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Dieser Artikel ist in der MSZ 3-1989 erschienen.

Der Raketen-Streit im westlichen Bündnis
STÜRZT GORBATSCHOW DIE NATO IN EINE SINNKRISE?

So wird schon ein wenig getan, von Politikern und Meinungsmachern diesseits und jenseits des Atlantik. Aufregung ist auf der Tagesordnung und jede Übertreibung erlaubt.

Da steht die NATO vor der "schwersten Krise ihres 40jährigen Bestehens", ja vor dem "Zerfall", weil die BRD (bzw. die USA/England) anderen Staaten, d.h. den USA (der BRD) einfach ihren Standpunkt aufzwingen will. Da ist der Kalte Krieg endgültig zu fnde, weshalb eine neue Aufrüstung total unpassend sei und "Gorbatschow beim Wort genommen werden muß". Da ist umgekehrt gerade dieser Standpunkt die höchste Ausgeburt sowjetischer Perfidie, sozusagen der entscheidende Schlag im Kalten Krieg, verfolgen die russischen Friedensschalmeien den heimlichen, aber umso erfolgreicheren Zweck, die NATO zu spalten, einen Keil zwischen Europa und die USA zu treiben, wie es die SU seit 40 Jahren versucht. Da driftet die BRD gen Osten ab, um sich mit der DDR zu einem neutralen Großdeutschen Reich unter sowjetischem Protektorat zu vereinigen und so die Finnlandisierung des westlichen Kontinentaleuropa einzuleiten, - woran dann gleich noch die EG zerbricht. Oder umgekehrt: Da entwickelt sich die EG zum Kristallisationskern des neu erwachenden christlich-abendländischen Gesamteuropa vom Atlantik bis zum Baltikum, assoziiert mit lauter finnlandisierten ehemaligen Ostblockstaaten. Und so siegen endlich die westlichen Werte weltweit, bzw. wird Europa zum künftigen wirtschaftlichen und politischen Hauptrivalen der USA, gegen den höchste Wachsamkeit geboten sei usw.

Also, wie ist es: Ist die BRD ein "unzuverlässiger Verbündeter", der "Gorbimanie" verfallen, wenn sie gegen die Aufrüstung ihres Territoriums mit einem neu entwickelten Arsenal nuklearer Kurzstreckenraketen ihr "nationales Interesse" ins Feld führt? Droht ein "Rückzug der USA in den Isolationismus", weil ihre 325000 Boys in der Bundesrepublik ihres nuklearen Schutzes beraubt werden? Nichts dergleichen, weder droht ein Ende der NATO, noch steht der von einigen erhoffte Einstieg in den Ausstieg aus den "Militärblöcken in Europa" an. Und vor allem sollte man sich hüten, Partei zu ergreifen, indem man sich erfreut in den "wiedergefundenen sicherheitspolitischen Konsens" der Nation von Kohl bis Schily, von Dregger bis Bahr einklinkt.

Die Sorge um Schadensbegrenzung im Kriegsfall - nur begrenzt glaubwürdig

Die Lance-Rakete, eine von vielen atomaren Kurzstreckenwaffen der NATO in Europa, steht demnächst zur Erneuerung an; die zuständige Atommacht USA plant die Ablösung durch ein Modell mit einer Reichweite knapp unter dem offiziellen Mittelstreckenbereich und will darüber einen Bündnisbeschluß; dagegen möchten die NATO-Deutschen sich verwahren. Sie fordern Verhandlungen mit der Sowjetunion über den Abbau dieser Waffengattung, möglichst eng zeitlich und sachlich koordiniert mit den anlaufenden Verhandlungen über konventionelle Abrüstung in Europa, und machen dafür zwei Gründe geltend. Zum einen passe ein solcher Aufrüstungsschritt wie die Ersetzung von Lance durch 500-Kilometer-Raketen nicht in die durch sowjetische Nachgiebigkeit völlig neu belebte welt-, europa- und rüstungspolitische "Landschaft"; die Chance einer Entlastung Europas von einem Großteil der hier aufgebauten Waffen, konventionellen wie atomaren, dürfe man nicht verpassen. Zum andern handle es sich gerade bei den atomaren Kurzstreckenwaffen um ein Kriegsgerät, dessen Einsatz elementaren deutschen Interessen widerspreche, weil es nur deutsches Land verwüsten und mehr oder weniger nur deutsches Volk vernichten könne; die DDR wird dabei explizit in den Zuständigkeitsbereich westdeutscher Sorgen einbezogen.

Insbesondere das zweite Argument hat von allen Seiten viel Beifall erhalten - nur die CSU fühlte sich, hämisch, an das alte "Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr" erinnert -, obwohl es der offiziellen NATO-deutschen Kriegsverhinderungsideologie mit ihrem Dogma von der "Unführbarkeit" des Atomkriegs und vom "rein politischen" Charakter seiner Waffen auffällig genug widerspricht. Es bezieht sich ja immerhin auf eine Bilanz der absehbaren Schäden, die den Frontstaat und seinen zur "Wiedervereinigung" vorgesehenen östlichen Nachbarn im Falle des Krieges treffen würde, der angeblich ganz "undenkbar" ist. So völlig "undenkbar" ist er also gar nicht; daß seine Vorbereitung ernst gemeint ist, das ist den westdeutschen Mitveranstaltern durchaus bewußt; deren Einwand entstammt dem Realismus der NATO-Planungen für den europäischen Landkrieg. Wäre dieser Einwand außerdem noch wirklich ernst gemeint, stände das nationale Interesse der BRD tatsächlich in einem Gegensatz zum Krieg, so wie die NATO ihn für Europa vorsieht und vorbereitet - dann läge mit der Beschwerde ein Unvereinbarkeitsbeschluß, eine Kündigung der bundesdeutschen NATO-Mitgliedschaft vor.

Aber das will ja niemand.

Was will die bundesdeutsche Führung dann? Sie meldet einen Gesichtspunkt nationaler Besorgnis und Unzufriedenheit an, den sie neben ihren guten Gründen für die deutsche NATO-Zugehörigkeit auch noch hat. Ihre Rolle in der NATO-Strategie für Mitteleuropa - als Bastion und Objekt gemeinsamer "Vorneverteidigung", was eine Benutzung als Schlachtfeld, auch für atomare Gefechtsfeldwaffen, allemal mit einschließt - kennt die BRD schon längst; und das war und ist s ihr wert: So und nur so ist dieser Staat wieder wichtig geworden. Die nationale Kalkulation der im Kriegsfall sicheren Unkosten dieser Karriere ist immer angestellt worden; und zwar immer als nachgeordnete, zweite Überlegung. Ein Beitrag zur strategischen Vernunft ist sie sowieso nicht; wer einen Krieg gewinnen will, darf vor Schäden auf der eigenen Seite nicht zurückscheuen; und wenn die Mittel für eine erfolgreiche Verteidigung ins Gebiet des Gegners hinein in Stellung gebracht werden, interessieren die absehbaren Verwüstungen auf der eigenen Seite nur noch im Hinblick auf den eigenen militärischen Erfolg. Der Gesichtspunkt der Schadensbegrenzung mag dabei eine gewisse Bedeutung haben. Auf alle Fälle ist es aber widersprüchlich, wenn eine Nation diesen Gesichtspunkt zu ihrem elementaren nationalen Interesse in der Frage eines Krieges erklärt, an dem sie vor allem anderen führend beteiligt sein will.

Warum leistet die Bundesregierung sich jetzt diesen Widerspruch? Noch vor zwei Jahren hat sie keine nationalen Schadensbilanzen gelten lassen, wie sie damals von den Experten der einstigen Friedensbewegung für einen Krieg mit den gerade aufgestellten eurostrategischen Aromraketen mittlerer Reichweite fleißig erstellt wurden. Wie es sich für einen entschlossenen Teilhaber eines Kriegsbündnisses gehört, hat sie den Zuwachs an strategischen Fähigkeiten gewollt und begrüßt, der mit diesem Rüstungsfortschritt verbunden war. Weggekommen sind die Pershing-Raketen und Cruise Missiles auch nicht wegen irgendwelcher mit ihrem Gebrauch verbundenen Risiken, womöglich für deutsche Nationalheiligtümer, sondern auf Grund eines rüstungsdiplomatischen Geschäfts zwischen den atomaren "Supermächten". Auf dieses diplomatische Geschäftswesen, dem die Bundesregierung seinerzeit noch zutiefst mißtraut hat, beruft sich die bundesdeutsche Außenpolitik heute, wenn sie eine bessere Ausnutzung der von sowjetischer Seite gebotenen Verhandlungschancen fordert. So wie damals die US-Regierung, gegen bundesdeutsche Widerstände, ein Rüstungsinteresse zurückgestellt und eine militärische Option aufgegeben hat, um von der Sowjetunion die Zurücknahme eines bedeutenden Fortschritts in ihrer Bewaffnung für einen europäischen Krieg, die Öffnung für Rüstungskontrollen vor Ort sowie die Zurückstellung größter sowjetischer Bedenken gegen die nun in die Wege geleitete amerikanische Weltraumrüstung zu erreichen, so stellt sich heute die Bundesregierung hin und verlangt die Aufgabe eines anderen Bestandteils im NATO-Kriegsarsenal, sofern sich in Verhandlungen eine entsprechend umfassende Zurücknahme der militärischen Positionen der Sowjetunion in Europa erreichen läßt.

Neu an diesem Vorschlag ist nicht bloß, daß sich damit die BRD offensiv als Promoter, wenn schon nicht als Subjekt einer erfolgsorientierten Rüstungsdiplomatie für Europa ins Spiel bringt. Ihr Verhandlungsziel reicht bedeutend weiter als der INF-Vertrag: In Verbindung mit einem sehr einseitigen sowjetischen Abbau von konventionellen Kriegsmitteln sollen auch die atomaren Waffen für den europäischen Krieg drastisch vermindert werden, ebenso einseitig vor allem auf sowjetischer Seite. Der Vorschlag ist auch nicht - wie das beim alten NATO-"Doppelbeschluß" über neue Mittelstreckenraketen und gleichzeitige Verhandlungen der Fall war - mehr oder weniger auf sowjetische Ablehnung berechnet, also ein diplomatischer Begleitakt zu einer neuen "Rüstungsrunde", sondern ist in all seiner Einseitigkeit dennoch eine grundsätzlich entgegenkommende Antwort auf sowjetische Abrüstungsvorschläge und Verhandlungswünsche. Und - er verwirrt die NATO, weil er eben erkennbar die Routine des durch die Erfordernisse der beschlossenen Strategie gegen die Sowjetmacht vorangetriebenen Rüstens unterbrechen will; dafür steht, immerhin, die mit ganz neuem Nachdruck vorgetragene uralte Unzufriedenheit der BRD mit den nationalen Schadensaussichten im Kriegsfall.

Der Grund für den Streit: sich nicht ausschließende Alternativen in der Politik der Stärke

Was da die NATO-Deutsche in Bewegung und die Bündnispartner in Aufregung versetzt, ist der Erfolg, den die sowjetische Regierung dem Westen überlassen hat und der einen neuen Beschluß über die Generallinie des Bündnisses fällig macht - und sei es der, daß es bei der alten Linie bleibt. Die Sowjetunion nämlich hat das rüstungsdiplomatische Geschäft über die atomaren Mittelstreckenwaffen nicht als abgeschlossene Episode abgehakt. Ganz im Sinne der Kalkulationen, die sie zu diesem Vertrag bewegt haben, definiert sie ihre eigenen militärischen Notwendigkeiten in und für Europa neu. Sie nimmt Abstand von der im Westen so hart gegeißelten "Überrüstung", mit der sie sich bislang die Fähigkeit verschafft hat, jede denkbare NATO-Strategie für einen Krieg um Europa kaputtzumachen. Sie rüstet nicht mehr mit dem Ziel, auf jeden Fall und um jeden Preis die militärische Herausforderung durch die NATO in Europa zunichte zu machen; sie definiert ihren Sicherheitsbedarf an dieser Front so bescheiden, als wäre ihr vom Westen dauernd bestrittener Besitzstand in Europa so etwas wie ein "Regionalkonflikt", der durch Disengagement beizulegen wäre. Mit dieser Neuorientierung macht die sowjetische Regierung auch nach der bündnispolitischen Seite hin ernst: Sie stellt sich zu ihren Partnern gar nicht mehr richtig wie zu Mitgliedern des "sozialistischen Lagers", das nur gemeinsam der westlichen Feindschaft standhalten kann, sondern fast schon wie zu nationalen Problemfällen, mit denen es im wesentlichen noch eine Gemeinsamkeit gibt, und das ist die gemeinsame Suche nach Wegen zu einem friedlichen Auskommen mit den Mächten des erfolgreichen Kapitalismus. Denen gegenüber legt die sowjetische Regierung eine Konzilianz an den Tag, daß sich sogar der bundesdeutsche Revisionismus, der alte Rechtsanspruch auf neue politische Zuständigkeiten für - und womöglich sogar Grenzziehungen in Mittel- und Osteuropa, durch Entgegenkommen bestätigt fühlt, bis tief hinein in die sowjetische Nationalitätenfrage erstreckt sich inzwischen der Aufgabenkreis bundesdeutscher Ost- und Volkstumspolitiker.

Diese von der Sowjetunion einseitig gesetzten politischen und militärischen Fakten werfen für die NATO die Frage nach den passenden Folgerungen und neuen Zielen auf; die Bundesregierung stellt diese Frage. Die Sowjetunion nimmt die militärische Herausforderung Stück um Stück zurück, die der Westen in der Massierung militärischer Macht hinter dem "Eisernen Vorhang" immer hat sehen wollen; sogar die leitenden NATO-Soldaten wissen jetzt - oder sagen zumindest -, daß Moskau keinen Krieg will. Heißt das etwas für die NATO und ihren militärischen Aufbau vor dem "Eisernen Vorhang"? m Grunde nicht lautet die Antwort der Führungsmacht; wenn die sowjetische Seite ihren Kampf gegen die NATO-Strategie für Europa aufgibt, hat die NATO noch lange keinen Grund, ihrerseits ihre Strategie zu ändern; das kann erst der Fall sein, wenn der Osten sich auf ein der NATO genehmes Maß herabgerüstet hat und dann zu weiterem Entgegenkommen bereit ist. Bis dahin muß das Rüsten nach gewohntem Erneuerungsschema weitergehen. Und wenn dabei eine Rakete auf die Tagesordnung kommt, die ungefähr soweit fliegt wie die sowjetische SS 23, die die amerikanischen Unterhändler neulich erfolgreich zur Mittelstreckenrakete definiert und in das INF-Geschäft einbezogen haben, dann ist diese Provokation nicht einmal unnütz, sondern ein schöner Test auf die Haltbarkeit der sowjetischen Vertragstreue. Solche Provokationen sollte man besser vermeiden meldet dagegen die bundesdeutsche Seite an. Der sowjetische Wille, sich militärisch neu zu sortieren, bedarf der politischen Pflege, um irreversibel zu werden. Deswegen sollte die NATO bei ihren Waffenbeschaffungsprogrammen für den europäischen Krieg durchaus eine Verzögerung eintreten lassen und nicht so intransigent auf ihrem klassischen Grundsatz beharren, daß noch gar nichts errungen ist, solange der eindeutige Sieg über die Sowjetmacht noch nicht gewonnen ist. Ein Aufschub beim Rüsten und insbesondere bei Rüstungsprojekten, die die Unversöhnlichkeit und den allzeit bereiten Kriegswillen der NATO so betont in den Vordergrund rücken wie eine neue Quasi-Mittelstrecken-Atomrakete, könnte insbesondere Zeit und politischen Spielraum schaffen für eine weitere Zersetzung des östlichen Bündnisses - die ja auch nicht ganz von selbst und aus freiem Beschluß der sowjetischen Regierung so erfolgversprechend in Gang gekommen ist, sondern nicht zuletzt durch die bundesdeutsche Politik der beharrlichen Einmischung mit gemäßigten Provokationen, ruinösen Krediten und sachlichen Erpressungen. Wenn die Erfolge der bisherigen Zersetzungspolitik schon in dem ganzen Bereich, auf den der bundesdeutsche Revanchismus im Sinne einer gründlichen Revision der Weltkriegsergebnisse - sich erstreckt, deutschen Einfluß und deutsche Zuständigkeiten in nie für möglich gehaltenem Ausmaß geschaffen haben: Wieso sollten sich die bundesdeutschen Revanchisten und Kriegsrevisionisten dann nicht auch umstellen können und mit den "Genscheristen" gemeinsame Sache machen, die sich schon immer mit "Entspannungspolitik" in dem Zwischenstadium zwischen Krieg und Frieden eingenistet haben, das die NATO seit vier Jahrzehnten ihrem sowjetischen Feind "anbietet" ? Die NATO-Deutschen jedenfalls lassen dieses Stadium nicht ungenutzt verstreichen; sie können es so gut nutzen, daß sie gegen seine Fortdauer fürs erste gar nichts einzuwenden haben; inzwischen mögen und können sie sich sogar vorstellen, der Sowjetunion wäre Mittel- und Osteuropa, das europäische Streitobjekt der NATO, womöglich sogar ohne kriegerischen "Show-down" abzunehmen.

Das wiederum halten die USA und andere NATO-Partner für allzu optimistisch und für unrealistisch; und das keineswegs bloß deswegen, weil die BRD die Kunst der friedlichen Zersetzung des "Ostblocks" erfolgreicher betreibt als sie. Für die westliche Weltordnungsmacht mit ihrem Anliegen, den sowjetischen Staat wieder in ihre "Völkerfamilie heimzuholen", haben alle rüstungsdiplomatischen Erfolge noch stets die Seite des Mißerfolgs an sich gehabt, daß der Feind sich eben nicht aufgibt - friedlich. Die Reichweite jener umfassenden militärischen Herausforderung des Gegners durch überlegene Rüstung, von der auch die Zersetzungserfolge der bundesdeutschen Ostpolitik zehren - die BRD-Politiker wissen schließlich, weshalb sie vor allem n der NATO sind! -, bleibt arg begrenzt, solange es bei der bloßen Herausforderung bleibt. Und gerade für den Fafl, daß die zielstrebige Zersetzung der sowjetischen Macht erfolgreich weitergeht, muß die verantwortliche Weltmacht mit ihren Verbündeten erst recht gerüstet sein. Einen Sieg ohne Krieg kann kein verantwortlich denkender NATO-Politiker in Rechnung stellen; also bleibt Kriegsvorbereitung das Geschäft der Allianz und alles andere ein Zusatz.

Auf der Linie werden die so hysterisch zankenden Verbündeten sich schon auch wieder einig werden.