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Dieser Artikel ist in der MSZ 3-1989 erschienen.

Bonn empfängt Gorbatschow
WIR ERWARTEN VIEL UND KRIEGEN AUF ALLE FÄLLE NICHT GENUG

Bonn erwartet den Staatsbesuch des Jahres. Die Feier gilt nicht dem neugewählten Präsidenten der Weltmacht, der wir die Freiheit und unsere Rolle als zweitstärkste NATO-Macht verdanken; auch nicht dem französischen "Männerfreund" Kohls, mit dem wir gemeinsam Europa erbauen und der auf "Routinebesuchen" im lieblichen Oggersheim abgespeist wird. Vom 12. bis zum 14. Juni kommt der erklärte Hauptfeind der BRD, vor dessen drohendem Waffenarsenal wir uns nicht genug fürchten können, zumal wenn uns seine Abrüstungsvorschläge ein Stück weit entwaffnen wollen.

Diplomatie des Staatsbesuchs

Dennoch verliert der Bundeskanzler, der Gorbatschow schon einmal mit Goebbels verglichen hat - die Sowjetunion also für die Nazis von heute hält - kein böses Wort. Die Bonner Politiker mahnen einmal nicht zu Vorsicht und Mißtrauen, sondern informieren ihr Volk über den Stolz und die freudige Erwartung, die sie beim künftigen politischen Großereignis empfinden. Mittendrin wird vor übergroßer Hoffnung gewarnt und um Verständnis dafür geworben, daß auch ein Gorbatschow nicht so einfach aus seiner russischen Haut kann.

Mit einer Positionsänderung der BRD und einer Zurücknahme ihrer grundsätzlichen Sowjetfeindschaft verwechselt das niemand. Um so mehr glaubt jeder den ausgegebenen Sprachregelungen, so würden zwischen Staaten "gemeinsame Beziehungen" geknüpft oder weiter "normalisiert", samt der Vorstellung, darüber sei die Welt sicherer geworden - bis zum nächsten häßlichen Zerwürfnis, wenn die "Tagespolitik" wieder um Zug kommt. Und das nur, weil das politische Besuchsritual, mit dem sich Staaten ihrer gegenseitigen Anerkennung versichern - die Alternative zu dieser großzügigen staatlichen Willensbekundung heißt Kriegsdrohung -, getrennt vom praktischen Umgang, mit dem Staaten sich untereinander ökonomisch und politisch Geltung verschaffen, als Staatsfeier inszeniert wird. Wenn sich Staatsoberhäupter treffen, liegen der lnhalt und das Ergebnis der wirklichen zwischenstaatlichen Beziehungen längst vor, die den weiteren Fortgang der nationalen Ansprüche, die als wechselseitige Berechnung und Erpressung in Anschlag gebracht werden, bestimmen. Das hängt nicht davon ab, ob Politiker verschiedener Nationen beim Champagner einen menschlichen Draht zueinander finden, und darüber wird dabei auch gar nicht verhandelt. Nur weil auf diesen Banketts der gemeinsame Wille: Weiter so zwischen uns! losgelöst von allen täglichen politischen Händeln so inhaltsleer grundsätzlich daherkommt, gilt der Glaube, so würden staatliche Beziehungen überhaupt erst gestiftet, eine neue Ära im Leben der Völker eingeläutet, bedauerliche Mißverständnisse ausgeräumt, so daß jeder Politik mit Verständnis, Rüstungspoker mit Friedenswillen und Handelsverträge mit internationaler Arbeitsteilung verwechseln kann - das alles wegen eines gelungenen Trinkspruchs!

So stellt das Protokoll, dem Staatschefs einen großen Teil ihrer kostbaren Arbeitszeit opfern, wenn sie in ferne Weltgegenden jetten oder ihresgleichen in die Hauptstadt einladen, einerseits alles auf den Kopf. Wenn sich Staatsmänner, neben ihrer täglichen Mühe, das Ansehen ihrer Nation im Innern und nach außen zur Geltung zu bringen, begegnen, dann kann da nur "Völkerfreundschaft" am Werk sein. Deren Symbol ist die angetretene Ehrenkompanie, die den Staatsgast ehrt, wenn sie ihn vor dem Inbegriff dessen, was der einladende Staat an Vertrauensstiftendem und Überzeugungswürdigem zu bieten hat, salutieren läßt. Der Ertrag eines Staatsbesuchs bemißt sich daran, wie oft die versammelten Staatshäupter gemeinsam zum Füllfederhalter greifen; was die unterzeichneten Verträge wem auferlegen und abfordern, kommt nur als bekräftigter gemeinsamer Wille zum Ausdruck. Politkommentatoren werden zu Meteorologen, die in Bonn zu Besuchszeiten nur ein Klima ausmachen können. Und es wäre ja blöd, wenn das nicht herzlich oder zumindest offen ausfallen würde.

Andererseits ist um so mehr Unterscheidungsvermögen, Kleinwetterlagen betreffend, verlangt. Der Schein, den Staatsbesuche repräsentieren, der Wille zur Gemeinsamkeit und zum Verständnis jenseits der praktisch herausgestellten weltpolitischen Rangfolge der Nationen und jenseits des gültigen Freund-Feind-Verhältnisses, ist nur die Form, die fertigen Machtverhältnisse als die geltende Grundlage des wechselseitigen "gemeinsamen Willens" zu bekräftigen. Wer wen einlädt, wer wo antichambrieren darf und wer wem den Tenor und die Interpretation des gemeinsamen Kommuniques vorgibt - das macht die berufsmäßige Würdigung von Staatsbesuchen erst spannend, zumal die nationale Unzufriedenheit mit der so dokumentierten Rolle auch ihr Recht verlangt.

Wir lassen Gorbi bitten

So gesehen ist die unverhüllte Freude Kohls auf ein Zusammentreffen mit Gorbatschow in Bonn nicht ohne. Vorbereitet und abgewickelt wird der Besuch, als würden in Bonn nicht der Befehlshaber eines NATO-Frontstaats und der Chef der Weltmacht Nr. 2 aufeinandertreffen, sondern als käme ein östlicher Staatsmann zu uns, um uns um Hlilfe bei der Lösung seiner Probleme zu bitten. Dafür dürfen wir ihm auch mit einigen Erwartungen begegnen: Wird der hohe Gast uns etwas Balsam aufs wiedervereinigungssehnsüchtige Herz träufeln, uns speziell einige russische Panzer und Raketen zu Füßen legen? Andererseits: Kann er es uns überhaupt recht machen? Im Gegenzug bieten wir, als geistige Hausbesitzer des gemeinsamen Hauses Europa, ihm eine offene Tür an und ermuntern ihn, aus seinen Schwierigkeiten die richtigen Konsequenzen zu ziehen, die er bei uns erfragen kann.

Das verändert zwar die wirklichen Machtverhältnisse nicht, weil ein Staatsbesuch das gar nicht schafft, aber um so unverschämter wollen bundesdeutsche Politiker aus diesem Anlaß ihre Unzufriedenheit mit einer für sie unerträglichen Lage und ihren festen Willen, sie einseitig zu ändern, dem Gast als die heute gebotene bundesdeutsche "Versöhnungs"bereitschaft antragen. Bundesdeutsche Politiker hegrüßen Gorbatschow so, als käme das Oberhaupt der feindlichen Weltmacht als Fleisch gewordener Berufungstitel für den Anspruch der BRD, sich heute mit der Sowjetunion von gleich zu gleich zu messen. Der Sowjetmensch muß verstehen, daß man mit der Sowjetunion, so wie es sie gibt, nicht auskommen kann. Wenn der Gast sich von diesem unseren Verständigungs- und Friedenswillen etwas für sich und seinen Staat verspricht, kann das den Kohls, Genschers und Vogels nur recht sein.

Wir lieben Gorbi

Gorbi ist unser Mann - das gibt der Bonner Visite dieses Staatsmanns die herausragende Bedeutung, die wir ihr zumessen. Das Protokoll ehrt den Erfinder von Glasnost und Perestroika, Fremdworten, die auch einem Kohl geläufig von den Lippen gehen, weil er sie für Übersetzungen von Demokratie, freier Marktwirtschaft, Mehr-Parteien-System und Religionsfreiheit hält. Die Höflichkeit gebietet dem Eingeladenen, gar nicht erst darauf herumzureiten, daß er mit seinem bewunderten Reformversuch etwas anderes bezwecken könnte. Wir wissen besser, was ihm und seinen Russen nottut und wonach sie sich sehnen: endlich in solchen Verhältnissen leben zu dürfen, für die die BRD ein gelungenes Musterbeispiel darstellt. Wir übersehen nicht, daß Gorbatschow sich damit eine Sisyphusarbeit aufgeladen hat, und geizen deshalb nicht mit Lobsprüchen für jeden einzelnen Schritt in die richtige Richtung. Überraschen kann uns der gute Mann mit denen nicht mehr: Seine Wirtschaftsreform, tägliche Abrüstungsvorschläge und einseitige Abrüstungsschritte sind ja im wohlverstandenen russischen Interesse, fordern uns also nichts ab. Wir hören einfach nicht hin, wenn Gorbatschow meint, dafür auch vom Westen etwas fordern zu können. Wir wollen den hohen Staatsgast doch nicht der Peinlichkeit überführen, daß er uns, also sich selbst und seinem Interesse widerspricht.

Aus der Distanz eines wohlwollenden Beobachters und Mentors sehen wir eher als der in seinem trägen und zurückgebliebenen System verfangene Gorbatschow, wo sein Reformwerk hakt - und mahnen Beschleunigung an. Jeder neue Schritt unseres Reformators, mit dem er uns beeindrucken will, ist für uns doch selbstverständlich - und selbstverständlich nicht ausreichend genug. Ohne unsere immer weitergehenden Forderungen würde der Reformprozeß auf halbem Wege steckenbleiben.

Im übrigen leidet die persönliche Wertschätzung Gorbatschows bei uns darunter, daß die Sowjetunion so groß und die BRD so klein ist. Deshalb muß ihm doch einleuchten, daß die Bundeswehr das Maß der russischen Verteidigungsfähigkeit vorgibt, sonst keimt in uns ein Verdacht auf, gerade wenn wir ihn ausräumen wollen.

Ansonsten sind wir noch nicht entschieden, wessen Trinksprüche uns besser gefallen werden, die unseres Bundespräsidenten oder die des Gastes. Wir lassen uns gerne von Gorbi und seiner Raissa Eindruck machen - das spricht gegen das System, das einen solchen Prachtmenschen eigentlich nicht verdient hat.

Wir setzen auf Gorbi

Bei so viel Verständnis für die überfällige Normalisierung der Sowjetunion dürfen bundesdeutsche Politiker auch ein paar Wünsche anmelden. Uns brennt die Wiedervereinigung unter den Nägeln, und so läßt sich zur Einstimmung auf den Besuch doch einmal fragen: "Bringt Gorbatschow ein neues Wiedervereinigungsangebot mit?" Freilich sind wir keine Phantasten. Wir wären schon mit einer offenen Distanzierung von Honecker aus dem Mund Gorbatschows zufrieden - notfalls lesen wir es auch heraus, weil wir wissen, daß der Gast natürlich nicht alles sagen kann, was er denkt. Immerhin hat unserem Bundespräsidenten ein Russe gesagt, daß die Sowjetunion nicht verantwortlich für den Mauerbau war. Solange das Honecker nicht einsieht und sie einreißt, müssen wir uns an den obersten Russen halten und ihm seinen Reformanspruch als Öffnung vorbuchstabieren, damit unser Mitmischen im Osten nicht ewig auf eine Landesgrenze mitten durch Berlin stößt. Glücklicherweise ist unser Gast inzwischen zur fälligen Einsicht gelangt, daß Westberlin ein fester und normaler Teil bundesrepublikanischen Bodens ist - wir lesen das wenigstens in die Berlin-Klausel hinein -, so daß der Unterschrift unter einige deutschrussische Verträge im Juni nichts mehr im Wege steht. Ganz zufrieden können wir dennoch nicht sein: Die logische Folge der besseren Einsicht Gorbatschows wäre doch wohl die volle Bewegungsfreiheit zwischen Berlin und der Republik für uns. Innerhalb des bundesdeutschen Transitraums kann es doch wohl keine fremden Grenzen geben; aber vielleicht sieht das der Moskauer Führer noch ein. Dann können der Binnen- und Seeschiffahrtsvertrag doch noch unterzeichnet werden.

Geborene Bundesdeutsche, deren wir uns annehmen müssen, sitzen auch in der Sowjetunion. Das wissen wir spätestens, seitdem wir sie als Aussiedler herholen und dieser unser Wille dafür spricht, daß sie in Rußland in ihrer nationalen Identität unterdrückt werden. So borniert sind wir nicht, dabei nur an das Schicksal unserer Landsleute zu denken. Wir sind Unterstützer der Loslösung aller Nationalitäten aus dem Zwang eines uniformen Einheitsstaates. Dabei denken wir nicht an Zersetzung, sondern an das Menschenrecht auf Vielfalt. Überhaupt haben wir die nicht nur geistige Patenschaft für den Reformprozeß im gesamten Ostblock übernommen, so daß wir vom Gast erwarten dürfen, daß er auf unseren Ratschlag hört, seine Tatkraft voll auf die Modernisierung der Sowjetunion zu konzentrieren und im Ostblock nur da helfend einzugreifen, wo unserer Meinung nach die verstockten Reformgegner sitzen.

Schön wäre auch das Gastgeschenk eines Bonn extra zugedachten Abrüstungsvorschlags. Damit könnte Gorbatschow sich um die Aufwertung der BRD in der NATO verdient machen, deren mäßigender Einfluß in diesem Bündnis ja vorab feststeht. Ganz im Sinne des Besuchers könnten wir dann einen solchen Vorschlag in die Verhandlungsmühle der NATO verweisen und damit dem unsinnigen Verdacht entgegentreten, unser Staat wäre vom Bündnis abzuspalten. Es ist ihm wie uns doch klar, daß die BRD nur innerhalb der NATO und als deren hochgerüstetes Mitglied ihre vermittelnde Rolle spielen kann.

Wir helfen Gorbi

Bei aller Achtung vor den intellektuellen Fähigkeiten eines Gorbatschow wissen wir nicht, ob der oberste Chef der Russen die Misere seines maroden Systems, gegen die er mit seiner Wirtschaftsreform ankämpft, überhaupt so grundsätzlich begriffen hat, wie wir das tun. Den Ärger, daß es nach unserer Meinung immer noch viel zuviel russischen Staatsreichtum gibt, mit dem dieser Staat sich zuviel herausnehmen kann, lassen wir uns nicht anmerken. Uns gefallen eher die Beweise, daß im Reich des roten Bären schlichtweg nichts mehr klappt. Vor allem ist der Konsum fast nicht mehr vorhanden, was eindeutig für die BRD spricht, die ihre Wirtschaft nach Rentabilität mißt. Hart gesagt, ist die UdSSR infolge siebzigjähriger Planwirtschaft auf den Status eines größeren Entwicklungslandes herabgesunken, ohne daß ihr derzeitiger Chef das merkt. Ihm fehlt halt unsere scharfe Analyse; deshalb das halbherzige und zögerliche Herumkurieren an Symptomen.

Das soll beileibe nicht als Beleidigung verstanden werden, sondern nur dafür stehen, daß bei diesem besorgniserregenden Zustand der UdSSR nicht 'business as usual', sondern freigiebige Hilfe von uns gefordert ist; nicht Geschäfte, von denen beide Seiten sich ihren Nutzen versprechen, sondern die einseitige Öffnung der russischen Planwirtschaft für den segensreichen Einfluß bundesdeutschen Kapitals, am besten einschließlich eines Exports unseres vorbildlichen Wirtschaftssystems. Beim unterschriftsreifen Investitionsschutzabkommen haben wir natürlich peinlich darauf geachtet, daß sich der Vertrag für bundesdeutsche Firmen auch rechnet, aber natürlich nur, damit diese Entwicklungshilfe vor Ort auch rationell eingesetzt wird. Wenn die Ergebnisse einen Gorbatschow enttäuschen sollten, dann wissen wir schon jetzt, daß es am falschen russischen Umfeld liegt.

Gut gefällt uns der Einfall Gorbatschows, die Mängel seines Systems lägen auch und vor allem an mangelnder Verantwortung und Eigeninitiative. Da hat er wieder etwas gemerkt, was wir ihm schon lange überzeugend vormachen. Bei uns zählt ja auch - sieht man einmal ab von solchen Kleinigkeiten wie dem Privateigentum an Produktionsmitteln und der weniger frei erbrachten Arbeitsleistung der Arbeiter in den Fabriken - nur und allein die freiwillige Initiative. Da sind wir gerne bereit, an unseren Managerschulen auch wißbegierige Russen in die Kunst der Menschenführung einzuweihen.

Zwar wissen wir, daß Erdbeben und Kernkraftwerksunfälle drüben am System liegen. Das kann uns nicht von demonstrativer menschlicher Wiederaufbauhilfe abhalten. Wenn darüber Armenier bemerken, wer ihnen wirklich hilft und wer ihnen nur schadet, ist das ein kleiner Lohn für eine gute Tat.

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Wenn Gorbatschow meint, dem von ihm entdeckten Weltgesetz des heutigen Lebens - dem 'Frieden' - könnten sich auch bundesdeutsche Politiker nicht entziehen, und wen er darauf setzt, ausgerechnet westliche Kapitalhilfe würde seinen Russen zu mehr Konsum und Produktivität verhelfen, ist das eine Sache. Die andere ist der als guter Wille verpackte unverschämte Forderungskatalog der BRD, den diese noch dazu als eine einzige freiwillige Vorleistung versteht, die nur durch weitere Zugeständnisse von sowjetischer Seite gerechtfertigt werden kann. Dafür, daß beides dasselbe wäre, berufen wir uns auf Gorbatschow. Deshalb freut sich Bonn auf den hohen Gast.