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Dieser Artikel ist in der MSZ 9-1988 erschienen.


DER JUDE ALS SÜNDENBOCK

"Darum schreit man: haltet den Dieb! und zeigt auf den Juden. Er ist in der Tat der Sündenbock, nicht bloß für einzelne Manöver und Machinationen, sondern in dem umfassenden Sinn, daß ihm das ökonomische Unrecht einer ganzen Klasse aufgebürdet wird." (III, 154 bzw. 205)

Diese Vorstellung, daß zur Vermeidung eines möglichen Aufstands der deutschen Arbeiterklasse gegen ihre Herrschaft und Ausbeuter trickreich die Juden als Sündenböcke aus der Tasche gezogen worden seien, denen man einfach das "ökonomische Unrecht" aufbürden konnte, ist zwar beliebt, aber nicht besonders logisch.

Sicher hat Hitler die Juden zu Feinden des deutschen Volkes erklärt und entsprechend behandeln lassen. Nur - daß die Judenvernichtung in Wahrheit ein Manöver gewesen wäre, mit dem er "eine ganze Klasse" eingeseift und von ihrem "eigentlichen" Anliegen abgebracht hat, das kann nicht stimmen.

Die Sündenbock-Theorie beruht nämlich einerseits auf der Unterstellung, daß die Arbeiterklasse sich auf ihre ökonomische Lage besonnen hätte, sich über die Verursacher ihres immerzu kümmerlichen Lebensunterhalts im klaren und darüber hinaus auch bereit gewesen wäre, daraus eine praktische Konsequenz zu ziehen, die den Staat gefährdet hätte. Zugleich soll sie sich aber von diesem Vorhaben einfach dadurch "ablenken" gelassen haben, daß man ihr (irgend-) einen Sündenbock gezeigt hat. Damit wiederum wird derselben Arbeiterklasse unterstellt, sie hätte genau derselben Herrschaft, die sie zuvor für ihre miese Lage verantwortlich gemacht hat, gutgläubig abgenommen, daß die am "ökonomischen Unrecht" völlig unschuldig sei und vollstes Vertrauen verdiene. Diese Sorte nationalistischer Vertrauensseligkeit verträgt sich schlecht mit der Unterstellung der ganzen Konstruktion, die Klasse sei zum Kampf gegen ihre Ausbeuter bereit gewesen.

Darüber hinaus soll die Arbeiterklasse aus heiterem Himmel geglaubt haben, daß Leute, die ja im ökonomischen Leben Deutschlands genauso auf die gesellschaftliche Hierarchie verteilt waren wie die Deutschen 'arischer Rasse' auch, ausgerechnet aufgrund eines ihnen zugeschriebenen rassischen Merkmals an der eigenen ökonomischen Lage Schuld gewesen seien. Da soll sich also das Wissen um die Gründe der eigenen ökonomischen Misere bestens vertragen mit der Bereitschaft, auf jede nationalistische Deutung des Elends einzusteigen.

Und schließlich sollen Leute, die an der Besserung ihrer materiellen Lage interessiert waren, plötzlich damit zufriedengestellt worden sein, daß ihnen irgendein Schuldiger präsentiert wurde, desse Verfolgung bekanntlich um keinen Deut reicher macht.

Fazit: Die Sündenbock-Theorie taugt überhaupt nichts. Arbeiter, denen es tatsächlich um ihren materiellen Nutzen geht, lassen sich ein nationales Programm nicht bieten, das ihnen Arbeits- und Kriegsdienst einbringt. Da hilft dann auch kein Sündenbock. Von solchen Arbeitern gab es offensichtlich 1933 viel zu wenige.

Umgekehrt fällt die Hetze gegen Juden, Ausländer und Kommunisten nur bei anständigen Deutschen auf fruchtbaren Boden. Bei Leuten also, die ihren Erfolg mit dem Erfolg der Nation gleichsetzen, bei anderen die eigene Opferbereitschaft für das Große und Ganze vermissen und deswegen staatlichem Terror gegen alle, die als Störer eines gelungenen Verhältnisses zwischen Staat und Volk dingfest gemacht werden, beipflichten. Ein Trick mit einem 'Sündenbock' erübrigt sich da: Und wenn ein solcher Trick nötig wäre, würde er gar nicht funktionieren.