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Dieser Artikel ist in der MSZ 6-1989 erschienen.

Systematik

Radikale Linke sammeln sich
SCHLECHTE ZEITEN FÜR GUTE MENSCHEN

Ein Zirkel von Leuten, der sich "Radikale Linke" nennt, hat den "Entwurf einer politischen Grundlage" veröffentlicht (u.a. in Konkret 11/89; alle Zitate daraus). Unter dem Titel "Wir wollen die Kraft der Negation sein" fordert er Leute, die noch prinzipielle Einwände gegen den hiesigen demokratisch-kapitalistischen Laden haben, zu einer "auch selbstkritischen Diskussion" über die politökonomischen und ideologischen Erfolge der Republik wie über das Scheitern der Opposition auf.

"Wie tief auch die staatslinke Sehnsucht sitzt, endlich einmal Ja sagen zu können und dabeizusein, läßt sich vielleicht am deutlichsten an der Begeisterung für den Bundespräsidenten v. Weizsäcker ablesen. Aus einem stinknormalen CDU-Politiker, der in Berlin regierte wie Barschel in Schleswig-Holstein oder Albrecht in Niedersachsen, wurde plötzlich 'unser aller' Repräsentant, weil er die imperialistische Politik der BRD mit besinnlicheren Reden begleitet und fördert als sein in zackigem SA-Deutsch geübter Vorgänger." (45)

"Rosa-grün ist insofern ein seltsamer Hoffnungsträger, als von ihm in Wahrheit erstaunlich wenig erwartet wird..." (47)

"Gorbatschows Lob westlicher Werte, der Marktwirtschaft und ihrer Spitzenmanager, der Friedensfähigkeit der CDU-Regierungspolitik, der Fähigkeit des Imperialismus, globale ökologische Krisen zu bewältigen - all das ist, ob erzwungen oder freiwillig, eine ideologische Aufwertung des Kapitalismus. Sie ist für die Herrschenden hierzulande besonders wertvoll, weil der Chef der einstmals am meisten bekämpften und dämonisierten Macht sie vornimmt." (45)

Soweit ein paar zutreffende Bissigkeiten gegen die hiesige politische Kultur, in deren Ablehnung man sich offenbar einig ist. Das Urteil über den Geisteszustand der Republik, vor allem aber darüber, worum es in diesem unserem Lande tatsächlich geht und was Oppositionelle dagegen einzuwenden haben, ist damit natürlich noch nicht fertig.

Die Opposition: verraten und verkauft

Die Leute vom Kreis "Radikale Linke" blicken sich nach einer Opposition in der BRD um und machen eine traurige Entdeckung: Sie stellen fest, daß sie allein stehen. Ihre vielen Freunde, die Massen aus den "sozialen Bewegungen", haben sich zum Stimmvieh der Grünen und anderer staatstragender Parteien gemausert, DKPler stellen fest, daß deutschkommunistische "Orthodoxe" wie "Reformer" sich im Anwanzen an die SPD einig sind, und bei allen, denen die radikalen Linken bisher immer konstruktiv beigesprungen sind, sind sie, die Linken, jetzt entschieden unbeliebter als die Republik, an der alle angeblich mal eine gemeinsame Kritik hatten. Die Radikalen stellen weiterhin fest: Nicht sie haben sich verändert, sondern die anderen. Mag sein.

Sicher falsch ist die Erklärung, die die radikalen Linken für den Übergang abgeben, den ihre ehemaligen Freunde und Bündnispartner hinter sich gebracht haben. Daß die mit dem Protest gegen die BRD-Politik angefangen und bei unbändig viel "politischer Verantwortung" für die BRD sowie bei ganz normalen staatsbürgerlichen Mitmacher-Touren gelandet sind, halten die Radikalen für eine "Anpassung an bürgerliche Normen und kapitalistische Ideologie", die auf dem Verrat an den gemeinsamen kritischen Idealen bzw. auf deren Verfälschung beruhe. Das ist ein großer Selbstbetrug über die Positionen, die die Radikalen weiterhin und jetzt erst recht radikal vertreten wollen. Daß die Selbsteinordnung in den bürgerlichen Betrieb keinen Verstoß gegen diese Ideale darstellt, sondern in deren eigener Logik liegen, kann man nämlich noch der Sammlungs-Plattform der Radikalen selbst entnehmen.

Parole Ökologie

"Zwar hat die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit offensichtlich mit den inneren Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus zu tun (Zwang zum Wachstum, Akkumulation, rücksichtslose Profitlogik, Konkurrenz), aber eine Überwindung des Kapitalismus, die sich in der Abschaffung des Privateigentums erschöpft, bedeutet noch keine Lösung der Krise der äußeren Natur. Weil die traditionellen Organisationen hierauf zumeist gar nicht oder nur hilflos geantwortet haben, haben sich neue Organisationsformen mit neuen (sozialen) Bündnisstrukturen entwickelt. Allerdings wird der Begriff 'Gattungsfrage' (alle sind von der Umweltzerstörung betroffen) auch für ökodiktatorische Lösungen und 'volksgemeinschaftliche' Strategien mißbraucht, werden Umweltprobleme mehr und mehr zum ideologischen Rekrutierungsfeld für rechtsradikale Gruppen, wobei die Übergänge zum grünen Spektrum manchmal fließend sind (Gruhl, Weltbund zum Schutze des Lebens usw.). In dem Maße, in dem radikale ökologische Forderungen (Umwälzung des Industriesystems) durch Umwelttechnik und ökokapitalistische Strategien ersetzt werden, wird der Ökologiebegriff seines politischen Inhalts beraubt und kann neu besetzt werden - als Marketingstrategie oder als Blut-und-Boden-Ideologie." (43)

Gerade Leute, die sich das Prädikat "Kraft der Negation" zugelegt haben, können manchmal einfach nicht nein sagen. Als vor einem Jahrzehnt viele Leute gegen die Verpestung der natürlichen Lebensgrundlagen Protest einlegten, alles und jeden als Schuldigen daran in Betracht zogen und die Rettung der Natur zugunsten der Menschheit als das Gebot der Stunde ausriefen, da mochten radikale Linke mit soviel Bewegten nicht streiten, und das mögen sie heute immer noch nicht. Sie sind zufrieden, daß in den ökologischen Beschwerden über den Menschen, der den Hals nicht vollkriegen kann, auch 'Wachstum' und 'Profitgier' von Kapitalisten ihr Fett abkriegen. Es stört sie nicht, daß in der Bezichtigung von so ziemlich allem und jedem als Verursacher der Verpestung überhaupt kein Verursacher derselben mehr festzustellen ist; es stört sie nicht, daß jedes Wissen darüber abhanden kommt, mit welchem Gegner das geschädigte Interesse an intakten Lebensgrundlagen es zu tun hat. Das halten sie nicht für einen theoretischen Fehler mit fatalen politischen Konsequenzen, sondern für einen Fortschritt. An der Ideologie, die die widrigen Folgen der kapitalistischen Näturbenutzung zu einer 'Gattungsfrage' aufbläst, leuchtet ihnen selber ein, daß als Opfer der Verpestung wie als Instanz der Kritik ein höchstes 'WlR ALLE' angeführt wird. Sie halten nämlich eine solche hochmoralische Verallgemeinerung für einen wuchtigeren Einwand als das Interesse derer, die nicht nur in der Arbeit, sondern auch beim Essen, Trinken und Schnaufen für das Tragen der Kosten zuständig sind, die die erfolgreiche kapitalistische Kalkulation so mit sich bringt. Und als Beweis für diese Wucht gilt ihnen der Umstand, daß die Ideologie von der Menschheitsfrage Ökologie so viele Protestierer einte.

Wucht hat der Titel einer 'Gattungsfrage' Ökologie schon, allerdings in einer komischen Richtung. Er erklärt die "Umwelt" zu einem Gegenstand gemeinsamer Sorge aller Menschen, wo jeder das seine zu tun hat, nimmt die Herren Kapitalisten und überhaupt jeden Menschen in eine moralische Pflicht, die mit den tatsächlich geltenden Rechten und Pflichten nichts zu tun hat, und verzichtet dafür auf den Gegensatz des Normalmenschen zur kapitalistischen Reichtumsproduktion, der im Auftakt der Kritik mal als beschädigtes Interesse bekannt war. Wenn das die linke Position ist, dann brauchen sich ihre radikalen Vertreter allerdings über nichts von dem zu wundern, was sie beklagen. Wenn sie selber eine klassenübergreifende Verantwortlichkeit für die "Umwelt" vertreten, dann ziehen die anderen nur die Konsequenz der gemeinsamen Überzeugung, wenn sie Abstand nehmen vom Protest und selber verantwortlich werden, sei es durch edle Einfalt der persönlichen Lebensgestaltung, sei es durch konstruktives Mitmischen bei der politischen Macht, die in der Tat die 'Verantwortung' für die Modalitäten der Produktion ausübt. Dann ist es auch sehr naheliegend, wenn im Titel Ökologie Rechtsradikale das Recht des Volkskörpers auf Erhaltung seiner physischen Brauchbarkeit entdecken, und erst recht konsequent, wenn Geschäftsleute mit der Masche 'Es war schon immer etwas teurer, verantwortlich zu sein' den Leuten Geld aus der Tasche ziehen. Und das Schönste: Das ist keineswegs die Entpolitisierung, sondern die politikgemäße Formulierung des moralischen Titels.

Parole Selbstbestimmung der Frau

"Der Kampf von Frauen um Selbstbestimmung wurde auf eine sozialdemokratische Gleichstellungspolitik reduziert, die nur die Teilhabe am Kapitalismus 'gleich' unter Frauen und Männern aufteilen will. Propagiert werden konservative Ideologien 'neuer Mütterlichkeit', die die Frauen letztlich für bevölkerungspolitisch-rassistische Ziele zu gewinnen suchen." (41)

Auch an der Parole 'Selbstbestimmung der Frau' müssen die radikalen Linken bemerken, daß sie nicht mehr kämpferisch geltend gemacht wird, sondern als gehobener Titel für die fortgesetzte Unterordnung der Frauen unter die Ansprüche von Kapital und Staat prächtige Dienste tut. Und das soll mit der Parole nichts zu tun haben? Ein Kampf, der die Bestreitung der weiblichen Dienste im Arbeitsleben und in der Keimzelle des Staats zum Ziel hat, wäre doch für keine SPD und keine Bevölkerungspolitik zu vereinnahmen! Er hätte auch mit Weiblichkeit nichts zu tun und könnte auf die Ehrung der Frau als besonderes Wesen gern verzichten, weil das die Ideologie zur Benutzung ist. Wenn aber statt dessen eine Benachteiligung der Frauen beklagt wird, dann ist diesem Anliegen mit dem Angebot einer Quotenregelung überhaupt nicht Unrecht getan, sondern Rechnung getragen: Dann hat die Benutzung der Frauen nicht mehr den Charakter der Zurücksetzung, und das weibliche Gerechtigkeitsempfinden steht nicht mehr als Einwand gegen das Gemeinwesen, sondern als Beitrag zu ihm da. Und wenn Frauen ihre Benutzung als Fremdbestimmung auslegen und dagegen als weibliches "Selbst" anerkannt sein wollen, dann ist das schon der Rassismus der Weiblichkeit. Wenn dem im bürgerlichen Betrieb, wie er läuft, Anerkennung gezollt wird - und sei es durch die Einrichtung von Frauenlehrstühlen an den Unis -, dann ist es doch wohl kein Wunder, daß feministisch Bewegte davon abkommen, die Anerkennung der besonderen Weiblichkeit als Kampfposition gegen den Betrieb zu vertreten. Ganz zu schweigen davon, daß Konservative und überhaupt alle Bevölkerungspolitiker das Hochhalten des moralischen Naturwesens Frau ganz ohne Verrenkung für sich benutzen können.

Ob in Sachen Ökologie oder Feminismus: Die Radikalen übersehen völlig, daß diejenigen, von denen sie sich verraten fühlen, die gemeinsamen Ideale keineswegs aufgegeben, sondern nur Konsequenzen gezogen haben, die in diesen Idealen selber liegen. Sie wollen nicht wahrhaben, daß der über allen Interessen schwebende Verantwortungstitel 'Umwelt' und das Anerkennungsbegehren der Frauen keineswegs in ihr Gegenteil verdreht werden, wenn sie als Parolen der Parteienkonkurrenz und als Spielwiesen einer politischen Kultur Verwendung finden, die nicht einen einzigen Einwand gegen die politische Herrschaft mehr enthält. Und nachdem die geliebten Protestbewegungen einen Erfolg ganz gewiß reklamieren können: die Bereicherung der BRD-Politik mit neuen Legitimationstiteln für die Güte unserer Herrschaft, kommt den Radikalen nicht einmal der Verdacht, ob sie sich nicht selber mit Titeln bewehrt haben, die der Sache nach nichts als die Sehnsucht nach guter Herrschaft ausdrücken und als Kritik billig zu vereinnahmen sind - kaum spricht die existierende Herrschaft den Titeln ihre Anerkennung aus, schon ist alle kritische Luft aus ihnen heraus, und statt zur Beschwerde gegen die Herrschaft dienen sie zu deren Schmuck.

Wer hat uns verraten?

Daß das der Zustand der Republik ist, können die radikalen Linken nicht genug beklagen. Daß sie es nicht nur mit einem "Sieg der staatstragenden Kräfte" (45), sondern zugleich mit einem Resultat derjenigen Opposition zu tun haben, für die sie als grüne Fundis, DKP-Bündnispartner, "Arbeiterkampf"-Schreiber etc. voller Überzeugung ein Jahrzehnt lang die nützlichen Idioten gespielt haben, das darf in ihren Augen nicht sein. Nur zur Friedensbewegung merken sie einmal an, daß deren Tour, Deutschland als das bedauerliche Opfer eines künftigen Krieges auszurufen, in den offiziellen Nationalismus gemündet habe (45), aber das ist auch schon die einzige Ausnahme. Weil sie an den oppositionellen Idealen nichts auszusetzen haben, fällt ihre Kritik an den ehemaligen Mitoppositionellen ganz psychologisch-moralisch aus. Man hat vollstes Verständnis dafür, daß die weiland Bewegten sich einseifen ließen bzw. inzwischen selber als Einseifer tätig sind:

"Am Anfang der in vielfältigen Formen zu beobachtenden Anpassung an bürgerliche Normen und kapitalistische Ideologie steht häufig die politische Niederlage, das Gefühl, einem übermächtigen Gegner nicht gewachsen zu sein. Zwischen 'Rebellion ist gerechtfertigt' und 'Respekt vor Weizsäcker' liegt hundertfach 'Rebellion lohnt sich nicht'. So entsteht die Selbstreduzierung zu WahlbürgerInnen, die ihre politischen Hoffnungen darauf reduzieren, dann wenigstens besser regiert zu werden... " (46)

Sehr interessant - die radikalen Linken halten selber die Niederlage der Opposition bzw., was dasselbe ist, den Sieg der Staatsgewalt für ein Argument der politischen Willensbildung: Der Untertanenschluß, daß der erzwungene Respekt vor der Macht einen guten Grund für den Respekt für sie sein soll, das leuchtet ihnen ein. Zumindest für die bewegten Massen lassen sie gelten, daß der Polizeiknüppel auf dem eigenen Kopf dafür spricht, sämtliche eigenen Belange der Obrigkeit zu überlassen und um deren Wohlwollen einzukommen. Dieses polit-psychologische Verständnis für die Untertanenseele ergänzen die Radikalen durch die herzlichste moralische Verachtung. Die staatstreuen Linken bei den Grünen und in der SPD sind nicht nur der "Repression" gewichen, sondern haben sich dafür auch noch bestechen lassen:

"Der bürgerliche Staat erweist sich als reich und klug genug, denen, die als Intellektuelle und politische FührerInnen die Rückkehr in seine Arme befördern, ein gediegenes Plätzchen zu bieten. Die Metropole BRD lebt so gut von 'Überschüssen' aus aller Welt, daß sie lukrative Angebote machen kann." (46)

Damit ist die Frage, ob man besser im demokratischen Kapitalismus Karriere oder gegen ihn Opposition machen soll, endgültig von einer Frage der Einsicht und einer daraus sich ergebenden Parteilichkeit zu einer Frage des Charakters geworden. Da stehen die Radikalen, gleichgültig, was sie aus welchen Gründen wollen, natürlich hervorragend da, schon allein deswegen, weil (was wir gar nicht bestreiten wollen) die Karrieristen so miese Charaktere sind. Nur: Ist es das Selbstbewußtsein moralischer Überlegenheit, wofür es sich lohnt, ein radikaler Linker zu sein?

Abschied vom Abschied vom Proletariat

Die linksradikale Abrechnung mit denen, die die Radikalen so lange für ihre Genossen oder ihre Basis gehalten haben, hat den Charakter des Streits darum, wer die alten Titel für moralisch lupenreine Anliegen zu recht weiterbenutzen darf. Zugleich reflektieren die Radikalen darauf, daß diese Titel faktisch durch die offizielle Republik von den "Abtrünnigen" bis zu Rita Süßmuth "besetzt" sind, und ergänzen die Parole: Weiter so, wie die anderen nicht mehr wollen, durch die andere: Zurück zu den linken Kernfragen, nämlich: Links heißt doch antikapitalistisch.

"Jede radikale linke Politik muß an der Produktion und an der Lage der Menschen in ihr ansetzen." (43)

Und wie sieht die Produktion und die proletarische Lage darin aus?

"Die moderne Arbeitsorgansisation isoliert die Erwerbstätigen an den Arbeitsgeräten und bürdet ihnen durch eine integrierte Steuerung eine hohe Verantwortung für die gesamte Kapitalmasse auf. Der Ausfall an einer Stelle gefährdet das Ganze. Dies fördert die Entwicklung eines - zum Teil (überwiegend für Männer) relativ hoch bezahlten - Einzelkämpfertums... Die Übertragung von Wissen auf Computer erteichtert die Auswechselung der Beschäftigten in vieten Arbeitsbereichen. Die Ware Arbeitskraft gerät so doppett unter Druck oder Preisverfall: durch anhaltende Arbeitslosigkeit und leichtere Austauschbarkeit.

Das Kapital nutzt diese Schwächung der Position der Erwerbstätigen für Flexibilisierung der Arbeitszeiten zur besseren Ausnutzung der Maschinerie, bei der Gesamtdauer der Beschäftigung und der Rotation von ArbeiterInnen...

Die Zersplitterung in reduzierte Stammbelegschaften, in GelegenheitsarbeiterInnen, in WanderarbeiterInnen (im Zuge der Europäisierung) und in eine wachsende Schicht Ausgegrenzter, die der Armut ausgesetzt werden (neben Frauen und Alten bereits viele junge Menschen) schwächt die Gewerkschaften...

...Je größere Sorgen sich viele Menschen um die Sicherung ihres Erwerbs machen müssen, desto tiefer fällt ihr Bewußtsein in den 'Gegensatz' Arbeitsplätze contra Ökologie zurück, um so eher suchen sie nach individuellen Lösungen als weitgehend rechtlose 'JobberInnen'." (42f.)

Man kann aus diesen kapitalismuskritischen Auslassungen eine Liste von Mitteln und Wirkungen der Ausbeutung herausziehen, die den Radikalen bekannt sind: Es gibt technische Umwälzungen der Produktion und Gewinne, die Arbeiter werden intensiver und ausgedehnter benutzt; das Kapital stellt freizügig ein und aus, die Verfügbarkeit der Arbeiter ist längst auf 24 Stunden täglich und 7 Tage in der Woche ausgedehnt; es gibt eine Lohnhierarchie und Lohnsenkung und außerdem die ständige Drohung mit dem Entzug des Lebensunterhalts. Um den ökonomischen Zusammenhang zwischen diesen Phänomenen kümmern sich die radikalen Linken nicht. Was die Hierarchie der Löhne - die vergleichsweise höhere Bezahlung der einen Tätigkeit, also auch die vergleichsweise niedrigere Bezahlung der anderen - mit der ökonomischen Rechenart des Kapitals zu tun hat, nach welchem ökonomischen Kriterium "rationalisierende und die Produktion automatisierende Techniken" eingeführt werden, weshalb bei der gesteigerten Produktivität der Arbeit immer die gesteigerte Ausnutzung von weniger Arbeitern herauskommt, davon haben sie keine Ahnung. Und daß die angeblich geschwächten Gewerkschaften bei diesem ganzen System der Ausbeutung kräftig mitmischen, davon wollen sie keine Ahnung haben. Wo sie mal nicht bloß aufzählen, sondern etwas Ökonomisches verlautbaren, produzieren sie reinen Unsinn. In einem Satz behaupten sie die Abhängigkeit des Kapitals von einzelnen dienstbaren Figuren (das haben sie wahrscheinlich aus UnternehmerverbandsBroschüren, wo ein angeblicher Mangel an Facharbeitern und sonstigen Spezialisten beklagt wird), im nächsten Satz verweisen sie auf die beliebige Ersetzbarkeit der Beschäftigten "in vielen Arbeitsbereichen". In welchen denn und warum? Egal.

An theoretischer Klärung der angeführten ökonomischen Phänomene haben die Radikalen null Interesse. Ihre Bekundung, an der "Produktion und der Lage der arbeitenden Menschen in ihr ansetzen" zu wollen, ist eine Phrase. Denn was sie mit einer begriffslosen Aufzählung abtun, das ist der tatsächlich geführte Klassenkampf, in dem eine ganze Klasse stets aufs Neue unter die Erfolgsgesetze der kapitalistischen Reichtumsproduktion gebeugt wird. Hier wird über das ganze Leben dieser Klasse, seine Härten und Annehmlichkeiten, entschieden, und es wird sehr frei einzig danach entschieden, wie ihre Benutzung der Vermehrung fremden Eigentums am besten dient; solange jedenfalls, wie das Menschenmaterial des Kapitals seine Rolle als 'arbeitende Bevölkerung' nicht kündigt und nicht gegen die lebenslange Erpressung mit dem Lebensunterhalt vorgeht. Das sehen die radikalen Linken nicht anders, sondern gar nicht. Den Klassenkampf den das Kapital tatsächlich führt, halten sie gar nicht für Klassenkampf. Klassenkampf ist für sie nicht die ökonomische Erpressung und Ausnutzung der Leute, und seinen materiellen Ausgang erblicken sie nicht darin, daß auf Seiten des Kapitals lauter Ansprüche auf künftige Leistung der Proleten akkumuliert werden und daß auf Seiten der Arbeiter nur der Zwang erneuert wird, sich jeder Anforderung zu unterwerfen. Von der Ausbeutung wollen sie nicht mehr wahrnehmen als in der moralischen Klage ausgedrückt ist, daß Arbeiter die ärmsten aller Schweine sind, was ihnen Blüm gerne bestätigen wird. Das Kapital ist für sie nicht die gesellschaftliche Macht des Geldes, das alles und jeden seiner Vermehrung unterordnet, kein ökonomisches Zwangsverhältnis - mögen solche Formulierungen auch bei ihnen vorkommen. Sie bestehen darauf, daß sie einen viel deftigeren Vorwurf an das Kapital hätten: Ihre Kritik ist, daß das Kapital eine Strategie sei, Widerstand im Keim zu unterbinden. Sie sind fest überzeugt, das Kapital sei furchtbar darauf angewiesen, seine Bewegungsfreiheit gegen kämpfende Arbeiter zu bewahren; was es von dieser Bewegungsfreiheit hat, außer daß es sie hat, das interessiert sie schon gar nicht mehr. Dieser strategische Wahn stiftet den Zusammenhang ihrer Aufzählung und die ökonomisch absurden Behauptungen gleich dazu: In der Hierarchie der Bezahlungen gibt es auch obere Stufen - ein Anschlag auf die Klassensolidarität durch Verleitung zu "Einzelkämpfertum"; die meisten werden schlecht bezahlt und herumgeschubst das müßte zwar in der Logik dieses Kalküls das Gegenteil sein, nämlich Anstiftung zur Solidarität, soll aber dasselbe sein, nämlich verhinderte Kampfmoral, diesmal durch Druck. Das Kapital schafft es, die Benutzung gewisser Arbeiter von der Gewährung von Lebensunterhalt unabhängig zu machen - das ist den Linken bei den Gelegenheitsarbeitern und bei den lohnarbeitenden Frauen aufgefallen - und die Radikalen sehen weit und breit keine ökonomische Benutzung, sondern die Absicht der "Zersplitterung". Was das Kapital auch unternimmt, nie gilt ihnen die Maßnahme als die Konsequenz einer ökonomischen Rechnungsart dieses Namens; sie wissen schon immer Bescheid, daß es nichts anderes sein kann als eine strategische Berechnung auf das Bewußtsein der Abhängigen, die darauf zielt, ihre Kampfbereitschaft zu brechen.

Was juckt es die Radikalen, daß eine Kampfbereitschaft, die zu brechen wäre, erst mal vorhanden sein müßte, aber nach ihrem eigenem Bekunden nirgendwo existiert. Diese Widerlegung ihres strategischen Wahns geben sie zu Protokoll, weil sie sie für den schönsten Beweis für ihren Glauben halten: Wenn nirgendwo Kampfgeist zu finden ist, dann sieht man doch, daß das Kapital mit nichts anderem beschäftigt sein kann als mit dem Exorzismus desselben. Es ist ein wasserdichtes Weltbild, in dem die radikalen Linken sich durch die Klage über die Abwesenheit eines kämpferischen Proletariats ein kämpferisches Proletariat herbeiphantasieren, das nur im Augenblick vom raffinierten Feind mattgesetzt ist. Dieses Weltbild ist nicht nur ein billiger Selbstbetrug, sondern ein sehr eingebildeter dazu: Kapitalisten und Politiker können beliebig viele Projekte auflegen und sie unbehindert durchziehen - immer sehen die radikalen Linken darin eine Strategie zur Unterbindung radikalen Linksseins im Proletariat und damit sich m Mittelpunkt der Welt.

Der Schwindel ist einfach zu schön, um links von den Grünen nicht glaubwürdig zu sein. Frustrierte Radikale müssen gerade konstatieren, daß ihnen die Massenbasis, die sie ein Jahrzehnt lang in den hofierten sozialen Bewegungen zu haben glaubten, abhanden gekommen ist. Da erinnern sie sich an ihren verkehrten Glauben aus ihrer Vorvergangenheit, daß die Proleten als die am meisten Gedeckelten notwendig rebellisch werden müßten, und entwerfen ein Szenarium, aus dem hervorgeht, daß die Arbeiterklasse die linke Massenbasis schon ist, wenn auch wegen der Kapitalstrategie erst der Möglichkeit nach.

Die Methode radikaler Weltbetrachtung erübrigt politisches Eingreifen

Die radikale Linke kündigt also die theoretische Wiedervereinnahmung des Proletariats zur potentiellen Massenbasis für linksradikalen Verbesserungswillen an. Daß Arbeiter gegen das Kapital ihr eigenes Interesse zu verteidigen haben, halten die Radikalen für eine vordergründige Betrachtungsweise, die sie den Proleten vielleicht zugestehen, die sie selbst aber nicht teilen. Ihrer Auffassung nach ist das geschädigte Interesse der Arbeiterklasse so etwas wie eine List der Weltgeschichte, sie zum kämpferischen Einsatz für alle linksradikalen Weltverbesserungsanliegen zu bringen, weshalb man dann, wenn man künftige Schädigungen fürs Proletariat absehen kann, als Linksradikaler optimistisch werden kann. Wer das nicht glaubt, führe sich Passagen wie die folgende zu Gemüte:

"Die radikale Linke geht davon aus, daß das Kapital in den kommenden Jahren die Klassenwidersprüche verschärfen und einen wachsenden Teil der Bevölkerung um eine einigermaßen gesicherte Versorgungsperspektive bringen wird. Es läßt sich noch nicht erkennen, welche Bewegungen mit welchen politischen Zielen daraus erwachsen. Der Katalog der Fragen, mit welchen die radikale Linke sich dabei auseinanderzusetzen hat, ohne schon heute mit einer Stimme antworten zu können, ist lang". (43) (Der "lange Katalog" umfaßt exakt eine Frage und drei Befragte. Gefragt wird, ob sie nach rechts oder nach links driften werden, und als Drifter sind die Gewerkschaften, die Frauen in den Gewerkschaften und die Arbeitslosen ins Auge gefaßt.)

Die radikalen Linken antizipieren also gravierende materielle Verschlechterungen für die Statisten der Nation und begründen darauf, ohne rot zu werden, ihre Hoffnung. Ihre Zuversicht lautet: Wenn es ganz knüppeldick kommt, müssen die sich ja wohl rühren. Erstens ist diese Kalkulation auf einen der Armut immanenten Zwang zum Widerstand absurd einen solchen Zwang gibt es nicht, höchstens den Entschluß, den Ausschluß vom Reichtum nicht mehr hinnehmen zu wollen, und der hängt vom Ausmaß der Armut überhaupt nicht ab. Auf solche Entschlüsse aber will die radikale Linke keineswegs selber hinarbeiten. Dem Proletariat Gründe dafür mitzuteilen, daß es seinen Status als Kalkulationsmasse aufkündigt, dafür sind sich radikale Linke zu fein; wahrscheinlich halten sie das für Bevormundung und den Zynismus der Spekulation auf eine Zwangslage der Leute für Achtung vor deren Persönlichkeit. Zweitens definiert in dieser Berechnung auf eine künftige Not des Proleten die Linke sich selbst: Die radikalen Linken pflegen den selbstbewußten Passivismus von Beobachtern, die abgeklärt zusehen, was andere Leute aus ihrer Lage machen, und die dann vom Standpunkt einer nur ihnen bekannten Welt-Notwendigkeit aus einen "Katalog" von "Fragen" aufstellen, in dem sie die Leute Sortieren in solche, die richtig, und andere, die verkehrt driften. In der von ihnen antizipierten Wahnsinns-Verschlechterung - "Kein Stein soll auf dem anderen bleiben" (44) - sehen sie eine Art geschichtlicher Notwendigkeit, an die zu rühren sie die letzten wären, und für sich einen Auftrag, dem sie gerecht werden müssen. Sie sind jetzt schon entschlossen, zu beobachten, ob und inwieweit die anderen Leute alles richtig machen, und widrigenfalls über deren schlechte Bedingungen und menschliche Schwachheiten untereinander zu disputieren. Es ist wohl überflüssig, den radikalen Linken vorzuhalten, daß sie sich so auf ewig in ihrer Abhängigkeit von den kapitalistisch hergestellten Umständen und von den Reaktionen der Leute einhausen. Etwas anderes als danach Ausschau zu halten, lehnen sie strikt ab. Schließlich wollen sie in einem höheren Auftrag handeln. Die Leute, die zu ihrem eigenen Schaden mitmachen, zu kritisieren, halten sie für das letzte, für angebracht aber, "Strategien zu entwickeln, die die Opfer der Modernisierungs-Offensive zusammenbringt und unter ihnen das Bewußtsein schafft, mit der Gesetzmäßigkeit des Kapitalismus und des Patriarchats brechen zu müssen" (44). Wie sie untereinander einen Pluralismus unvereinbarer Einwände gegen den Kapitalismus und entsprechend einen Pluralismus unvereinbarer praktischer Konsequenzen pflegen - "Herrschaft des Kapitals" und "Männerherrschaft" sind einander ausschließende Diagnosen, die sie mit einem "und" nebeneinander bestehen lassen, den Parlamentarismus halten sie für den Tod jeder gescheiten Opposition und zugleich für ein brauchbares Mittel derselben (44) -, so wollen sie jedem Menschen sein falsches Bewußtsein lassen, um alle zusammen durch "geeignete Strategien" zur Gemeinsamkeit zu manipulieren - wenn es solche Strategien denn gäbe. Sie selber werden nicht durch ein gemeinsames Wissen über die Natur des Gegners und durch dessen gemeinsame Ablehnung geeinigt - sie sind vielmehr stolz darauf, daß sie sich "nicht ohne Mißtrauen begegnen" (42). Gerade deshalb ist der Vorrat an Einigkeit enorm. Sie sind sich einig: 1. im Unwillen, theoretische Differenzen über den Kapitalismus und seinen Staat auszutragen und durch Klärung oder Trennung zu beenden; 2. im Unwillen, Differenzen zu den Adressaten auszufechten; 3. sind sie sich einig im berechnenden

Setzen auf eine"Bewegung", die der böse Kapitalismus ohne ihr Zutun erzeugen soll, und einig im Willen, im geschenkten Fall des Falles für ihre Anliegen abzusahnen.

Kennt man diese Geisteshaltung nicht irgendwo her? Es ist derselbe Opportunismus, mit dem radikale Linke vor einem guten Jahrzehnt die nunmehr vielgescholtenen Grünen aus der Taufe hoben. "Wir wollen die Kraft der Negation sein", steht über dem Manifest der linksradikalen Sammlung. Weniger angeberisch und ehrlicher wäre es gewesen, sie hätten geschrieben: Wir wollen ein Forum für den Wartestand, bis sich vielleicht wieder was aus der Taufe heben läßt, was fröhlicher als das derzeitige Eingeständnis des Scheiterns "linke Hoffnungen und Diskussionen okkupieren" kann.

Fazit

Zu bemerken, daß die sozialbewegten Massen, mit denen man sich mal einig wußte, ins gegnerische Lager übergelaufen sind, und das unter Mitnahme aller Titel der gemeinsamen Gegnerschaft, das wäre ja eine Chance gewesen. Man kann sich nämlich Rechenschaft über die doch praktisch bewiesene Affinität dieser Titel zum bürgerlichen Herrschaftsbetrieb ablegen, sich die bleibenden schlechten Erfahrungen mit dem Kapitalismus gescheit erklären und eine begründete Gegnerschaft aufziehen. Die radikale Linke hat daran kein Interesse. Die moralische Übertreibung bürgerlicher Ideale in Titel für die Absage an die bürgerliche Gesellschaft ist ihnen zu lieb geworden, um sie jetzt infrage zu stellen - bloß aufgrund einer vernichtenden politischen Bilanz. Um die Durchsetzung von Interessen und die Beseitigung von Schranken dafür ist es ihnen offenbar nie oder höchstens bedingt gegangen, unbedingt aber schon immer darum, aus einer weltgeistmäßigen Position einzuschätzen und auch mal was zu unterstützen, was sie vielleicht für Schwachsinn, aber für brauchbar halten. Auch jetzt in ihrem Manifest sagen sie nicht, wie der Laden hier läuft und was sie dagegen haben, damit man es sich überlegen und sich dafür entscheiden kann oder nicht. Stattdessen legen sie eine Lageeinschätzung vor, derzufolge die Welt in Gestalt einer möglichen künftigen Bewegung nach ihnen ruft. Der Ruf, den sie dem "Zeitalter der rosa-grünen Besoffenheit" ablauschen, fordert von ihnen, daß sie sich als Radikale zu Kreisen versammeln, sich dort als "schroffe Negationen" ausgeben und dieses radikale Nein gleich wieder als Voraussetzung für ein großes großes Ja interpretieren:

"Die schroffen Negationen sind die Voraussetzung für politische Utopien." (47)

In Wahrheit fühlen sie sich nämlich bloß wohl als Statthalter von Ideen, wie jedermanns Glück politisch bewerkstelligt werden könnte. Daß sie derzeit das Vereinnahmend-Versöhnliche der Ideale guter Herrschaft nicht groß heraushängen lassen, sondern den Gestus der Negation bevorzugen, halten sie nicht nur für kluge Anpassung an die Situation, sondern auch sich als persönlichen Heroismus zugute:

"In diesem Klima wird die radikale Linke es sehr schwer haben, an gesellschaftskritischem Bewußtsein und emanzipatorischen Utopien festzuhalten." (47)

Naja, das werden sie schon schaffen. Der Diagnose 'schlechte Zeiten für gute Menschen' ist ein Trost doch schon immanent: viel Feind, viel Ehr.