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Dieser Artikel ist in der MSZ 1-1990 erschienen.

Systematik

Ein weiterer Dominostein im Selbstauflösungsprozeß des Ostblocks
DER AUFSTAND DES BRAVEN SCHWEJK

Was soll das gewesen sein? Hunderttausende Tschechen und Slowaken schwenkten ihre Nationalflagge, gingen danach brav wieder arbeiten, holten am Feierabend erneut ihre Fähnchen hervor, beteten am Wallfahrtssonntag zur heiligen Agnes, hielten sich überhaupt mindestens so gerne im Veitsdom auf wie auf dem Wenzelsplatz und ließen sich von einem alten Kardinal segnen, weil sie "die Morgenröte bringen". Eine Revolution soll das gewesen sein?

Einer verhaßten Herrschaft soll damit endgültig und unwiderrufbar der Gehorsam entzogen worden sein: Powidltatschkerl statt Molotowcocktails - seit wann stürzt ein "unmenschliches Regime" über ein "Lächeln"? Selbst den zuhauf aus dem Boden schießenden westlichen Freunden der Revolution kommen da Bedenken:

"4 Maschinengewehre genügen, um hunderttausend mutige Menschen in die Flucht zu schlagen." (Wochenpresse, Wien)

"Ein Volk kämpft um Demokratie"

Worum ging es denn der Opposition: Allen voran ein Dichterfürst und ein in die Jahre gekommenes "Symbol des Widerstands", forderten tschechische Oppositionelle die Regierung zum Rücktritt auf und die Gewährung freier Wahlen, damit sie endlich Herren dienen können, die sie zuvor demokratisch wählen dürfen. Damit stand freilich von vornherein etwas mehr auf dem Spiel als die fade Alternative zwischen Kohl und Lafontaine. Ausgerechnet die alte "machtgierige Nomenklatura" sollte ihr (Unrechts-)Regime durch die Gewährung des Rechts auf Abwahl des Machtmonopols der KPC zur Disposition stellen.

Mit Demokratie hat das einerseits überhaupt nichts zu tun: Seit wann steht denn bei freien demokratischen Wahlen das Herrschaftssystem zur Disposition: Da darf man sich doch immer nur zwischen alternativen Herrschaftsfiguren entscheiden und schuldet für dieses Recht seinen gewählten Führern bedingungslosen Gehorsam. Demokratische Wahlen sind also das glatte Gegenteil von Kapitulation vor einer unzufriedenen Opposition. Schließlich ist es ein demokratisches Dogma, daß sich kein anständiger westlicher Politiker dem "Druck der Straße" beugen darf; dem hat man die bewaffnete Staatsmacht entgegenzusetzen - statt sich mit seinen Protagonisten die Regierungsgeschäfte zu teilen, wie es die Prager "Stalinisten" vorexerzieren.

Andererseits haben die Völker der Tschechen und Slowaken ihre Reife für die Demokratie in massenhaften Demonstrationen unter Beweis gestellt: Ihre "Revolution" hat darin bestanden, daß sie einen neuen Staatspräsidenten, den Dichter Havel, vom alten Parlament bekommen haben; daß ein früherer Parlamentspräsident, der ehemalige "Reformkommunist" Dubcek rehabilitiert und wieder ins Amt gesetzt worden ist; und daß sie demnächst in freien Wahlen die KPC aus Regierung und Parlament abwählen dürfen. Seitdem bestätigen alle befragten Bürger der CSSR vor westlichen Fernsehkameras, wie glücklich sie jetzt seien und daß es jetzt mit "unserem Lande" nur noch aufwärts gehen könne.

Der Grund der blau-weiß-roten Revolution: Das Ende des Ostblocks

Wieso zeigte sich eigentlich das tschechoslowakische Volk gerade im Spätherbst '89 und "für alle gänzlich überraschend" so störrisch? Hat sich etwa jüngst die Lebenslage in Prag, Pilsen und Brünn entscheidend verschlechtert? Hat sich das "stalinistische Regime" gerade jetzt besonderer Gemeinheiten gegen sein Volk schuldig gemacht? Weder auf den Demonstrationen noch in den unzähligen Interviews der Opposition war davon die Rede.

Warum dann? Immerhin haben sich die Tschechen doch all die Jahre mit ihrer kommunistischen Partei arrangiert und brachten nicht einmal eine gescheite Opposition zustande. Herr Havel war bei westlichen Theaterfreunden beliebter als bei seinen Landsleuten. Im Unterschied zu den Polen und Ungarn waren diese hierzulande für ihre Bravheit und Angepaßtheit geradezu verschrien und noch vor einem Monat durfte ein tschechischer Oppositioneller im österreichischen Fernsehen über seine Landsleute herziehen, weil sich diese "ihren Widerstand durch ein bißchen Wohlstand vom Regime abkaufen lassen".

Diese kreuzbraven Patrioten sollen über Nacht zu lauter Freiheitshelden mutiert sein, die der Herrschaft über sich endgültig überdrüssig sind?

Daß die Tschechen plötzlich auf den Straßen demonstrierten und die Ablösung der alten Herrschaft forderten, hat einen anderen Grund. Die sowjetische Erlaubnis, wonach jeder ehemalige "Satellit" seine politische und ökonomische Staatsraison frei wählen kann, hat in Polen die Machtübernahme einer katholischen, antikommunistischen und BRD-orientierten Opposition ermöglicht. In Ungarn setzt die KP-Nachfolgepartei selbst die Demontage letzter Reste von Staatskontrolle über die Ökonomie durch, und in der DDR ist nicht einmal die staatliche Fortexistenz eines Warschauer-Pakt- und RGW-Mitglieds gesichert. Nach dem Umschwung in der DDR sah sich die KPC mit ihrem Standpunkt, in ihrem Staat keine politischen Reformen im Sinne von Perestroika zuzulassen, ohne Rückhalt im Ostblock und statt dessen der Kritik aus den ehemaligen Bruderstaaten von wegen "Stalinismus" ausgesetzt.

Dem hatte die KPC ruckartig die"Notwendigkeit einer politischen Neuorientierung" entnommen. Zumal ihr ökonomische Neuerungen sehr sympathisch waren. Sie hatte ja selber schon versucht, jenseits der RGW-Verpflichtungen und auch gegen sie mit dem Westen ins Geschäft zu kommen und sich verstärkt am Weltmarkt zu orientieren. Durch das Ausscheren von drei der wichtigsten Partner aus dem RGW stiegen diese Versuche in den Rang eines "ökonomischen Sachzwangs" auf. Dann stellt sich auch die Konkurrenzsituation zu den ehemaligen Bündnispartnern verschärft dar: Es kommt darauf an, beim Anknüpfen dieser wichtigen neuen Beziehungen nicht in Rückstand zu geraten. So hat sich die CSSR ganz schnell an die Spitze der Bewegung gestellt, die "Krise des RGW" ausgerufen und die Auflösung dieses"Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe" überhaupt gefordert.

Daß die KPC so darauf bedacht war, im Ausbau der Beziehungen zum Westen keine Chance zu verpassen, ist im übrigen auch der Grund dafür, weshalb sie sich so bereitwillig im letzten Sommer unter Mißachtung aller Abmachungen mit der DDR dem westdeutschen Anspruch auf deren Bürger dienstbar gemacht hat. Die regierende Partei der CSSR hatte also selber ihr Volk schon sehr gründlich über die Unzufriedenheit mit ihrem System instruiert. Daß dann in der DDR in knapp 14 Tagen eine "Wende" vollzogen wurde, in der die SED dem "Realen Sozialismus" abgeschworen hat, das hat den Menschen in der CSSR das Beispiel verschafft, das sie nur nachzuahmen brauchten. Als ob sie Gorbatschows unsäglichen Sinnspruch "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben! " als Marschbefehl aufgenommen hätten, bemerkten die Tschechen und Slowaken, daß die Abhalfterung ihrer KP-Herrschaft nicht nur ging, sondern billigst zu haben war: Man mußte sie nur noch fordern.

"Ökonomische Neugestaltung mit Marktelementen"

Lange bevor die ersten Demonstranten am Wenzelsplatz gegen die "Fremdherrschaft" loszogen, wurden die Prager Genossen mit den Verhältnissen zu ihren Bruderstaaten unzufrieden und gingen daran, ihren Status im Bündnis und damit auch ihre eigene ökonomische Staatsraison zu überdenken und umzugestalten. Schon die längste Zeit war die KPC über die "Unzuverlässigkeit" der Polen und Ungarn besorgt, die für die Abwicklung ihrer Westgeschäfte und Schuldendienste zunehmend als Partner im östlichen Wirtschaftsbündnis ausfielen. Auch die in der Sowjetunion mit der Perestroika angeschaffte Wirtschafts- und Versorgungskrise ließ sie zunehmend an der Nützlichkeit ihres Wirtschaftsbündnisses zweifeln.

"Was aus der Perestroika und den sowjetischen Wirtschaftsreformen wird, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt niemand sagen. Ich war vor kurzem in der Sowjetunion. Da habe ich nicht einmal ein Bier bekommen." (Adamec bei seinem Wienbesuch im September)

Als mit der ungarischen Einstellung des Baus von Nagymaros dem fast fertiggestellten tschechischen Kraftwerk Gabcikovo der nötige Stau- und Flutraum im wahrsten Sinne des Wortes abgegraben wurde, galt das der Prager Regierung als "Verrat an der gemeinsamen Planung" und als ein weiterer Beweis, daß man selbst in so entscheidenden Fragen wie der nationalen Energieversorgung mit den ehemaligen Bruderstaaten schlecht fährt. Derartige leidvolle Erfahrungen haben die Prager Kommunisten lange vor dem "heißen Herbst" dazu veranlaßt,

"das bisherige Außenhandelsregime neu zu überdenken und eine ökonomische Umgestaltung einzuleiten, die auch vermehrt die westlichen Nachbarn in unsere Wirtschaftsbeziehungen einbezieht." (Rude Pravo)

Indem sie künftig vermehrt auf den Weltmarkt als Reichtumsgrundlage ihrer Nation setzen will und dafür auch ein "ökonomisches Reformprogramm mit mehr Marktelementen" in Angriff nimmt, ist die KPC selbst die Initiatorin der Infragestellung ihres bisherigen Staatsprogramms. Diesem Umstand verdankt die jetzige Oppositionsbewegung ihren bislang einzigen Sprecher mit "ökonomischem Sachverstand" sowie ihr Wirtschaftsprogramm.

"1968 war Komarek dann in Prag beim wirtschaftlichen Reformteam um Ota Sik dabei. Wie eine halbe Million weiterer Reformkommunisten fiel er nach dem Einmarsch in Ungnade. ... Erst vor vier Jahren erlaubte die Führung dem zum Marktwirtschaftler gewandelten Ökonomen, mit Mitarbeitern seiner Wahl im neuen "Prognose-Institut" Alternativen zu erarbeiten, die nun Basis des Oppositionsprogramms sind." (profil, Wien)

Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewußtsein: Brave Schwejks werden aufsässig

Daß eine Neudefinition der tschechischen Staatsraison von oben angesagt war, hat überhaupt erst eine oppositionelle Massenbewegung gegen die KP entstehen und landesweit aktiv werden lassen. Solange der tschechische Kommunismus in ein funktionierendes Bündnis eingebettet war und von der sowjetischen Führungsmacht abgesichert wurde, hatte bis auf eine Handvoll Dissidenten und Republikflüchtlinge kein Tscheche ein Problem, sich bei aller staatsbürgerlichen Raunzerei mit dem System zu arrangieren, in dem er lebte. Seitdem Gorbatschow die Einheit von Nationalismus und Kommunismus im Ostblock zur Disposition stellt, wetteifern die Staaten des einstigen "Sozialistischen Lagers" um die radikalste Selbstkritik an ihrem Geschwätz von gestern und um die möglichst zügige und grundlegenste Aufgabe der Staatskontrolle über die Wirtschaft und das öffentliche Leben, also um die Einführung von Demokratie und Markt westlicher Spielart zur Errettung der Nation. Einerseits ging damit auch den braven tschechischen Nationalisten die Grundlage ihres bedingungslosen Gehorsams flöten: die Alternativlosigkeit ihrer kommunistischen Herrschaft. Andererseits wurde die von der KPC noch selbst initiierte Distanzierung vom RGW, die Zusammenarbeit mit westlichem Kapital und der EG, also die tendenzielle Absage an die real-sozialistische Planwirtschaft nicht etwa als "mutiger Reformschritt" willkommen geheißen, sondern als Ausdruck angekratzter Souveränität interpretiert: Na, wenn die selbst schon zugeben müssen, daß sie Mist gebaut haben! Plötzlich fiel es noch dem bravsten Mitläufer wie Schuppen von den Haaren, daß die politischen Direktiven, nach denen er sich all die Jahre gerichtet und eingerichtet hat, nichts als "40 Jahre Lügen" gewesen waren. Und ebenso plötzlich wußte auch ein jeder, daß seine bisherige politische Heimat ein einziger "Unterdrückungsmechanismus" gewesen war, der sich im Grunde "schon lange" überlebt hatte.

"Das System hat sich schon lange überlebt. Ein Gebäude aus 40 Jahren Lüge herrscht nur mehr durch Angst."

Worin denn die Lügen der alten Führung bestanden, die man sich so lange gefallen ließ, mochte am Wenzelsplatz offensichtlich niemand wissen; ebensowenig fragte man sich nach den Fehlern eines sozialistischen Plans, in dem Arbeiter "für ein Kilo Bananen ein Stunde Schlange stehen müssen". Indem man sich den KPC-Staat als einen einzigen "Unterdrückungsmechanismus" vorstellte, erklärte man sich den eigenen Schaden aus einer grund- und zwecklosen Feindschaft der bisherigen Führung gegen ihr Volk. Insofern waren die geäußerten Kritiken ausschließlich Ausdruck der begriffslosen Abneigung: Diese Herrschaft will man nicht mehr haben! Das wußte man aber wirklich erst, seitdem sie nicht mehr bedingungslos galt und sich selber zu Reformen entschieden hatte.

Aus demselben Stoff war das zweite kritische Schlagwort, unter dem die tschechoslowakische Opposition den regierenden Kommunisten einen heißen Herbst bescherten: "Ende der 21-jährigen Fremdherrschaft".

Komisch, solange die "mit Hilfe fremder Truppen an die Macht gekommene Büttelherrschaft" klappte, wollte niemand groß auf der "Fremdherrschaft" rumreiten. Kaum sahen sich die tschechoslowakischen Kommunisten von ihren alten Bündnispartnern im Stich gelassen, wurden die Repräsentanten der alten und jetzt entwerteten Linie untschechischer Aktivitäten verdächtigt. Das war der ganze Inhalt des generellen Mißtrauens, das Jakes, Husak, Zawadil und Genossen entgegenschlug. Deswegen entschied sich plötzlich die politische Glaubwürdigkeit an der Kardinalfrage tschechoslowakischer Vergangenheitsbewältigung, ob der jeweilige Politiker Produkt oder Opfer der russischen Intervention gewesen war.

Umgekehrt speiste sich auch die ganze Anziehungskraft und Vertrauenswürdigkeit des bislang wenig bekannten und noch weniger geschätzten Dissidenten Havel sowie des bis vor einem Monat vergessenen Alexander Dubcek ausschließlich aus dem Umstand, sich nicht mit den bisherigen "Bütteln Breschnews" gemein gemacht zu haben. Havel trat mit überhaup keinem anderen politischen Programm außer dem Wunsch nach waschecht tschechischen Führern an, profilierte sich vor allem als Opfer der alten KPC und kokettierte noch kurz vor Übernahme des Präsidentenamts damit, kein politisches Programm zu haben.

"Übrigens habe ich mich auch in der Zeit, in der ich mich noch für einen solchen (Sozialisten) ausgegeben habe, nie mit irgendeiner konkreten politischen oder öknonomischen Doktrin, Theorie oder Ideologie identifiziert." (Havel, profil)

Dubceks politisches Programm interessiert inzwischen kein Schwein.

"Alexander Dubceks mit 20 Jahren Staub der Geschichte überzogene Ideen vom 'Sozialismus mit menschlichem Antlitz' sind bei den Demonstranten weder besonders bekannt noch besonders geschätzt" (profil)

Kein Wunder, daß so eine Sorte politischer Opposition die Verbesserung der Lebenslage der Bevölkerung ausschließlich zur Ausgestaltung der nationalistischen Lebenslüge heranzitiert, wonach die Abhängigkeit von einer garantiert eigenen, demokratisch gewählten Herrschaft irgendwie auch den Vorteil des einzelnen befördere; falls der schnöde Materialismus überhaupt vorkommt.

"Jetzt scheint es doch so weit zu sein, daß die Arbeiterbasis auf die Linie der Protestbewegung einzuschwenken beginnt. Das ist auch insofern bemerkenswert, als auf dem Wenzelsplatz bisher kaum eine wirtschaftliche oder soziale Forderung erhoben wurde." (Presse)

Stalinisten üben Selbstkritik und geben dem widerspenstigen Volk nach...

Auf die Massenproteste hat die KP in einer höchst ungewöhnlichen und in Demokratien undenkbaren Weise reagiert. Spätestens nachdem die sowjetische Unterstützung für die inzwischen längst geschaßte KPC-Regierung Jakes ausgeblieben war, hat sie vor dem sehr prinzipiellen Mißtrauen ihrer Untertanen gegen die kommunistische Führung kapituliert. Die als "Stalinisten" verschrienen Genossen wurden abgesägt, erst ein von den 68-er Ereignissen unbefleckter Adamec, später der mit denselben Attributen ausgestattete Calfa zum Premier ernannt, eine Koalition mit waschechten Antikommunisten eingegangen, die alte Politik "unverzeihlicher Fehler" geziehen, der Einmarsch offiziell als Unrecht gegeißelt und der Abzug der sowjetischen Truppen gefordert. Die Kalkulation dieser Distanzierungspolitik ist eindeutig: Man will der Bevölkerung ihre Vorbehalte abkaufen, indem man diesen weitgehend zustimmt. Zwar wird damit nicht ein "Fehler" der alten Regierung ausgeräumt, ja nicht einmal thematisiert, geschweige denn ausgebessert, sondern nur ein moralisches Selbstdarstellungsprogramm der neuen Mannschaft absolviert; andrerseits hat die demonstrierende Bevölkerung auch nie etwas anderes als Distanzierungen und moralische Bekenntnisse verlangt. Gerade wenn der Führung bei ihrer selbstbezichtigenden Vergangenheitsbewältigung der Vorwurf "Wendejacken" entgegenschlägt, weist das zugleich bei aller Ablehnung auf eine sehr prinzipielle Identität zwischen politischem Angebot und Bürgergroll hin: Während die oben demonstrieren, wie "ehrlich" sie es meinen, kritisieren die skeptischen Demonstranten die politische Berechnung der moralischen Zurschaustellung, die es ihnen schwer macht, ihren Politikern wirklich zu glauben. In beiden Fällen ist also Moral als Identitätsstifter zwischen dem Volk und seiner Herrschaft sehr gefragt. Ob die Tschechen bei der Betätigung dieses Bedürfnisses den Kommunisten bei den kommenden Wahlen noch eine Machtbeteiligung zugestehen, oder ob sie ausschließlich einem abgetakelten Reformsymbol, aufgeweckten Priestern und nationalistischen Dichtern ihr Vertrauen schenken, ist in jedem Fall nur eine Frage schlechten Untertanengeschmacks.

...weil sie selbst nicht mehr an die Überlegenheit des Kommunismus glauben

Auf jeden Fall ist mit dem Vorwurf des politischen Taktierens zwecks Machterhalt die Politik der KPC nicht ausreichend gekennzeichnet; gerade darin unterscheiden sich die Prager Kommunisten ja wohl von keiner anderen Partei. Vor allem aber ist damit überhaupt nicht erklärt, warum Kommunisten, die bislang ganz fest an die "historische Mission" ihrer Partei und deren Führungs-und Alleinvertretungsanspruch glaubten, plötzlich mit einem Vaclav Havel als Staatspräsidenten und christdemokratischen "Vaterlandsverrätern" in der Regierung leben können und für sie auch die Rolle des Juniorpartners von lauter Antikommunisten in einer künftigen Regierung längst "keinen Weltuntergang" mehr bedeutet. Daß die KPC nicht zuletzt mit den Wahlen am 7. Juni ihren Führungsansprüch und die "Systemfrage" von der Entscheidung der Massen abhängig macht, liegt an der von ihr selbst eingeläuteten Reform der tschechischen Staatsraison: Weil sie von der sozialistischen Planwirtschaft zugunsten "wettbewerbsfördernder Marktelemente" und freier Konkurrenz mehr oder weniger Abstand genommen hat, hält sie auch ihr eigenes Machtmonopol für keine unbedingte Notwendigkeit mehr. Auch in Sachen ideologischer Betreuung der Massen haben die ehemaligen "Stalinisten" schnell umgelernt.

"Vor allem geht es darum, die Krone möglichst rasch konvertibel zu machen. ...Dies ist aber weniger ein finanzpolitisches Problem als vielmehr ein wirtschafts- und sozialpolitisches. Vor allem muß die tschechische Wirtschaft rasch Anschluß an das Produktivitätsniveau des Weltmarkts suchen. ... Auch in der Preisgestaltung wird man die traditionelle Subventionspolitik zugunsten echter Preise neu überdenken müssen..." (Calfa)

Die alte Planwirtschaft im Dienste der "Arbeiter und Bauern" hat praktisch und ideologisch ausgedient. Die politische Preisfestsetzung, mit der die Kommunisten die Lebensgrundlagen ihres Volks garantierten und woraus sie unter dem Titel "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" die Überlegenheit ihres Systems gegenüber dem menschenverachtenden Kapitalismus ableiteten, wird neuerdings als Verfälschung "echter" Preisverhältnisse abgestempelt. Statt dessen bietet die KPC als "tschechoslowakisches Reformprogramm" Nationalismus pur, indem sie dem Volk im Namen der ökonomischen Sachzwänge des Weltmarkts schwere Zeiten zur Beförderung des Wiederaufstiegs der Tschechoslowakei verordnet. Der Dienst an einem Wirtschaftswohl, das das Einkommen der Proleten ausschließlich als Variable des Geschäfts behandelt und die realsozialistischen Subventionen des Arbeiterlebens als eine einzige wirtschaftliche Unvernunft geißelt - das ist der "marktwirtschaftliche Gehalt" des neuen tschechoslowakischen Nationalismus, bei dessen Beförderung sich die KPC unterschiedslos mit ihren ehemaligen politischen Gegnern einig weiß. Ob die Tschechoslowaken ihren kommunistischen Machthabern diese selbstvollzogene Wende zu Geschäft und Gewalt Marke West mit neuem politischen Vertrauen danken oder lieber ausschließlich von in der Wolle gefärbten Antikommunisten wie Canorgursky und Havel beherrscht werden wollen, über diese trostlose Alternative darf bei den kommenden "ersten freien Wahlen seit 40 Jahren" abgestimmt werden. Eines steht auf jeden Fall jetzt schon fest: So verständnisvoll hat noch keine politische Herrschaft der Welt die Bestreitung ihrer Macht zur Kenntnis genommen!