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Dieser Artikel ist in der MSZ 1-1990 erschienen.

Systematik

Anmerkungen zur Tarifrunde 1990
MODIFIKATIONEN EINER ERFOLGREICHEN AUSBEUTUNG

1.

Es gehört zur Unsitte gewerkschaftlicher Tarifpolitik, jeweils aufwendig und verantwortungsvoll an einer Sache zu arbeiten, die in Gewerkschaftskreisen 'Findung der Tarifforderung' heißt. Unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, der zu erwartenden Zugeständnisse der Unternehmer, bei denen man am besten vorher nachfragt; unter Einbeziehung bisheriger gewerkschaftlicher Tarifpolitik, auf deren Kontinuität man zu achten hat; mit Blick auf das, was gesellschaftspolitisch vordringlich erscheint oder einfach in die politische Landschaft paßt; bei Einschätzung dessen, was vor der Öffenttichkeit bestehen kann... wird kompliziert runter- und hochgerechnet und eine Forderung ermittelt, die opportun und machbar erscheint. Für 1990 ist ein Forderungspaket herausgekommen. Dem kann man entnehmen, daß statt nur einer drei Hauptforderungen nebeneinander erhoben werden. Daß für die Millionen Metall-Arbeitnehmer diesmal mehr herausspringt, läßt sich aus dem Forderungskatatog keineswegs folgern. Ermitteln läßt sich aber, wie die IG Metall ihren Katatog gefunden hat.

2.

Die Tarifrunde 1990 sollte eigentlich hauptsächlich dafür genutzt werden, die Jahrhundertforderung 35-Stunden-Woche zu Ende zu bringen. Als Instrumente der Durchsetzung waren die bisher praktizierten vorgesehen Zugeständnisse an die Arbeitgeber, die auf flexible und differenzierte Arbeitszeiten aus sind; spürbare Zurückhaltung an der Lohnfront.

Dieser Strategie der größten Einzelgewerkschaft der Welt hat der Boom einen Strich durch die Rechnung gemacht. Eine Gewerkschaft, die nur ehrenwerte Gründe für ihre Potitik kennt, läßt sich natürlich davon beeindrucken, daß ihre als Kampfprogramm gegen die Arbeitslosigkeit gedachte Arbeitszeitverkürzung nicht mehr in die wirtschafts- und sozialpolitische Landschaft paßt. Das entnimmt sie der hohen Politik und den politischen Parteien, die allesamt längst die Arbeitslosigkeit als Problem Nr. 1 verabschiedet und sich über den weiterhin andauernden Boom dazu durchgerungen haben, daß "wir" mit der Arbeitslosigkeit leben können. Vor diesem Hintergrund beginnen Gewerkschaftsfunktionäre an ihrer eigenen Ideologie, daß nämlich Arbeitszeitverkürzung Arbeitsplätze schaffe, zu zweifeln. Vor allem aber läßt sich die IG Metall von einer Offensive der Unternehmen beeindrucken. Die haben nämlich ihre ablehnende Haltung gegenüber weiterer Arbeitszeitverkürzung jetzt mit dem verlogenen Angebot unterstrichen, daß sie bereit wären, mehr Lohn herauszurücken. Erst haben die freiwilligen "Nachschläge" diverser Unternehmen die IG Metalt schwer gefuchst, weil diese Gratifikationen ohne das tarifpartnerschaftliche Mittun und Zutun der Gewerkschaft zustandekamen. Dann kam in Gewerkschaftskreisen der Vorwurf der Bestechung auf gegen die Nachschlagspraxis der Unternehmer und ihren Antrag, aus der Tarifrunde 1990 eine reine Lohnrunde zu machen. Schließlich hat die Tarifkommission auf die Signale, die sie dem Boom und der Taktik der Unternehmer ablauschen wollte, ihrerseits taktisch reagiert: Nach 6 Jahren Enthaltsamkeit soll 1990, wenn auch nicht nur, so doch auch eine Lohnrunde stattfinden.

3.

Die Forderung einer Lohnerhöhung von 9 Prozent will die Gewerkschaft ums Verrecken nicht ohne extra Begründung stehen lassen. Die aberwitzigste ist die, die mit der eigenen Tarifpolitik von gestern argumentiert: Nach Jahren der Reallohnsenkung, wegen des Verzichts auf Lohnerhöhungen in den letzten Tarifverhandlungen sei es nun wieder an der Zeit, an kräftige Einkommensverbesserungen der Arbeitnehmer zu denken. Diese Preisform leuchtet unmittelbar ein. Mit den Opfern von gestern haben "wir" uns zurecht heute etwas verdient. Doch läßt es die Gewerkschaft nicht bewenden mit diesem moralischen Allgemeinplatz. Das wichtigste an der Forderung ist ihre Berechtigung, und die will konkret berechnet sein. 3% der Forderungssumme sollen dem Ausgleich der Inflationsrate dienen, die das Statistische Bundesamt ausgerechnet hat. 3-4 % darf man guten Gewissens für den Produktivitätsfortschritt fordern, zumal die Unternehmer selbst angeben, daß sie zu einer Lohnerhöhung dafür und in dieser Höhe bereit wären. Weitere 2-3 % sollen dabei helfen, dem schreienden Unrecht ein bißchen Rechnung zu tragen, daß Unternehmensgewinne explodieren, während die Arbeitnehmer immer weniger vom großen Kuchen haben. Bewiesen sein soll mit diesem letzten Topf auch, daß die Lohnforderung "erfüllbar" ist, weil es den deutschen Unternehmen ja blendend geht.

Da kann dann munter gestritten werden, welche Abteilung aus der gewerkschaftlichen Forderungsarithmetik überhaupt oder in welchem Maße in Anschlag gebracht wird. Eigenartigerweise weiß man jetzt schon in der Öffentlichkeit, daß am Ende um die 5% herauskommen werden.

4.

Die Jahrhundertforderung bleibt im Katalog. Das ist die Gewerkschaft ihrem konservativen Charakter schuldig: zu beenden, was sie einmal angefangen hat. Freilich braucht es bei diesem leidigen Tarifthema Angebote an die Gegenseite, damit sie dem Anliegen der IG Metall doch noch Verständnis entgegenbringt. Alle möglichen Modelle flexibler und differenzierter Arbeitszeiten hält die Gewerkschaft für denkbar, auch die Überlassung der Entscheidung über die Arbeitszeiten an die Betriebe und ihre Betriebsräte. Auf den Ruf der Arbeitgeber nach einem Stillhalteabkommen in Sachen Arbeitszeitverkürzung bis 1992 kontert die IG Metall mit der Versicherung, daß 1990 die weitere Arbeitszeitverkürzung nicht zu beginnen brauche und daß man über die Länge des Wegs bis zur 35-Stunden-Woche mit sich reden lasse. Versprochen wird auch, daß in Jahren mit Arbeitszeitverkürzung die tarifvertragliche Lohnerhöhung niedriger sein werde.

5.

Mit ihrer uralten Begründung für die Arbeitszeitvcrkürzung, daß sie nämlich ein wirksames Mittel gegen die Arbeitslosigkeit sei, hält sich die Gewerkschaft zunehmend zurück. Ihr scheint es besser in die Zeit zu passen, an das von den Unternehmern ausgerufene Märchen vom Facharbeitermangel zu glauben, um dann die Notwendigkeit von Arbeitszeitverkürzung dagegen ins Feld zu führen: Mehr Freizeit könne von den Unternehmern dazu genutzt werden, sich die Fachkräfte heran- und weiterzubilden, an denen es mangeln soll. Noch öffentlichkeitswirksamer ist freilich der aktuelle Einfall in den politischen Chefetagen der IG Metall, kürzere Arbeitszeit in der Bundesrepublik würde Übersiedlern, die hier Arbeit suchen, mehr Chancen bieten, hier einen Arbeitsplatz zu finden. Was macht es schon, daß sich kein Arbeitgeber an diese Idee hält -, Hauptsache, der Zusammenhang zum heißen Thema DDR ist hergestellt.

Das weiterhin schlagendste gewerkschaftliche Argument an die Adresse der Arbeitgeber und gegen ihre Sturheit besteht darin, ihnen die Vorteile der bisherigen Arbeitszeitverkürzung vorzurechnen. Hätten die Unternehmen doch, ohne Behinderung durch die Gewerkschaft, die kürzeren Arbeitszeiten der Mitarbeiter durch Ausdehnung der Maschinenlaufzeiten und Leistungsverdichtung vorteilhaft für sich ausgenutzt.

6.

Als dritte Forderung im Katalog soll das freie Wochenende "besser gesichert" werden. Einerseits die gewerkschaftliche Reaktion auf einen Zustand, den sie selbst mit herbeigeführt hat Ihr grünes Licht für flexible Arbeitszeiten und längere Maschinenlaufzeiten seit eh und je explizit seit 1984, als die Sonne der 35-Stunden-Woche zu scheinen begann, hat dazu geführt daß jeder Betrieb, der will, auch samstags arbeiten läßt. Die Gewerkschaft fordert mal wieder, was längst abgeschafft ist. Das freie Wochenende, nicht als Muß, sondern als freiwillige Entscheidung der Mitarbeiter, die der Betrieb samstags antreten läßt, könnte einen formvollendeten Vertrag ergeben, in dem die Ausnahmen die Regel bestätigen.

Andererseits meint die IG Metall mit ihrem "Kampf ums freie Wochenande" öffentliches Kulturgut erwischt zu haben, auf das jeder, selbst Pfarrer und Philosophen, stehen müsse. Dieser Punkt im Forderungskatalog erscheint der Gewerkschaft besonders billig und recht.

7.

Die gewerkschaftliche Kampagne zur Reduzierung der Überstunden gilt als flankierende Maßnahme zur Unterstützung der Tarifforderung nach weiterer Reduzierung der Arbeitszeit. Daß derzeit ein Überstundenboom besteht, also allerorten die individuellen Arbeitszeiten nicht kürzer, sondern länger sind, bereitet der Gewerkschaft ein Glaubwürdigkeitsproblem mit ihrer Jahrhundertforderung, deren eine Wirkung ja auch sein sollte, daß die Arbeitnehmer ein vergrößertes "Freizeitbudget" bemerken. Jetzt ergeht an die Leute die gemeine Aufforderung, auf den Mehrverdienst aus Überstunden, den sie gut gebrauchen können, zu verzichten, damit die Tarifpolitik der IG Metall besser aussieht.

8.

Die vielen blödsinnigen Argumente und Begründungen, die sich die Gewerkschaft für die Rechtfertigung ihrer Forderungen und die sich die Unternehmer dagegen einfallen lassen, sind allein für die Öffentlichkeit gedacht. Dort findet - neben den Mauscheleien, die die Kumpane Tarifpartner unter sich ausmachen - der ganze aufgeblasene Streit statt. Dorthin gehört die gar nicht bemerkenswerte Besonderheit dieser Tarifrunde, in deren Vorfeld sich die Tarifparteien vor dem fürchterlichsten Arbeitskampf warnen, den die Bundesrepublik je gesehen hat. Dieselben Kontrahenten, die sich seit einem halben Jahr gegenseitig die Schuld geben, ein Arbeitskampfklima anzuheizen, treffen sich dann zur 1., 2. und 3. Verhandlungsrunde, um in schwierigen Verhandlungen auszuhandeln, womit die Wirtschaft leben und die Gewerkschaft sich sehen lassen kann. Vielleicht wird auch ein Streik aus diesem sauberen Verhältnis, wenn die Gewerkschaft meint, das Angebot der Unternehmer mit ihrer Ehre nicht vereinbaren zu können. Doch was ändert das schon an der endgültigen Regelung deutscher Wertarbeit 1990, wenn die Gewerkschaftsmitglieder sich als Material der gewerkschaftlichen Machtdemonstration aufstellen müssen, damit statt 5% 5,5 % draus werden zur "Erhaltung der Gewerkschaftsfreiheit".

9.

In dem öffentlichen Streit kommen die Millionen Arbeitnehmer, über deren Löhne und Arbeitszeiten die Tarifparteien eine Entscheidung fällen, auch vor - als Statisten einer Veranstaltung, mit der sie im Grunde nichts zu tun haben. Manchmal müssen sie dafür herhalten, daß man in ihrem Namen streitet. Wobei es kaum einen Unterschied macht, ob die Kapitalistenseite oder die Arbeitnehmervertretung sich auf das Arbeitsvolk beruft. Beantragt haben sie sowieso nichts, die Menschen in den Betrieben und Fabriken. Also wird nicht ihr Interesse ermittelt, sondern Institute mit Auftrag erfragen die objektive Meinung des Arbeitnehmers zur Tarifrunde, damit sich die Tarifparteien das öffentlich um die Ohren hauen können. Da erfährt der Durchschnittsarbeiter vom Arbeitgeberverband und aus der Zeitung, daß er "jetzt mehr Geld, nicht kürzere Arbeitszeit" will. Derselbe Durchschnittsarbeiter liest in derselben Zeitung die Botschaft der IG Metall, daß er hochprozentig viel von mehr Freizeit und einem freien Wochenende hält. Auf die Umfrage nach der Streikbereitschaft gibt es auch klare Antworten: überhaupt nicht - unentschieden - ziemlich sehr. Warum auch nicht! Daß Streik ein Mittel für sie sein könnte, haben sie sich längst abgewöhnen lassen. Aber ihre Meinung, die haben sie, sogar zu dieser Tarifrunde. Und zum Ergebnis erst recht.

10.

So demokratisch - in autonomer Partnerschaft der Tarifparteien -, so abgehoben vom Sinn fürs Interesse derer, die vom Lohn leben und die Arbeitszeiten (auch am Wochenende) abdienen müssen, so billig wird mit halben Prozenten und halben Stunden geregelt, daß die erfolgreiche bundesdeutsche Ausbeutung weitergeht. Dafür sind die paar Modifikationen, die die Tarifrunde 1990 der Arbeitswelt beschert, allemal gut.