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Dieser Artikel ist in der MSZ 4-1989 erschienen.

Systematik

Volksrepublik China
KOMMUNISTISCHE HERRSCHAFTSCLIQUE MASSAKRIERT DEMOKRATISCHE STUDENTEN. ALLES KLAR?

Der Studentenprotest

Allein schon die Bilder im Fernsehen hätten Aufschluß darüber geben können, daß unter der Überschrift "Demokratie" von den Studenten etwas gefordert wurde, was mit dem Grundgesetz der BRD und der dazugehörigen Verfassungswirklichkeit nicht sehr viel gemein hat: Unter ihren Demokratie-Transparenten nämlich sangen sie die Internationale, trugen Mao-Bilder, beklagten materielle Not (der Intelligenz) und prangerten Korruption an. Nichts davon paßt in eine westliche Demokratie; nicht nur Mao und die Internationale. Über Armut kann sich das Volk in einer kapitalistischen Demokratie gar nicht beklagen; nicht weil es sie nicht gäbe, sondern weil die Demokratie nicht Volksversorgung verspricht, sondern Chancen. Wer Chancen nicht nutzen kann und arm bleibt, ist selbst schuld; wird Armut aber wirklich nicht mehr akzeptiert, dann ist das im Westen die Systemfrage, die von den Behörden entsprechend beantwortet wird. Über die private Bereicherung von politischen Amtsträgern kann man sich im Reich der persönlichen Freiheit schon gleich nicht aufregen: Die Zahl der gar nicht verschwiegenen Aufsichtsratssitze unterstreicht das Gewicht des Volksvertreters und weckt keine Zweifel an seiner Pflichterfüllung. Wird von Amtsträgern beim Bereichern gegen Gesetze verstoßen, so versorgt das allenfalls die Parteienkonkurrenz mit Stoff - Volksaufstände werden daraus nie und nimmer.

Korruption - begriffsloses Mißtrauen in den wirtschaftspolitischen Kurs

In China wird aus dem Korruptionsverdacht Vorwurf und Aufstand, weil Privatbereicherung dort eben noch nicht als der letzte und einzige Zweck des Wirtschaftens anerkannt ist. Dengs "4 Modernisierungen" samt ihren Härten gelten als Mittel für den Fortschritt des sozialistischen China. Die sozial rücksichtslosen Techniken der Akkumulation von Produktivkräften werden einerseits schon noch daran gemessen, was der normale Chinese davon hat. Bei 40% Teuerung und sichtbarer Verarmung all derer, die keine Gelegenheit privaten Schachers auftun können (Arbeiter, Beamte, Studenten mit ihren festen Alimentierungen), kommen schon Zweifel am angeblich dadurch gcförderten Volksnutzen auf.

Andererseits freilich nicht so einfach. Von einer polit-ökonomischen Befassung mit Dengs "Fortschritt" durch die Schaffung von arm und reich, von einer Kritik der Techniken kapitalistischen Erwerbs seitens der protestierenden Studenten ist nichts bekannt geworden. Ihr Zweifel kommt gleich ausgemacht politisiert daher: Sie schimpfen gar nicht auf die reich gewordenen Händler und Betriebsleiter, haben nichts gegen das Programm "Werdet reich!" und fordern nicht das Ende der kapitalistischen Experimente.

"Wir haben nichts anderes getan, als den Wunsch cder Bevölkerrung zum Ausdruck zu bringen, daß korrupte Regierungsbeamte entlassen und die politischen Reformen beschleunigt werden." (Beijing Rundschau 22/89, S. 10)

Die Opfer der Modernisierungen waren den Studenten gar nicht für sich Grund zur Kritik der Führung. Als für den Fortschritt Chinas unvermeidlich hätten sie sie abgebucht, wenn sie nur daran glauben könnten, daß es im Lande wirklich darum geht. Armut und Inflation war den Studenten ein Anlaß, sich die Frage der Glaubwürdigkeit vorzulegen. Verarscht fühlen sich die patriotischen Jugendlichen, wenn sie sehen müssen, daß sich die Altvorderen und deren Familien selbst bereichern und die hehren Reden von den Durststrecken des Aufbaus Lügen strafen. Nur am Reichtum der Verantwortungsträger entdecken sie, daß "Dem Volke dienen" hier nicht vorliegt, und befassen sich gar nicht mit der Frage, ob eine 40%ige Teuerung von den privaten Abzweigungen einiger Spitzenpolitiker ausgelöst werden kann. Sie erinnern viel lieber die Partei an ihre Pflicht, an die sie glauben.

"Es ist natürlich eine Minderheit und nicht etwa die Mehrheit der Parteimitglieder, die von der Korruption in der Partei profitieren. Es ist sehr wichtig für die Partei, ihr Prestige in der Bevölkerung wiederherzustellen. Welches Prestige? Ein Prestige, das die Partei haben sollte, wenn sie noch voller Hoffnung ist. Solange die Partei Hoffnung hat, hat China Hoffnung." Der Student sagte den führenden Parteikadern, daß das Volk seit einiger Zeit überhaupt keine Hoffnung mehr sehe. "Ich glaube, China sollte seinen Nationalgeist wiederbeleben und im Volk die Zuversicht stärken." (Beijing Rundschau 22/89, S. 25)

Als Idealisten der "4 Modernisierungen" glaubten sie, überhaupt keinen der chinesischen Staatsräson zuwiderlaufenden Zweck zu verfolgen, wenn sie von der Führung ihre Pflicht und die konsequente Fortsetzung der Reformen forderten, um an beides wieder glauben u können.

Demokratisierung - Probleme des Reden-Dürfens und Gehört-Werdens

In aller Unschuld forderten die Studenten wegen der Not die Fortsetzung der Reformen, die die Not schaffe, und erinnerten die Partei an die saubere Abwicklung ihrer Aufgabe, ohne zu wissen, daß zu diesem Entwicklungsweg das, was sie als Korruption anprangerten, einfach dazugehört. Sie forderten, was die Regierung nicht gewähren kann, ohne ihr Projekt aufzugeben, und wußten es gar nicht. So bekamen sie das Problem des Gehört-Werdens und Reden-Dürfens. Das meiste, was von ihrem Protest überhaupt bekannt wurde, galt diesem zweiten, schon nur noch methodischen Anliegen: Sie verlangten 1. die Anerkennung des patriotischen Charakters ihrer Bewegung durch die Partei, 2. einen "offenen, gleichberechtigten, direkten und aufrichtigen Dialog" mit "führenden Parteivertretern, die auch Entscheidungsgewalt haben", 3. die "direkte Übertragung des Dialogs im chinesischen Fernsehen", sowie 4. "Pressefreiheit" für ihre Veröffentlichungen und 5. "faire Berichterstattung" (ebd.) über ihre Aktivitäten in der Parteipresse.

Das alles ist mit einer Forderung nach den demokratischen Verkehrsformen des Westens und seinem Pluralismus nicht zu verwechseln: Die Duldung ihrer Anliegen als bloß besondere und daher unmaßgebliche Meinung hätte die Studenten ganz und gar nicht beruhigt. Im übrigen funktioniert die chinesische Öffenllichkeit so auch gar nicht. In diesem Staat, der größten Wert auf die Übereinstimmung zwischen Regierung und Regierten legt und in diesem Sinne Presse, Funk und Fernsehen als Organe der politischen Willensbildung handhabt, ist Berichterstattung gleichlautend mit Anerkennung des wiedergegebenen Anliegens. Und so war es von den Studenten auch gemeint.

Deswegen wurde an diesem Punkt der Protest der Studenten scharf und grundsätzlich: an der Bereitschaft der KPCh, sich kritisieren zu lassen und sich dieser von unten eingeklagten Verantwortung zu stellen. Nicht am Inhalt ihrer Politik wollten die Studenten abtesten, ob die KP noch "dem Volke dient" oder nicht. Die Behandlung der Studentenbewegung selbst wollten sie zum Prüfstein der Vertrauenswürdigkeit der Parteiführung machen:

"Gleich ob die Regierung oder andere sie als eine patriotische und demokratische Bewegung anerkennen oder nicht - vor der Geschichte wird die Studentenhewegung sicherlich so bewertet werden. Warum drängen gerade wir die Regierung zu dieser Anerkennung? Es ist der Wunsch der Bevölkerung: Sie will erfahren, ob die Regierung wirklich ihre eigene Regierung ist. Hier ist der Knackpunkt." (Student Xiong Yan in der öffentlichen Debatte mit Premierminister Li Peng, Beijing Rundschau 22/89, S. 20)

Geht die Regierung nicht darauf ein, "werden wir sagen, daß die Regierung keinerlei Aufrichtigkeit besitzt" (ebd.)

Provokationen: Gehör erzwingen!

Daß die Partei die Forderungen der Studenten zwar anhörte und in gewissem Umfang als berechtigt anerkannte, den Studenten aber die Rechenschaftspflicht bezüglich der Verwirklichung ihrer Anliegen verweigerte, ließ die Studenten ein weiteres Mal nicht auf einen Gegensatz im Anliegen, statt dessen auf tiefsitzende Verstocktheit und Selbstherrlichkeit, ja sogar "Vergreisung" (ein in China neuer und von seiner Modernisierung zeugender Vorwurf) der Führung schließen. Sie benahmen sich wie Leute, die schön öfter ihre berechtigten Anlieger angemahnt hatten, aber hingehalten und vertröstet worden waren. Das wollten sie nicht noch einmal mit sich machen lassen; sie waren zu dem Widerspruch entschlossen: Erhörung zu erzwingen. Sie organisierten Appelle, die nicht ignoriert werden konnten, sie provozierten: sie besetzten das ideelle und wirkliche Zentrum der Nation und organisierten einen Hungerstreik, dessen moralische Wirkung als Petition mit ultimativem Charakter durch nichts zu überbieten ist. Als man sie sogar dann noch, trotz Hungerstreik und Kriegsrecht am ausgestreckten Arm verhungern lassen wollte, setzten sie eines drauf und errichteten ein Symbol westlichen Regierens als Mahnmal dessen, was China fehlt: die Freiheitsstatue.

In diesem Akt wird das Mißtrauen der Studenten in die Bereitschaft der Regierung, sich in die Verantwortung rufen zu lassen, schon sehr grundsätzlich. Für die Wiederherstellung des verspielten Vertrauensverhältnisses zwischen Regierung und Volk verlangen die Studenten nichts Geringeres als eine neue Basis: Eine von unten kontrollierte Ehrlichkeit der Oberen und ungehindertes Gehör der Partei für das ihr von Teilen des Volks angetragene Mißtrauen. Neben den gesellschaftlichen Organisatioinen, die die KPCh schon zum Einbringen von Unzufriedenheit und Verbesserungsvorschlägen eingerichtet hat, gründen die Studenten einen unabhängigen Studentenverband und verlangen dessen Anerkennung als Gesprächspartner der Partei. Auf diese Weise haben sich die Demonstranten zur Korrekturinstanz der Partei aufgeworfen; sie haben eine Kritik des Inhalts angemeldet, daß in ihrem Staat Pflichtverletzungen überhandnehmen, geradezu die Regel seien - und zwar auf Seiten der führenden Partei. Und das ist ein sehr prinzipieller Einwand, den selbst überalterte Parteichinesen als solchen wahrnehmen: Ein Angriff auf ihre Legitimität, nämlich ihre Identität mit dem Volk, also auf den Inbegriff dessen, was man in China unter Sozialismus versteht.

Völlig begriffslos und ohne Absicht (sie konnten ja bis zum Schluß nicht glauben, daß die Armee schießen würde!) haben die friedlich demonstrierenden Studenten in China die Frage nach dem rechten Gebrauch der Macht gestellt - und die Inhaber der Macht haben das, wie überall auf der Welt, als Systemfrage behandelt.

Das System schlägt zurück

Obwohl die KP Ausbeutung und die Akkumulation von Privatreichtum vorantreibt, hält sie an der alten Doktrin fest, mit der sie schon immer Staat in China gemacht hat: Ihr Wirken diene dem chinesischen Volk, und das heißt jedem Chinesen. Der Weg der Modernisierungen mag hart sein, hat aber von jedem einsichtig als alternativlos akzeptiert zu werden. Daß eine positive Identität des Nationalinteresses mit dem des Einzelnen gar nicht sein kann, wenn die Nation gegensätzliche Privatinteressen sponsert, ficht Deng und Genossen dabei wenig an. Opfer sind vorgesehen, Unzufriedenheit nicht.

Darin nämlich, daß Unzufriedenheit im Volk ein echter Vorwurf an die Regierung ist, ist China noch echt revisionistisch. Über die demokratische Abgebrühtheit, daß es immer welche gibt, denen etwas nicht paßt und daß man es nie allen recht machen kann, verfügen die chinesischen Chefs einfach noch nicht. Daß die Unzufriedenheit mancher normal und kein Einwand gegen die Ziele der Nation ist, der es ohnehin um Höheres geht, ist in China noch kein geläufiges Argument. Berechtigte Unzufriedenheit nämlich ist gültige Kritik an der Partei, verlangt Korrektur und Bestrafung der Schuldigen. Unberechtigte Kritik dagegen kann nicht im Interesse des guten Volkes liegen und schon gleich nicht von ihm kommen; Aufrührer, am besten ausländische, und Konterrevolutionäre benutzen Schwierigkeiten, um Volk und Partei zu spalten.

In Sachen Studentenprotest war sich die Partei lange nicht einig; die Unsicherheit im Urteil wurde als Zögern und als Streit zwischen der Regierungs- und der Parteispitze bekannt. Aber nicht nur im Konflikt mit Zhao Ziyang, auch in Li Pengs eigenen Stellungnahmen kam das zum Ausdruck:

"Unsere Partei und Regierung haben mehrmals ausgedrückt, daß die jungen Studenten ein gütiges Herz hätten und keinen Aufruhr stiften wollten. Sie hegten eine patriotische Leidenschaft und hofften, die Demokratie zu fördern und die Korruption zu bekämpfen. Ihr Wunschdenken sei mit den von Partei und Regierung angestrebten Zielen identisch. Die von ihnen gestellten Fragen und geäußerten Meinungen spielten eine positive Rolle bei der Verbesserung der Arbeit von Partei und Regierung. Aber willkürliche Demonstrationen, Proteste, Hochschul- und Hungerstreiks haben die gesellschaftliche Stabilität gestört. Sie helfen nicht nur nicht, die Probleme zu lösen, sondern die Lage entwickelt sich völlig unabhängig vom Wunschdenken der jungen Studenten und schlägt immer mehr ins Gegenteil ihres Wunschdenkens um. ... Eine Handvoll Leute versucht durch Aufruhr ihre verfassungswidrigen politischen Ziele, Negierung der Führung der kommunistischen Partei Chinas und Negierung der sozialisiischen Gesellschaftsordnung zu erreichen, die sie auf dem normalem Weg von Demokratie und Gesetzlichkeit nicht erreichen können. ... Sie zetteln überall Unruhe an, stellen illegale Kontakte her, stiften andere an, illegale Organisationen zu gründen, und zwingen Partei und Regierung, diese Organisationen anzuerkennen." (Li Peng, Rede zur Verhängung des Kriegsrechts am 19. Mai, Beijing Rundschau 22/89, S. 16f)

Der Hardliner in der Führung gab den studentischen Kritikern in der Sache recht, verbeugte sich vor der patriotischen Gesinnung derselben und versicherte, daß ihre Anregungen Wirkung haben würden.

Erst die Unnachgiebigkeit der Studenten und die Forderung nach Anerkennung parteiferner Organisationen signalisierten Li Peng den Angriff auf die "führende Rolle der Partei", auf die von ihr garantierte nationale Einheit hinter dem Projekt China, also den Angriff auf den Sozialismus. Daß sich eine Kritik nicht mehr den dafür vorgesehenen gesellschaftlichen Organisationen anvertraut, ein patriotischer Verantwortungswille nicht mehr zum Parteieintritt führt das war die Systemfrage; ein inhaltlicher Gegensatz in den Zielen, ein materialer Streit um die Linie war für die Entlarvung dieser "Konterrevolution" ebensowenig nötig, wie für das ebenso prinzipielle wie inhaltslose Mißtrauen von unten.

Das Monopol der Partei

ist keineswegs das, was es hierzulande immer geschimpft wird, nämlich das undemokratische Gegenstück zum demokratischen Gewaltmonopol unseres Staates. Gewaltmonopol im Sinne des bürgerlichen Staats will das Monopol der kommunistischen Partei gerade nicht sein. Die Macht der Partei will nicht und kann gar nicht genommen werden als ein vor und gegen alle Interessen im Volk fertiger Machtapparat, der diesen Interessen Erlaubnis und Schranken diktiert und dessen eigene Gesetze völlig feststehen, ehe sich Konkurrenten um die Verwaltung des fertigen Gewaltmonopols bewerben. Bloß als gültige und unverzichtbare Gewalt der Gesellschaft will die Einheitspartei ihr Wirken nicht anerkannt sehen. Sie beansprucht für ihre Macht zugleich weniger und entschieden mehr Respekt: Sie vertritt den Widerspruch, daß es ihre Macht sei, die alle berechtigten Bürgerwünsche harmonisch unter einen Hut bringt und sie zum Einheitswerk des nationalen Aufbaus zusammenschweißt, der allen dient. Das soll ihre Macht leisten, Anerkennung beansprucht sie deshalb als politischer Wille, dessen Linie Ausdruck dessen ist, was die Volksmassen wollen. Deshalb wird nicht regiert, ohne die Regierungslinie so ins Volk hineinzutragen, daß sie aus dem Volk auch wieder herauszuholen ist. Die Macht will eine Übereinstimmung mit den Regierten, die zugleich mehr und weniger als im Westen üblich bedeutet.

Einerseits ist eine Staatsautorität, die sich aus dem Anspruch legitimiert, in der Sache die richtigen Lösungen gemeinsamer Aufgaben zu vertreten, nicht so ehrpusselig wie demokratische Gewaltmonopolisten, die ihre ordnende Gewalt als die erste Sozialleistung ihres Staates für die privaten Interessen wissen, und deshalb nichts so genau überwachen wie die Respektsbeweise für das Gewaltmonopol selber: Protest in China darf 6 Wochen lang ohne Genehmigung das Staatszentrum besetzen, bei uns ist "die Autorität des Staates" bei Blockaden abgelegenster Munitionsdepots, ganz zu schweigen vom Bonner Bundeshaus, schon nach Minuten herausgefordert.

Andererseits fehlt dem weitgehenden Moralismus der Macht in China die abgebrühte Liberalität, ja die Lässigkeit einer Macht, die weiß, daß es nur auf die Intaktheit ihres Gewaltmonopols ankommt. In einer westlichen Demokratie ist die Unzufriedenheit von Volksteilen eine Selbstverständlichkeit, die nicht verboten, sondern in die Schranken des unverbindlichen bloßen Meinens verwiesen wird. Der quasi unideologische, bloß aufs Funktionieren der gewaltsam gesicherten Ordnung bezogene Begriff des Störers geht den chinesischen Kommunisten einfach ab. Deshalb wird ein als unberechtigt erkanntes Aufbegehren nicht einfach weggeräumt, dem Staatsanwalt überlassen und ansonsten ignoriert: Der Staat will die echte Treue der Bürger zur Partei erzwingen, Konterrevolutionäre müssen nachbehandelt werden.

Massaker und Schauprozesse

Gleichgültig wie gefährlich der Protest für die Partei wirklich war: kommen ihre Chefs erst einmal zu dem Schluß, daß die Macht im Staat auf dem Spiel steht, dann muß diese gerettet werden. Darin sind chinesische Kommunisten Staatsmänner, freilich nicht ganz so wie die demokratischen mit ihren Notstandsgesetzgebungen.

Daß der Sozialismus in China nicht auf purer Gewalt, sondern auf einem Konsens und dem gemeinsamen Eintreten für das nationale Entwicklungsprojekt beruhen würde, diese Lebenslüge wird auch bei, während und nach dem Eingreifen der Armee von der Partei aufrechterhalten. Die Partei hat zwar, um der Freiheit für ihre kapitalistischen Experimente willen, ihre alte Legitimation, Maos Diktum nämlich, widerlegt: sie handle im Einverständnis mit den Massen, politische Linienkämpfe müßten offen vor dem Volk und im Werben um dessen Parteinahme ausgefochten werden. Die Trennung der politischen Gewalt vom politischen Willen im Volk, wie sie im Kapitalismus mit allgemeiner Zustimmung üblich ist, soll trotzdem nicht stattfinden. Die chinesischen Staatsmänner sind und bleiben moralische Sozialisten so sehr, daß sie ohne Konterrevolution, ausländische Verschwörung und "Rettung des Sozialismus" ihr Dreinschlagen auch nicht gerecht finden würden. Also schlagen sie doppelt drein: Nach der Niederschlagung wird das bewiesene Gewaltmonopol sichtbar zum Beweis der Wahrheit der Vorwürfe, d.h. für Geständnisse eingesetzt. Als Vollstrecker der Gerechtigkeit versteht sich die chinesische Führung allemal. Sie buchstabiert Gerechtigkeit allerdings auf chinesisch: Sie erzwingt schlicht und einfach die Sorte Übereinstimmung zwischen Volk und Staat, die von Sun Yatsen über Mao Zedong bis Deng Xiaoping alle Führer Chinas zugleich erträumt und für sich in Anspruch genommen haben. Das Dementi dieser Staatsideologie, das in Unzufriedenheit und Unruhen offenkundig ist, wollen auch Modernisierer wie Deng und Li Peng nicht wahrhaben. Es drängt sie nur zu einem gewaltigen Akt der Wiederherstellung einer Lage, die ihrer Lüge entspricht. Deswegen lassen sie zuerst die Leute erschießen, um hinterher die Überlebenden der Protestbewegung des höchsten Verbrechens zu bezichtigen, das man sich in China vorstellen kann. Es handelt sich nach den Maßstäben chinesischer Moral - und das sind die der chinesischen Justiz - um "widerliche Elemente", die den Staat = das Volk "verraten und geschädigt" haben.

In diesem Sinne wird das Volk zur Denunziation aufgerufen, mit dieser Methode werden die "Übeltäter" erwischt und medienwirksam an den Pranger gestellt, nach dieser Logik werden die Urteile gefällt und vollstreckt. Das alles ist unvermeidlich, wenn mit einer demokratischen Ideologie ernst gemacht wird.

Mit den alten Methoden wird freilich eine neue Staatsaufgabe erledigt, die sich die Parteiführer mit ihren Reformen eingehandelt haben. Der Weg zum Entwicklungsland ist eben nicht zu gehen, ohne die Doktrin von der Pflicht der führenden Partei, die Staatsgewalt nur zum Wohle des Volkes einzusetzen, praktisch hinfällig zu machen. Nach der Logik: Je unglaubwürdiger die Lüge, desto nötiger die Gewalt zu ihrer Rettung! - gibt es für die Volksbefreiungsarmee, die sicher nach wie vor so heißt, einiges zu tun.