschließend positiv Bescheid ergehen. Etwas anderes als die erfolgreiche Vollzugsmeldung eines Herrschaftsverhältnisses mitsamt seinen von oben ergehenden Anliegen ist von denen, die dieses Recht zu vertreten pflegen, erstmal gar nicht gemeint, weswegen sie auch überhaupt nichts dabei finden, etwaige Einsprüche gegen ihre freie Gewaltausübung als völlig unannehmbaren " Druck der Straße", wenn nicht gleich als "Nötigung von Staatsorganen" zu verfolgen.

Doch dass um diesen idealistischen Schnörkel über die eigene Machtvollkommenheit soviel Aufhebens gemacht wird, dass in seinem Namen auch schon mal Kriege geführt werden und eine ganze Weltkriegslage u.a. auch mit ihm seine tiefere Begründung erfährt, ist nach allem so recht gar nicht einzusehen.

Einmischung im Namen des Volkes

Näher kommt man der Sache, besieht man sich den Dialog und die Sphäre näher, in denen von den politischen Anwälten des Volksrechts um das auf "Selbstbestimmung" gerechtet wird.

Um mit letzterer zu beginnen, so erübrigt sich beinahe der Hinweis darauf, dass in ihr das liebe Volk mit seinen Belangen schon wieder rein gar nichts verloren hat: Es ist die Welt der Außenpolitik und Diplomatie, in der das "Selbstbestimmungsrecht des Volkes" als Rechtstitel in der Korrespondenz zwischen den diversen Machthabern zirkuliert, und dort spielt das Volk bei all den praktischen Aufgaben, die seine Regierung sich für die fälligen Eimischungen in die Belange anderer Nationen zwecks Mehrung des Wohls der eigenen so setzt, eine sehr aparte Rolle. Das "Selbstbestimmungsrecht" für gewöhnlich allerdings schon auch, und das berührt schon die erste Qualität des zwischenstaatlichen Dialogs, der unter diesem Titel vonstatten geht. Der pflegt nämlich neben allen praktischen Machenschaften, wie sie zwischen Staaten üblich sind, im Regelfall von einer Staatsmacht gegen eine andere negativ vorgebracht zu werden und versteht sich so als die Erklärung, dass man mit dieser von gleich zu gleich zu handeln nicht gewillt sei. Genau die Selbstherrlichkeit und Machtvollkommmenheit, mit der man selbst seine Macht als Erfüllung der höchsten Drangsale des Volkes schmückt und sich in die Dienerschaft am vorgestelltermaßen allerhöchsten Rechtsanspruch zurückzieht - dem des Volkes nämlich -, will man einem anderen staatlichen Kontrahenten nicht gestatten. Der soll - so lautet die Anklage - bloß Macht ohne Dienst am Volke sein, so dass über die Macht der Richterspruch festeteht: Ihr gehört der Boden entzogen, den sie in Ermangelung ihres höheren völkischen Rechtfertigungsgrundes ja ohnehin nicht hat. So dass das, was jeder Staat zu den selbstverständlichen Grundlagen seiner Souveränität zählt, nämlich die bestimmende Macht über sein lebendes Inventar, genannt Volk, zu sein, sich in diesem Fall ganz prinzipiell nicht gehört.

Groß Erkundigungen eingeholt bei der ausländischen Volksmannschaft und bei der nachgefragt, wo denn der Schuh drückt und wie die Wunschzettel so aussehen, die das Selber-Bestimmen im Staat anlangen, hat freilich keiner der politischen Anwälte, die wegen des verletzten "Selbstbestimmungsrechts" unhaltbare Zustände aufdecken. Die betreffen ja gar nicht die banalen Sorgen und Nöte, die Volksgenossen so haben - und die ihnen im Übrigen von denen beschert werden, die sich ob ihres unbeugsamen Mutes zu "unpopulären Maßnahmen" daheim auf die Schulter klopfen. Die Rolle eines Berufungstitels für staatliche Machtansprüche wird "das Volk" zeit seines Lebens nicht mehr los, erst recht nicht, wenn es auch noch im Völkerrecht Einzug hält; bloß ist es da eben der Rechtstitel, unter dem einer fremden Souveränität die Ausübung ihrer Macht ganz prinzipiell und radikal bestritten wird, weil und sofern das eigene Staatsinteresse dies gebietet: Für die sich selbst ins Richteramt berufenden Instanzen bezeugt das andernorts verletzte "Selbstbestimmungsrecht des Volkes" ihr Recht, die Ansprüche einer anderen staatlichen Souveränität, die die aus ihrer Macht ableitet, zu bestreiten - und sich mit denen, die man selbst vertritt, gegen diese in ein absolutes Recht zu setzen.

Darüber allerdings bekommt diese lausige idealistische Floskel eine Wucht, die ganz den Charakteren entspricht, die sie so gerne im Munde führen. Immerhin steht sie ja für den durch nichts mehr zu versöhnenden Staatswillen, einem anderen Souverän dessen hoheitliche Verfügungsgewalt über seine Bürger zu bestreiten, und reklamiert so ideell die eigene Zuständigkeit für sie. Und das ist kein Antrag auf zwischenstaatliche Verbrüderung, sondern die Ansage, dass der Verkehr mit diesem Staat von Haus aus und überhaupt sich als bloße Rücksichtnahme auf die Machtmittel versteht, über die der ja wirklich verfügt.

Doch pflegen die Vertreter des "Selbstbestimmungsrechts" sich von denen nicht abschrecken zu lassen. Sie tun ihr Bestes, damit aus dem von ihnen erlassenen Richterspruch über die Untragbarkeit eines Herrschaftswesens auch eine Vollzugsmeldung erwächst, und darüber schlägt dann manchen Völkern eine große Stunde. Gegenwärtig erfahren die im Osten - teils schon in vollen Zügen, teils noch gar nicht oder noch zu wenig - den Genuss des Rechts, das in westlichen Demokratien beheimatet ist und dessen schärfste Anwälte in Bonn am Rhein sitzen: Sie machen den für jedes Recht geltenden Witz praktisch wahr, dass aus Rechten immer nur das wird, woran der Macht gelegen ist, die sie gewährt.

Völker auf dem Weg zur Selbstbestimmung

Was zunächst die Völker betrifft, die nach verbreiteter hiesiger Auffassung in ersten Schritten ihr "Recht auf Selbstbestimmung" wahrgemacht und sich des Völkergefängnisses entledigt hätten, in dem sie bisher hausten, so belehren schon die weiteren "Schritte in die richtige Richtung", über die westlicher Sachverstand Bescheid weiß, wer es da welchen Rechtsansprüchen rechtmacht.

Zuallererst steht für die betreffenden Staatsgebilde an, dass aus der Konkursmasse des "Realen Sozialismus" so etwas wird wie "stabile Verhältnisse". Gemeint ist damit keinesfalls ein Zustand, in dem ein Volk - jetzt, wo es seine alte Herrschaft los ist - seine Angelegenheiten in die eigenen Hände nimmt und sich an das Aufziehen eines Versorgungswesens macht, von dem jeder hat, was er braucht, und basta. Das wäre ja Kommunismus, und den hatte ja sowieso keiner im Auge, der sich im Osten gegen seine Herrschaft in Opposition begab. Wenn aus letzterer nun vor allem "Stabilität" erwachsen soll, so sind damit Verhältnisse gemeint, in denen von oben nach unten in geregelten Bahnen und unangefochten geherrscht wird und eine politische Elite das Volk ganz gründlich von der Mühe entlastet, erstmal herauszufinden, was man aus welchen Gründen am gescheitesten wie regelt. Dem kundigen Wirken dieser Politmafia entspringen dann "Verhältnisse", denen von westlicher Seite die Anerkennung gar nicht versagt werden kann: Sie sind goldrichtig, weil sie den politisch, ökonomisch und sonst wie geltend gemachten Ansprüchen auf Nutzbarmachung der neu etablierten Staatsgewalten fürs eigene nationale Interesse schon von sich aus dienen wollen und sich entsprechend denen mit dem Ersuchen nach viel "Hilfe" andienen. Letztere kommt in Form des frisch importierten Segens einer "Marktwirtschaft" nebst ihrem politischen Überbau eines "Parteienpluralismus", und schon machen die Völker ihre nächste Erfahrung mit der richtigen Reihenfolge von Subjekt und Objekt der Bewegung, die da stattfindet. Sie staunen nicht schlecht darüber, dass sie bei ihrer Lebensführung mit Härten vertraut gemacht werden, die sie bislang nur von den Elendsgemälden her kannten, mit denen die alten Staatsideologen ihnen den Kapitalismus schlecht machen und sie zur Zufriedenheit mit dem eigenen Laden animieren wollten. Und während sie so blöd staunen und in der Kunst des Einteilens neue Fertigkeiten entwickeln, kehrt hierzulande Zufriedenheit ein über den Stand und die weiteren Perspektiven, zu denen sich die "Fortschritte des Selbstbestimmungsrechts" herausgebildet haben - und die aufmunternden Grußadressen an die Völker, die sich so erfolgreich selbst bestimmt haben, reißen nicht ab.

Wo die imperialistische Einmischung und Zersetzungskunst noch auf ihren letzten durchschlagenden Erfolg warten muss, lässt sich gleichfalls studieren, dass das "Selbstbestimmungsrecht" so viel zählt, wie die Interessen und Mittel der staatlichen Macht reichen, die hinter ihm steht und auf Einlösung pocht.

So hat der bekannte Vielvölkerstaat Sowjetunion nicht nur so viele Völker wie Rechtsgründe, ihm wegen deren verhinderter "Selbstbestimmung" alle guten Gründe fürs Ausüben der Macht abzusprechen. Er hat sogar schon Völker auf seinem Boden, die auf dem Weg in die richtige Richtung sind und sich von ihrer Union verabschieden. Es ist zwar erst einmal nur ein separatistischer Nationalismus, bei dem sich auswärtige Geschäftspartner allemal vorbehalten, ob sie ihn als nützlichen Wahnsinn begrüßen oder als schädlichen Trend bekämpft sehen wollen. Beim "verrottenden Imperium" Sowjetunion ist aber die Sache klar. Da wird jeder Aufruhr enttäuschter Nationalisten als Wahrnehmung des "Selbstbestimmungsrechts" diplomatisch geadelt, weil das die feindliche Macht wunschgemäß zersetzt.

Eine deutsche Spezialität ist es, mit dem Pochen auf völkische Selbstbestimmungsrechte ein bisschen nationale Bewegung gegen die Moskauer Zentrale und ihre bisherige Staatsordnung überhaupt erst in die Wege zu leiten: Die Wolgadeutschen hätten ihre Nationalität ja fast vergessen, wenn sie nicht von Bonn als Repräsentanten des "Selbstbestimmungsrechts des deutschen Volkes" entdeckt und zum Berufungstitel für bundesdeutsche Obhutsrechte ernannt worden wären. Vor allem ist klar, dass den deutschen Brüdern und Schwestern in der DDR endlich zu ihren Rechten verholfen werden muss. Insofern die nämlich nach Lesart der hiesigen Staatsdoktrin ohnehin kein eigenes Volk darstellen, sondern "Landsleute im anderen Teil" derselben Nation sind, leitet sich deren "Selbstbestimmungsrecht" umstandslos aus genau dieser Doktrin ab und fällt ganz damit zusammen, dass sie von der BRD mitregiert werden. Also haben sie im Namen ihrer Selbstbestimmung auf all das ein Recht, was "wir" für den Zweck der Vervollständigung der deutschen Herrschaft für unerlässlich halten:

Erstens eine freie Wahl, in der das Volk dem Anschluss an die BRD grundsätzlich zustimmt und Politiker ermächtigt, die die Wiedervereinigung abwickeln - jeder andere Wahlausgang wäre nämlich der Beweis, dass die SED mit ihren undemokratischen Strukturen das nationale Selbstbestimmungsrecht der Deutschen noch ein letztes Mal aufgehalten hätte.

Zweitens die Sicherstellung des "Demokratisierungsprozesses" durch den Import von Mitteln, der SED-Herrschaft endgültig den Garaus zu machen. Damit "freie Wahlen" ihren Zweck, den vom Volkswillen getragenen Sturz der SED-Regierung, auch wirklich erfüllen, muss man der Selbstbestimmung des DDR-Volkes eine Chance geben; also braucht es in dessen Namen die entsprechenden Wahl-Alternativen, praktischerweise Parteien, die sich gleich selbst als Ableger der hiesigen Wahlvereine organisieren und den völkischen Willensbildungsprozess in gesamtdeutscher Verantwortung vorantreiben. Freie Deutsche wählen "Einheit", was denn sonst!

Drittens ist das bundesdeutsche Recht auf Annexion viel zu kostbar, als dass es so einfach dem "Gang der Ereignisse" überantwortet bleiben könnte, was aus ihm wird. Also läuft politisch und ökonomisch ein "Stufenplan" zur Einheit im Rahmen einer "Vertragsgemeinschaft", die sich um die Einrichtung von Verhältnissen kümmert, deren innere Sachgesetzlichkeit ganz von selbst auf den Ruin der bisher in Kraft befindlichen Staatsanliegen hinausläuft und auch darüber dem Volk nahebringt, dass ohne Wiedervereinigung sein deutsches Selbstbestimmungsrecht einfach nicht zu haben ist. Das sehen freie Deutsche immer ein. Viertens schließlich ist pausenlos der möglicherweise sich ja noch haltende Irrtum zu korrigieren, die von hiesiger Seite erfolgte Berufung auf den Volkswillen drüben wäre eine Aufmunterung zum Einbringen eigener Vorstellungen, das Staatswesen der DDR betreffend. Da muss schon der Halbherzigkeit entgegengetreten werden, mit der so manche ihren Staat"reformiert" haben wollen, und wo gar noch Vorstellungen von einem eigenen, auch noch irgendwie "sozialistischen" Deutschland anzutreffen sind, sind deutliche Worte in Sachen "Deutschland einig Vaterland" genauso fällig wie der Wink mit den nationalistischen Massen, die man unter dieser Parole für seine eigene Sache schon mobilisiert hat. Das leuchtet dann auch dem letzten freien Deutschen ein.

Dies alles ist selbstverständlich kein Verstoß gegen das "Selbstbestimmungsrecht des Volkes", sondern bloß die konsequente Weiterpflege der eigenen Verantwortlichkeit, zu der man sich in dessen Namen entschlossen hat. Schließlich war ja nie etwas anderes versprochen worden, als - so die Machtverhältnisse es erlauben - die staatliche Obhutspflicht über das Volk selbst wahrzunehmen, zu deren Ausübung man dessen bisherige Regierung noch nie befugen konnte. Und wenn dieses imperialistische Einmischungsrecht von Teilen des Volkes auch noch selbst getragen wird, macht das die Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechts von oben nur noch zu einer umso runderen Angelegenheit: Die neuen Herren, ach denen da gerufen wird, haben sich ja schon von selber aufgemacht.

Noch eine imperialistische Erfolgsmeldung zum Schluß

Die selbsternannte Alternative zur imperialistischen Dialektik von Volksrecht und Staatsmacht, die Sowjetunion, entlässt bekanntlich die Völker, die sich aus ihrem Machtbereich davonmachen, mit denselben Glückwünschen und Respekt vor dem "Selbstbestimmungsrecht der Völker", mit denen sie vom Westen in praktische Obhut genommen werden: Ihrem eigenen Bekunden nach wollte sie diesem Volksbedürfnis nichts mehr in den Weg stellen.

Doch auch diese Variante der Berufung eines Staatswillens auf ein Interesse des Volkes ist verlogen bis dorthinaus, darüberhinaus und im Unterschied zur imperialistischen Verwendung des Völkerrechts auch eine politische Dummheit der allerersten Klasse, wenngleich einem das egal sein kann.

Es mag ja sein, dass die Sowjetunion von der Preisgabe ihrer bisherigen Machtpositionen und Einflussbereiche, die sie bis dato für ihre Geltung als Weltmacht gar nicht zufällig für unverzichtbar hielt, die Auffassung hegt, dies würde dem Weltfrieden insgesamt, der Entspannung im "gemeinsamen Haus Europa" insbesondere und den Völkern auf dem Erdball sowieso und überhaupt dienen. Die Wahrheit ist dieser schöne Idealismus jedenfalls auch dann nicht, wenn im Kreml an ihn unverdrossen geglaubt wird.

Vielmehr räumt die Weltmacht UdSSR ausschließlich deswegen nach allen anderen jetzt auch noch ihre europäischen Machtpositionen, weil sie endgültig und mit Nachdruck den Zustand loswerden will, als die Macht, die sie selbst darstellt, von der westlichen Allianz nicht geduldet zu werden. Dafür nimmt sie sich just den Titel zu Herzen, der ihr von westlicher Seite als der Grund ihrer prinzipiellen Nichthinnehmbarkeit auf dem Feld der ideologischen Kriegsführung vorgehalten wird, sucht selbstkritisch und findet auch prompt bei sich die Indizien, die in ihrem Machtbereich sehr belastend für "Fremdbestimmung" von Völkern und so gegen sie sprechen - und gibt sich davon betroffen: Sie entlässt sie aus ihrem Machtbereich, kaum zeigt die imperialistische Einmischung ihre bekannte"zentrifugale Wirkung". Dass sie dies tut, ist, da liegen die westlichen Geier des "Selbstbestimmungsrechts" im Osten ganz richtig, die entscheidende Bedingung dafür, dass aus diesem Recht unter westlicher Anleitung so Erfreuliches geworden ist. Zugleich aber ist dieser Rückzug von bislang geltend gemachten Rechts- und Machtpositionen alles andere als der erste Schritt zur Selbstaufgabe: Es ist die höchst widersprüchliche Form, in der die Weltmacht Sowjetunion sich als die Macht, die sie ist, zu behaupten sucht.

Dass sie sich mit dieser Politik schwächt, wird die Sowjetunion schon selbst wissen; dass sie darüber ihren erklärten Gegner stärkt, wird sie schon noch merken - schließlich ist ihre berechnende Deutung vom losgelassenen "Selbstbestimmungsrecht der Völker", das dann, wenn es frei ist, von selbst zur "unverbrüchlichen Freundschaft mit der Sowjetunion" zurückfindet, nicht mal mehr ein idealistischer Wunsch: Angesichts des Machtzuwachses, den der Westen mit seinem Einstieg in die alten Ostblockstaaten jetzt schon erzielt hat, ist diese Deutung bloß noch dumme Berechnung. Und dass mit diesem Machtzuwachs alle uralten Rechtspositionen ihr gegenüber nur umso nachdrücklicher in Anschlag gebracht werden und auf diesem Wege die Preisfrage ihres Erhaltungsintertesses an gewisse Schmerzgrenzen steigt, wird sie auch noch erfahren müssen. Da schlägt dann dem "Selbstbestimmungsrecht" eine ziemlich laut krachende Entscheidungsstunde, von der sie auf dem Kaukasus, im Baltikum, in Georgien, in... ja jetzt schon den Vorgeschmack genießt.