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Dieser Artikel ist in der MSZ 5-1989 erschienen.

Systematik


Eine lebendige politische Kultur oder: "Arbeite mit, plane mit, regiere mit!"

Angesichts der Gründungsakte der DDR als des besseren, des antifaschistischen, des humanistischen Deutschland kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, daß die deutschen Sozialisten die von ihnen kommandierte produktive ökonomische Basis wirklich nur als die Basis fürs Erblühen des Überbaus, fürs Wahrmachen alles Guten, Wahren und Schönen angesehen haben; dessen, wovon die besten Traditionen der deutschen Nation künden, was die real existierenden deutschen Staaten ihren Bürgern aber in der Praxis immer vorenthalten haben, mit den schlimmsten Folgen für Nation, Bürger und Staat. Von diesem Versprechen hat Deutschlands bessere Hälfte so viel gehalten, daß man ihr den Rang als

Kulturnation

wirklich nur mit bösem Willen absprechen kann. Auf dem Felde der hohen Kultur, dem eigentlichen "humanistischen Erbe", sowieso. Wahrscheinlich gibt es nirgends auf der Welt so viele Konzerte pro Einwohner wie in der DDR, an namhaften Theaterleuten und Kunstinterpreten fehlt es nicht (auch wenn immer wieder welche - legal oder illegal - rübermachen). Daß der Genuß beispielsweise an jenem 'dada-da-dam' zu Beginn einer Sinfonie des Tonsetzers mit dem holländischen Namen van Beethoven erst dann vollendet sein soll, wenn man hohes C und Septimalakkord als unsterblichen Beitrag eines deutschen Künstlers zum kulturellen Weltniveau zu würdigen weiß, mag zwar objektiv verrückt sein, ist aber mit Sicherheit nichts Außergewöhnliches in der weltweit verbreiteten Schönheitskonkurrenz von Staatswesen um die Palme in Sachen Pflege von Unterricht und Kultus. Daß man vom sozialistischen Deutschland schon gleich keinen kritischen Ton übers Politische an der Kultur erwarten darf, stand wie gesagt schon vor seiner Gründung fest. Im "Prozeß der Aneignung" des "kulturellen Erbes" machte sich in der DDR die Vervollkommnung der politischen Kultur dann in gewissen Revisionen bemerkbar, die sich der Deutung dieser und jener "historischen Persönlichkeit" mehr im Lichte von 'international anerkannte große Deutsche' als im Lichte von 'System' verdanken. So mußte der Aufrührer Thomas Müntzer in die zweite Reihe hinter dem Ex-Fürstenknecht Martin Luther zurücktreten, wenn es darum geht, welches "Vermächtnis" die "Epoche der frühbürgerlichen Revolution" uns heutigen Nachlaßverwaltern aufgetragen hat. Westdeutsche Ideologen goutieren solche Umwertungen zu gerne als Zugeständnisse von drüben in puncto ideologischer Kampf, während die DDR-Kulturnation etwa die Eingemeindung des kommunistischen Dichters Brecht in den Kulturkanon des kapitalistischen Westens als hoffnungsvolles Anzeichen für humanistischmoralische Läuterung eines ehemals zu Unmenschlichkeit neigenden Systems ansieht...

Aber auch für Weltniveau bei der "Massenkultur" hat man drüben viel getan. Erstens sind die realsozialistischen Massen sowieso viel gebildeter als Bild-Zeitungsleser, und viele von ihnen haben sich dem Erbe von Shakespeare, Schiller und Puschkin nicht verschlossen. Zweitens haben die DDR-Verantwortlichen bei der Betreuung des Unterhaltungsbedürfnisses ihrer Bevölkerung längst jede "dogmatische" Position von wegen 'Rockmusik ist Ausdruck für die typisch kapitalistische Verwahrlosung junger Menschen' geräumt und im Zuge einer praktisch unbegrenzten "Liberalisierung" auch auf dem Felde des Trällerns und der Fernsehshow Weltniveau angestrebt - mit hauseigenem Nachwuchs und per Import westlicher Show-Idioten. Die musikalisch erhobene Klage des bundesdeutschen Vorbilds der Jugend Udo Lindenberg von anno 83: "All die andern Schlageraffen dürfen dort singen, nur der arme 'Schlageraffe' Udo darf das nicht, und das versteht er nicht!" wurde vom dergestalt abgemahnten Adressaten Erich Honecker längst gegenstandslos gemacht. Eine lehrreiche Begebenheit: Gerade einer aus der betont "lockeren" (Udo über Lindenberg) Abteilung westdeutscher Lebensart betreibt auf die kumpelhafte Tour westdeutsche Feindbildpflege, kommt dem "Honey" aus "Pankow" mit einem 'lch bin doch bloß ein Schlageraffe, und du verbietest mich: Das spricht doch wohl gegen dein System', und wird kurz darauf vom damaligen FDJ-Chef Krenz mit quasi-diplomatischen Ehren empfangen (Bild war dabei). Es stimmt, daß von der Sphäre, in der Pink Floyd und David Bowie die Kings sind, überhaupt nichts praktisch Wichtiges abhängt. Dennoch muß man hier von einer Niederlage des sozialistischen Volksbildungsprogramms sprechen. Dieses Programm wollte sich schließlich irgendwann in grauer sozialistischer Vorzeit nicht damit zufriedengeben, daß die sozialistischen Bürger sich in ihrer Mehrheit o im Sozialismus einhausen: Sie spulen ihr Werkeltagsleben ab als eine Mischung aus notgedrungener Pflichterfüllung, dem Organisieren der Sachen, die ihren "Wohlstand" ausmachen, und dem Wahrnehmen der "Gelegenheiten", die der Sozialismus seinen Leuten fürs Durchwursteln so zu bieten hat samt der dazugehörigen Heucheleien; und sie widmen sich im "Reich der Freiheit", das ihnen gelassen wird, dem Ausprobieren höchstpersönlicher Glücks- und Sinnfindungsprogramme. Anders herum gesagt: Die sozialistische Staatsführung setzt seit geraumer Zeit fürs Mitmachen beim Sozialismus nicht auf Sozialisten, sondern auf lauter Opportunisten, die Politik lästig finden und deren privater Glücks-Horizont mit Open-Air-Festivals bedient ist und mit einem Fernsehangebot dessen sozialistische Prägung sich auf dem Sektor "Unterhaltung" in einer gewissen Vorliebe der Programmgestaltung für Mafia-Krimis erschöpft. Die SED hat offenbar gemeint daß sie ihr Volk gewinnt, wenn sie ihm aus den einschlägigen Sparten öffentlichen Schwachsinns nichts mehr von dem vorenthält, was westlich-demokratisches Weltniveau hier zuwegebringt; sie war sogar selbstbewußt genug, bei der Ausstattung ihrer Republik mit Kabel-TV zuallererst den Bezirk Dresden zu beglücken, wo bisher dank einer Laune der Geographie kein West-Fernsehen zu empfangen war. Und jetzt wundert sie sich schwer, daß ein Teil der von ihr mit 40 Jahren Systemvergleich gezüchteten Mitläufer bei erstbester Gelegenheit die sozialistische Kopie gegen das westliche Original eintauscht, weil sie partout keinen persönlichen Grund sehen, dem Sozialismus die Stange zu halten...

Für solche Leute, die in ihren Interessen keine Anhaltspunkte finden, fürs sozialistische System zu sein, hat die DDR schon seit längerer Zeit ein Sonderangebot im Arsenal: Sie ist eine Sportnation, und auf dem Sektor hat sie in Sachen Weltniveau sogar mal echte Maßstäbe gesetzt und erregt den Neid aller Konkurrenzstaaten. Sie produziert am laufenden Band erfolgreiche Sportkrüppel incl. so "charmanter Botschafter der DDR" wie die (auch als Profi) unvergeßliche Katharina Witt aus Karl-Marx-Stadt, die im schönsten Sächsisch in aller Welt das Lob der völkerverbindenden Wirkung des Sports und der sportlich gesehen vorbildlichen DDR singt. Die Berechnung, über Olympiasieger im Damensprint und Weltrekordler im Kugelstoßen anderswo Reklame für die sozialistische DDR zu machen, war schon immer leicht absurd. Schließlich wird kein westdeutscher Antikommunist, der wg. Boris und Steffi stolz ist, ein Deutscher zu sein, zum Anhänger des Sozialismus, weil dessen Sportler den bundesdeutschen seit 20 Jahren die Hacken zeigen. Er weiß vielmehr ganz genau, daß DDR-Medaillengewinner entweder gedopte Staatsamateure sind oder aber nicht für die DDR, sondern für Deutschland, das große und gesamte, Ehre einlegen. Fürs Untertanengemüt eines DDR-Eingeborenen leisten die Sporterfolge seiner Landsleute hingegen schon etwas; zwar keineswegs die Stiftung einer unverbrüchlichen "Identität" mit einer - ausgerechnet Sport-Großmacht namens DDR; aber wenn etwas einem untertanenmäßigen DDR-Nationalismus gelegentliches Anschauungsmaterial zum Stolz auf den eigenen Laden liefert, dann die volkseigenen Sportskanonen. Und das ist wahrhaftig eine Schande für den Sozialismus, daß ausgerechnet Typen, die ihren Willen und ihren Körper ganz für Weltniveau in Sachen Kraulen und Hüpfen zurichten, die Kronzeugen für die Qualität des Sozialismus abgeben sollen! "Sozialistischer Patriotismus" als der Kitt, der die Bewohner der "welthistorischen Alternative" zum demokratischen Kapitalismus zusammenhält - das kann natürlich nicht gutgehen für den Staat, der alles im Namen und zugunsten der Arbeiterklasse unternehmen will und sich darüber die herzliche Feindschaft seines kapitalistischen Pendants zugezogen hat, eines Pendants, das den deutschen Patriotismus für sich gepachtet hat und die DDR als das größte Hindernis dafür brandmarkt.

"Sozialistischer Patriotismus" ist auch der Nenner für eine ganze Menge von Veranstaltungen, die in der DDR für ein durchaus reges

Öffentliches Leben

sorgen. Von wegen, drüben ist "nichts los" und der Sozialismus "grau". Volkskammerpräsident Sindermann sagt das Prinzip davon:

"Überall finden die Bürger der DDR in nahezu 80 gesellschaftlichen Organisationen ein fruchtbares Betäiigungsfeld, um vielgestaltig über ihr Leben-, das des Territoriums, der Arbeitsstätte, ja die ganze gesellschaftliche Entwicklung mitzubestimmen. Jeder dritte Bürger übt heute eine ehrenamtliche staatliche oder gesellschaftliche Funktion aus. Wir wollen, daß unsere Bürger über Rlles urteilen können, um bewußt die Politik des Sozialismus mitzugestalten." (Arbeite mit, plane mit, regiere mit - das ist unsere Devise, in: Einheit 9/10-89)

Es ist, wie wenn die SED ihren Propagandahit für bürgerliche Zeitgenossen - "Erst im Sozialismus" ist jede gewöhnliche Betätigung oder jeder bürgerliche Quark anständig "möglich" - m Sozialismus dann mit folgender Betonung auslegt: Jeder, der einer Tätigkeit nachgeht, soll dabei aber auch noch den Sozialismus würdigen, der sie ja schließlich ermöglicht.

Das ist, entgegen westlichen Unterdrückungsphantasien, zuerst einmal eine ziemlich umfassende Lizenz für alle möglichen Betätigungen. Jedes Privathobby, jeder Spleen, der sich in einer "gesellschaftlichen Organisaton oder Unterorganisation registieren läßt, gilt da als "Bereicherung des Sozialismus" und wird, wo's geht, auch gefördert. Jeder Kegelklub jeder Karnickelzüchterverein, jeder Motorradfanklub - ein Beitrag zum Gelingen des Sozialismus!

Aber eben auch ein Beitrag zum Lob des Sozialismus bzw. zur Demonstration, daß jedes Privatinteresse, jedes Hobby, jeder Spleen in der DDR eine rundum zufriedenstellende Heimat gefunden hat, also auch mit Freuden bereitsteht, sich dafür einzusetzen. Das ist natürlich nicht die Wahrheit über das Verhältnis des DDR-Untertanen zu seinem Staatswesen. Das Bedürfnis z.B. nach Kegeln ist ziemlich systemneutral, und wer kegelt, der kegelt eben; ob er das auch noch dem sozialistischen System dankt, ist eine ganz andere Sache. Die SED, die ihren Sozialismus mit lauter Mitläufern machen will, leistet sich aber mit ihren vielen "gesellschaftlichen Organisationen", wo jeder dritte DDRler Funktionsträger ist, den Widerspruch, auf die unmögliche Charaktermaske des verantwortungslosen Opportunisten aus zu sein. Und sie gesteht gleich praktisch ein, daß es mit der freiwilligen Begeisterung ihrer Massen für den fürsorglichen Sozialismus nicht so weit her ist. Sie nimmt mit ihren ganzen offiziellen und quasioffiziellen Organisationen das Zustandekommen und das Äußern dieser "Begeisterung" ja gleich selber in die Hand und überläßt da nichts dem Zufall. Sie fordert den "sozialistischen Patriotismus" immerzu ein und kommandiert ihn zur Sicherheit herbei, und das macht die Unehrlichkeit der ganzen Veranstaltung so sichtbar, daß sie noch jedem Trottel auffällt. Und bevor DDR-Bürger, die die öffentliche und offizielle Heuchelei merken, sich mal einen senkrechten Gedanken über die Gründe für solche Umgangsweisen zwischen Staat und Volkim realen Sozialismus machen, verfallen sie viel eher darauf, ihrer Obrigkeit, die angeblich "überall" ist, die läppische Absicht zum grundlosen Kontrollieren oder Schikanieren der Untertanen zu unterstellen, sich selber überall "gegängelt" vorzukommen und schließlich - so die Konsequenz vieler Rübermacher - aus Sehnsucht nach einem echt ganz privaten Mitläufertum die freie Konkurrenz im kapitalistischen Westen, die der demokratische Staat 'bloß' gebietet und absichert, für viel spannender und chancenreicher zu erachten als die "langweilige" DDR mit ihrer sicheren Grundversorgung. o wenig Sozialimus hat die SED mit ihrer Tour, für ein munteres öffentliches Leben zu sorgen, an ihren Leuten hinterlassen!

Zu diesem Resultat hat nicht zuletzt die herausragende Rolle beigetragen, welche die

Demokratie

in der Deutschen Demokratischen Republik spielt.

In der Demokratie vom westlichen Typus sind die Staatsbürger bekanntlich schwer beteiligt: Die Staatsmacht läßt wählen, fragt ihre Untertanen also, welcher Herrscher es denn sein darf, dem sie dann parieren müssen. Und wenn bundesdeutsche Wähler ausnahmsweise ein paarmal hintereinander zur Urne gerufen werden, weil ihre Politiker sich nach dem Ergebnis eines Wahlgangs nicht auf die Verteilung der Macht einigen können, dann rechnet jeder Politfachmann gleich verständnisvoll mit "zunehmender Wahlmüdigkeit" beim demokratischen Volkssouverän.

So billig wollte es der sozialistische deutsche Staat sich und seinen Bürgern nicht machen. Es gehörte einmal zu den vehementesten Vorwürfen, die DDR-Anhänger der "staatsmonopolistischen" BRD verabreichten, daß dort die Beteiligung aller Bürger am politischen Leben bloß scheinhaft verwirklicht sei. Und die zitierte Äußerung vom Präsidenten der Volkskammer Sindermann, betreffend die Mitgestaltung des sozialistischen Lebens, meint ja nicht bloß die sozialistische Vereinsmeierei, sondern auch substantielle Sektoren der "Mitbestimmung", von der "Arbeitsstätte" bis zur "ganzen gesellschaftlichen Entwicklung". Auch das ist keineswegs eine gehaltlose politische Heuchelei. Davon zeugen nicht bloß die DDR-eigene ausgedehnte Kultur des Leserbriefs mit kritischen Bemerkungen zu allen Bereichen des "gesellschaftlichen Lebens", das ebenso ausgedehnte Eingabe- und Beschwerdewesen, das jedem offensteht, der Verstöße gegen die sozialistische Gerechtigkeit entdeckt haben will, oder der Umstand, daß drüben jede Gaststätte ihren Gästebeirat hat. Auch im Betrieb und beim ganzen sozialen Drumherum, für das Betriebe in der DDR zuständig sind, finden, nicht zuletzt per Gewerkschaft, Beschwerden und Verbesserungsvorschläge aus der Belegschaft Gehör. Konstruktives Kritisieren, das die Gleichung von Interessenserfüllung und nationalem Erfolg bestätigt, ist in der DDR gefragt. Es war ja nicht zuletzt der Maßstab der Einheit von Volk und Staat, vor dem die Sozialisten aus dem besseren Deutschland den Kapitalismus und sein politisches System mit ihren "unausweichlichen Widersprüchen und Klassenkämpfen" blamiert sahen und den sie mit ihrer alternativen Produktions- und Herrschaftsweise um so besser erfüllen wollten. Genau deswegen aber sahen die an die Macht gekommenen Einheitssozialisten die stabile Einheit von Staat und Volk als etwas zu Wertvolles an, als daß man ihre politische Verwirklichung in Form der DDR und ihrer volksdemokratischen Institutionen in die Disposition zufälliger politischer Stimmungen und Strömungen hätte stellen dürfen. Sie haben diese Einheit von oben hergestellt, sprich: sehr gründlich den Wahn zum politischen status quo gemacht, daß alle "fortschrittlichen" Kräfte der bürgerlichen Gesellschaft und der bürgerlichen Demokratie gar nicht anders können, als ihren guten Kern im Sozialismus zu vollenden. Deswegen gibt es in der DDR ein Parlament, in dem die Ost-CDU die Ost-FDP, die Bauernpartei (und dann noch eine Nationaldemokratische Partei) sowie die Ost-Gewerkschaft mit festen Kontingenten vertreten sind, aber dafür den politischen Führungsanspruch der SED und die sozialistische Staatsverfassung bedingungslos anerkennen müssen. So kam es, daß nachmalige Spitzen-F.D.P.ler wie die Herren Mischnick und Genscher lieber in den Westen rübermachten und sich dort seit langen Jahren immer wieder heldenmütig dem rauhen Wind der Bonner 5%-Klausel stellen, als in der Volkskammer einen der 52 sicheren Posten für die LDPD, wie die drüben heißt, zu genießen. Und auch westdeutsche Gewerkschafter sehen in einflußreichen Kontingenten des FDGB in Parlament und Politbüro nicht ihren Traum von gewerkschaftlicher Mitbestimmung auch auf höchster politischer Ebene wahrgemacht, sondern vielmehr die Freiheit zur problem- und nationalbewußten Jasagerei verraten.

Auch mit den Wahlen im volksdemokratischen System ist das so eine Sache. Brauchen soll es die auch dort, weil sich kein DDR-Sozialist ein Zusammenhalten von Leuten mit ihrem System auf der Grundlage fraglos identischer Interessen vorzustellen vermag, sondern mit größter Selbstverständlichkeit von politischen Über- und Unterordnungsverhältnissen ausgeht, die sich aber auch wieder in beiderseitiges Wohlgefallen auflösen sollen - als wäre Staatsmacht im Ernst nichts als ein wechselseitiges Auftrags- und Dienstverhältnis von oben und unten. Auf der anderen Seite ist es schon auch ein bißchen blöd, wenn es beim Wählen für den Wähler gar nichts mehr zum Auswählen sondern nur noch zum Jasagen gibt, nämlich eine Einheitsliste, über die der Staat glaubhaft 'durchblicken' läßt, daß er ein Ja dazu erwartet. Nicht, daß das Ja zur politischen Gewalt nicht gerade bei der westlichen parlamentarischen Demokratie schon der sichere Ausgangspunkt jedes Wahlgangs wäre; daß das Volk dem von ihm auserwählten Führer erst recht unbedingten Gehorsam schuldet, ist ja sogar der Witz der hiesigen Tour des Heranziehens der Untertanen zur "Herrschaftsbestellung". Nur gehört es zum Zynismus dieses politischen Geschäfts eben mit dazu, das geehrte Volk über die Karrieren von Profis der politischen Gewalt mitbefinden zu lassen, und das findet gleich ein jeder als den Inbegriff der Freiheit. Verglichen damit nimmt die volksdemokratische Wahlprozedur das im Westen per Parteienpluralismus hergestellte Ergebnis des Wählens, die bekräftigte Einheit von Volk und Führung, gleich vorweg, imitiert also das Verfahren der Berufung der politischen Gewalt auf die vom Volk besiegelte Übereinstimmung mit ihr, ohne dabei den Schein einer bedeutsamen, nämlich personellen Alternative der Herrschaft zuzulassen. Vom Standpunkt der Bekömmlichkeit politischer Gewalt für Leute, die sich nach ihr richten müssen, betrachtet, ist das wahrhaftig ein ziemlich belangloser Unterschied. Vom Standpunkt der Herrschaftstechnik betrachtet, die das Gelingen der Politik nach der Glaubwürdigkeit der Vereinnahmung der Untertanen hin bilanziert, ist der kleine Unterschied von Demokratie und Volksdemokratie offenbar sehr bedeutsam. Das sieht man nicht zuletzt an der Peinlichkeit, daß die DDR-Staatspartei, kaum finden sich bei irgendwelchen Kommunalwahlen mal ein paar Tausend Neinsager zu ihrer Einheitsliste, glatt noch bei der Auszählung der Stimmen bescheißt, um ihre Lebenslüge der im und vom Sozialismus garantierten Einheit von oben und unten wenigstens noch als öffentliche Fiktion aufrechtzuerhalten!

Daß das triumphierende Herausstellen dieser kleinen Manipulation durch die Systemgegner im freien Westen die SED-Leute trifft, weil sich die DDR auch in Sachen zivilisierter politischer Untertanenbehandlung auf das vom freien Westen im "Menschenrechtskorb" der KSZE definierte Weltniveau eingelassen hat das kann man nicht zuletzt daran ersehen, daß die SED die zunächst einmal mit lauter Idealen der SED selber auftretende DDR-Oppositionsbewegung trotz ihrer Beteuerungen, bloß einen besseren Sozialismus zu wollen, fast wie Systemgegner anfaßt, das dann auch wieder zurücknimmt und immerzu darauf hinweist, daß für konstruktive Kritik die vorhandenen DDR-Institutionen "alle Formen und Foren" bereitstellen. Kurz: Die regierenden Sozialisten ziehen, bislang jedenfalls, die Scheidelinie zwischen erlaubtem systemnützlichen und verbotenem systemfeindlichen Protest ganz traditionalistisch dort, wo sich die oppositionellen Regungen der per Institution doch immer schon garantierten Volks- und Staatseinheit anbequemen oder nicht. Im letzteren Fall läßt die sozialistische Staatsmacht dann ihre Stasi-Truppen zuschlagen - daß die ihren westlichen Kollegen das Wasser reichen können, ist ja klar: Wo sollen denn bei einer Aufgabe, die Staatssicherheit heißt, Systemunterschiede herkommen! - und hat dabei immer zugleich ein gutes und ein schlechtes Gewissen. Das gute Gewissen kommt daher, daß sie doch den Sozialismus, diesen Ausbund an guten volksnützlichen Absichten, gegen seine, womöglich vom Ausland verführten, Feinde zu verteidigen hat. Das schlechte Gewissen kommt daher, daß immerhin Teile des Volks das Zusammenpassen von oben und unten dementieren, und das muß den sozialistischen Staat immer auch ein Stück weit selbstkritisch stimmen. So "dialektisch" geht es halt zu in einer Republik, die das paradoxe Ideal einer volksnützlichen Gewalt real verfolgt.

Spätestens seit die Staaten des real existierenden Sozialismus bei der KSZE in Helsinki die Menschenrechte, also die Herrschaftsprinzipien der führenden kapitalistischen Demokratien, als verbindliches und allen Grundsätzen des Humanismus genügendes Vorbild in Sachen Behandlung von Untertanen durch eine moderne Staatsgewalt unterschrieben haben, kommt das schlechte Gewissen von DDR-Maßgeblichen beim Kleinkriegen von Protest auch noch daher, daß sie darin ein Stück Niederlage im Systemvergleich um die gelungenste Harmonie von Herrschaft und Beherrschten erblicken. Andererseits - dies eine Ironie der Geschichte - sind es die Ergebnisse der wirklich handfesten Abteilungen des Systemvergleichs ums "Weltniveau", die führende SEDler heute zuweilen veranlassen, die Ideale der sozialistischen Herrschaftsweise als pure Phrase zu behandeln. Beispiel: Bei Dresden sollte nahe eines Wohngebietes ein Reinstsilicium-Werk hochgezogen werden, natürlich nötig fürs Weltniveau der sozialistischen Exportnation, aber auch ziemlich gefährlich für die Anwohner. Als sich eine Anzahl Protestler in einer Versammlung auf den DDR-Verfassungsgrundsatz "Arbeite mit, plane mit, regiere mit!" beriefen, wurde ihnen von anwesenden Führungsgenossen der SED beschieden, sie sollten doch mit "diesen Phrasen" aufhören. Was die Partei- und Staatsführung nicht hinderte, genau diesen Verfassungsgrundsatz, diese Phrase zu einem der Leitmotive für die 40-Jahr-Feiern der DDR auszurufen.

Auch dies eine kleine Ironie nach 40 Jahren DDR: Wo man sich in der Praxis des realsozialistischen Verhältnisses von Staat und Staatsvolk längst - und zwar von beiden Seiten - darauf eingerichtet hat, daß wie bei einem x-beliebigen Staat die Regierung sich mit dem staatsbürgerlichen Opportunismus ihrer Leute zufrieden gibt und diese Leute sich ihrerseits mit den Umständen arrangieren, die ihnen vorgeschrieben sind; daß also die ganz besonders guten Gründe, die der Sozialismus für sich ins Feld zu führen hat, gerade noch als Titel einer von oben und unten gewußten offiziellen Staatund-Volk-Heuchelei gut sind; wo Repräsentanten der Macht mitunter sogar eingestehen, daß es sich bei ihren sozialistischen Feierparolen um eine Art 'Wort zu Sonntag' handelt wie beim Herrn Pfarrer - justament zu einem Zeitpunkt also, wo solche gelegentliche Ehrlichkeit von oben eine neue und für ein Staatswesen stinknormale Sorte 'Verbundenheit' mit dem lieben Volk andeutet, das sich die Sache immer schon ungefähr so gedacht hat, da kommen Teile dieses Volks daher und sehen die Angelegenheit mit der "sozialistischen Mitbestimmung" ihrerseits mal umgekehrt an! Das gibt natürlich "Enttäuschungen" oder auch Bestätigungen dafür, daß man 'es immer schon gewußt hat'. Anderswo in der (Staaten-)Welt bleiben solche Erfahrungen mit mangelnder Glaubwürdigkeit obrigkeitlicher Sprüche so gut wie folgenlos, nicht so in der DDR. Da wird so mancher Idealist, der nicht zum Zuge kam, zum Republikflüchtling; und jeder aus der viel größeren Anzahl Rübermacher, die noch nie so etwas wie 'Widerstand' probiert hat, kann wenigstens ein bis zwei Beispiele für 'unerträgliche Unterdrückung' aufsagen.

Und das liegt nur einerseits am 40 Jahre lang praktizierten Revanchismus des demokratischen Kapitalismus Marke BRD samt "Einfluß westlicher Medien". Die Sozialisten Marke "besseres Deutschland" haben diesen Wettbewerb um die wahre Heimat für gute Deutsche ja geradezu zu ihrer Staatsraison gemacht. Beim Bestehen des praktischen wie des ideologischen Systemvergleichs zwischen den beiden deutschen Staaten haben sie das Andere, das ihren Laden gegenüber der "Wirtschaftswunder-" und "Exportweltmeister"-BRD samt ihrer unnachahmlichen "demokratischen politischen Kultur" auszeichnen und überlegen machen sollte, selber immer weniger unterscheidbar gemacht, so daß sie heute, all ihren Staatserfolgen zum Trotz, als die Verlierer des von ihnen selbst immerzu strapazierten Vergleichs dastehen. Im Westen sowieso, aber auch vor ihrer eigenen Bevölkerung, aus der die deutschen Einheitssozialisten nichts besseres zu machen wußten als eine Ansammlung von Mitläufern, von Chancensuchern, Selbstverwirklichern und vielleicht noch Menschenrechtsaposteln, denen "die Freiheit", sprich die Weltmacht Nr. 3 Bundesrepublik Deutschland schwer imponiert, einschließlich der Methoden der Untertanenbehandlung, die eine führende kapitalistische Nation zu bieten hat. Vom VW Golf bis zum Recht auf folgenloses Meckern.

Für solche selbstbewußten Untertanen, die durch und durch die Produkte von gleich zwei deutschen Staaten sind, braucht es dann bloß noch eine Gelegenheit, das BRD-Sonderangebot mit der Staatsbürgerschaft zu ergreifen, und schon gibt es eine Flüchtlingswelle aus der DDR. Noch Fragen, wo die "inneren Ursachen" dafür liegen?