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Dieser Artikel ist in der MSZ 7-1988 erschienen.

Zeitgeist
DER MYTHOS IM LICHT DER WISSENSCHAFT

Der Mythos ist wieder angesagt. Nicht vom Papst, den Ayatollas oder sonst einem Guru - bei denen ist der Umgang mit mythologischem Personal nichts Besonderes, sondern das normale Geschäft -, sondern von der Wissenschaft. Philosophen, Sozial- und Literaturwissenschaftler argumentieren für die (erneute) Anerkennung des Mythos durch das Denken. Sie wissen auch, daß das ein Widerspruch ist, behaupten aber, daß er notwendig bis unumgänglich sei, und bieten gute Gründe auf, warum es verkehrt wäre, den Mythos den Gläubigen zu überlassen.

Mythos - was ist das?

Warum tritt der Fluß über die Ufer: Weil der Flußgott zürnt. Woran liegt es, ob die Jäger das Wild erlegen: Daran, ob die zuständige Gottheit gnädig gestimmt ist. Warum tut der alte Römer gut daran, dem Häuptling seiner urbs zu gehorchen: Weil deren erster Häuptling namens Romulus von den Göttern zu einem der ihren erhoben wurde. Jeder kennt ein paar von den schlichten bis verworrenen Geschichten, die "den Mythos" ausmachen. Sie thematisieren die Abhängigkeit der damaligen Menschheit von den Gewalten und Zufällen einer unbeherrschten Natur; deren unberechenbare Wirkungen auf die eigenen Absichten interpretieren sie als die Tat höherer Wesenheiten, die man beeinflussen kann, und ergänzen die praktische Ohnmacht durch eine Überwelt höherer Wesenheiten, die manchen verrückten Dienst an den hohen Herrschaften nahelegt. Nach dem gleichen Muster verklären sie die damalige Herrschaft zum Statthalter göttlicher Übermächte. Heutzutage glaubt kein Mensch an diese mythischen Geschichten. Es wäre auch lächerlich, Herrscherfiguren in die Nähe von Göttern zu rücken, wo die Herrschaft längst über die Form persönlicher Willkür der Herrschenden hinaus ist, und Flußgötter zu beschwören, wo die Ökonomie auf Naturbeherrschung beruht und die Daseinsfristung der Leute, ihr Erfolg wie ihr Scheitern, sich an ihren ökonomischen Mitteln bemißt. Daß Mythen die Ideologien längst vergangener Zustände sind, haben auch die Philosophen mitgekriegt. Über die Maler der bekannten Höhlenbilder sagt Blumenberg:

"Der homo pictor ist nicht nur der Erzeuger der Höhlenbilder für magische Jagdpraktiken, sondern das mit der Projektion von Bildern den Verläßlichkeitsmangel seiner Welt überspielende Wesen." (Blumenberg, Arbeit am Mythos, 14)

Daß die Bilder gemalte Einbildungen sind, die die Ohnmacht der Jäger und Sammler höchstens "überspielen", ist dem Philosophen bekannt. Er weiß, daß die Mythen das, womit sie sich befassen, verkehrt auffassen. Das macht aber nichts angesichts der Leistung, die das mythische Denken unabhängig von seinem Gehalt darstellt: Es ist nämlich immerhin eine theoretische Stellung zur Welt und eine für damalige Verhältnisse passende dazu. Weil er die eigene Ohnmacht als Eigenschaft der Lebensbedingungen deutet und damit angeblich den "Verläßlichkeitsmangel" mit einer Glaubensfindung bewältigt, wird dem Glauben von damals Respekt gezollt. Das Kompliment gilt einer Orientierungshilfe, von deren Falschheit man weiß; mit deren Hilfscharakter es also gar nicht so weit her gewesen sein kann. "Überspielt" wird da überhaupt nichts, weil die praktische Ohnmacht nur ideell verdoppelt wird. Dennoch, ja deswegen, entdeckt ein moderner Theoretiker in uralten Mythen eine bemerkenswerte Tradition.

Es ist sein philosophisches Lebensbedürfnis nach einer Weltanschauung, das auf die Richtigkeit des Denkens verzichten kann, weil es bloß auf einen theoretischen Kommentar zur Ohnmacht gegenüber beliebigen, vorausgesetzten Umständen aus ist, der diese in höherem Licht erläutert und dem Ohnmächtigen eine ideelle Teilhabe an den höheren geistigen Mächten vorgaukelt. Dieses philosophische Bedürfnis sieht er in den Mythen in nuce befriedigt - was ja auch stimmt: Nur erscheint ihm die Weltanschauung, die die Mythen tatsächlich stiften, nicht mehr als die Leistung verkehrter Erklärung, sondern korrekten Verstandesgebrauchs - korrekt, weil der mythisch Denkende sich "die Welt" so zurechtlegt, daß er in seinem Zustand des Ausgeliefertseins prächtig dazupaßt. In diesem Sinne verleiht Blumenberg dem homo sapiens, der sich beim Malen von allerlei Bildern ziemlich über die Gegenstände seines Denkens täuschte, den anthropologischen Ehrentitel eines "homo pictor". Überhaupt waren die alten Mythenerfinder in den Augen eines heutigen Philosophen ziemlich moderne Philosophen:

"Wie er (der Mythos) den Abbau des Absolutismus der WirkLichkeit betrieb, war es die Verteilung eines Blocks opaker Mächtigkeit, über dem Menschen und ihm gegenüber, auf viele einander ausspielende bis aufhebende Gewalten." (Blumenberg, 20)

Daß in den Mythen die natürlichen oder gesellschaftlichen Mächte, die mythologisch "erklärt" werden, deutlich genug erkennbar sind, beirrt den Philosophen nicht. Ihm ist alles einerlei, nämlich ein "Absolutismus der Wirklichkeit": die Erfahrung abstrakter Abhängigkeit schlechthin. Die ist zwar an bestimmten Gegenständen der Welt schlechterdings nicht zu machen, ermöglicht aber dem Philosophen, dem Mythos eine eigene Logik zuzubilligen und die vielen verschiedenen und einander widersprechenden Mythen als Produkte einer verständigen Denkstrategie und deshalb als zweckmäßige Lebenshilfe zu würdigen. Nach dem Motto: wirken 17 verschiedene "Mächtigkeiten" nicht viel weniger "absolutistisch" respektive "opak" (dt.: undurchsichtig) als eine?

Moderne Theoretiker schätzen die Mythen als vernünftiges Denken. Sie wollen damit nicht behaupten, daß die eingebildete theoretische Bewältigung der Realität, die die Mythen leisten, zur Befriedigung eines praktischen Interesses taugt. Mit ihrer Wertschätzung der alten Götter wollen sie aber auch nicht das weltanschauliche Interesse befriedigen und den Glauben an Ceres oder Wodan empfehlen. Nicht der bestimmte weltanschauliche Selbstbetrug, die Methode dieses Selbstbetrugs hat es ihnen angetan. Sie preisen den Mythos als Urbild einer Verstandestätigkeit, welche die freiwillige Bejahung von Verhältnissen leistet, bei deren Einrichtung der Wille des Subjekts einen Dreck gilt. Sie halten den Mythos also für Ideologie, und deshalb schätzen sie ihn: als theoretischen Aktivismus freiwilliger Versöhnung.

Horkheimer und Adorno: Mythos, ein Denken, wie Denken sein sollte

"Die mannigfaltigen Affinitäten zwischen Seiendem (im Mythos) werden (durch die Aufklärung) von der einen Beziehung zwischen sinngebendem Subjekt und sinnlosem Gegenstand, zwischen rationaler Bedeutung und zufälligem Bedeutungsträger verdrängt. Auf der magischen Stufe galten Traum und Bild nicht als bloßes Zeichen der Sache, sondern als mit dieser durch Ähnlichkeit oder durch den Namen verbunden. Die Beziehung ist nicht die der Intention, sondern der Verwandtschaft. Die Zauberei ist wie die Wissenschaft auf Zwecke aus, aber sie verfolgt sie durch Mimesis, nicht in fortschreitender Distanz zum Objekt." (Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, 16f.)

"Der Mythos geht in die Aufklärung über und die Natur in bloße Objektivität. Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie die Macht ausüben. Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulieren kann. Dadurch wird ihr An sich Für ihn. In der Verwandlung enthüllt sich das Wesen der Dinge immer als je dasselbe, als Substrat von Herrschaft." (Ebd., 15)

"Nur solches Denken ist hart genug, die Mythen zu zerbrechen, das sich selbst Gewalt antut." (Ebd., 10)

Für Horkheimer und Adorno ist der Mythos ursprünglicher Maßstab richtigen Denkens. Nicht dadurch, daß er an den Gegenständen das unterscheidet und bestimmt, was sie auszeichnet, sondern indem er das nicht tut. Die urhumane Leistung, die die Aufklärungskritiker für die maßstabsetzende Leistung des Mythos halten, können sie nur mit Metaphern suggestiv umschreiben: die "Affinitäten zwischen Seiendem" hätten noch gegolten, "Ähnlichkeit", ja "Verwandtschaft" zwischen den Subjekten und den sonstigen Dingen hätten noch geherrscht, und zwar durch die "Mimesis", zu deutsch: die nachahmende Angleichung des Denkens an die Dinge; auf philosophisch: die "Distanz des Subjekts zum Objekt" (ebd. 19) war noch nicht auf der Welt. Dieses Bild des Mythos ist ein haltloses Ideal. Sein Widerspruch besteht darin, daß der Mythos einem Zustand selbstverständlicher Übereinstimmung mit allem "Seienden" entsprungen sein soll, diese Übereinstimmung aber eine Leistung des Denkens und Vorstellens darstellt, sich also überhaupt nicht von selber versteht. Mythen mögen den Einklang alles Seienden in Bildern vorstellig gemacht haben. Aber wenn Horkheimer und Adorno diese Bilder als Zeugnisse eines wirklich bestehenden Einklangs, einer "Identität" von "Subjekt und Objekt", nehmen, dann begehen sie eine sehr berechnende Verwechslung von mythischen Einbildungen und Wirklichkeit. Sie behaupten, daß ihr eigenes Sinn-Ideal eines gedachten Weltzusammenhangs, in dem sich nicht "sinngebendes Subjekt" und "sinnloser Gegenstand" gegenüberstehen, einmal die Welt regiert hat - solange hilflose Wilde Fetische angebetet haben; sie machen der lesenden Menschheit vor, daß der sinnig- absurde Wunsch Frankfurter Philosophen nach einem Bewußtsein, durch das der Mensch sich so endgültig in die übrigen "seienden" "Objekte" einordnet, daß er zwischen sich und dem Rest der Welt nicht mehr unterscheiden kann, im Neandertal einmal Wirklichkeit gewesen sei. Horkheimer und Adorno wissen nichts über den Mythos. Ihre Einlassungen darüber sind eine Art Robinson-Roman, der die ursprüngliche und theoretisch nicht mehr hintergehbare Gültigkeit ihres Wunsches nach der Einheit von Abhängigkeit und Harmonie, ihres moralischen Ideals gelungener Versöhnung ausmalt.

Im Selbstbewußtsein der kritischen Theoretiker, das ihnen in diesem Punkt die gebildete Menschheit abgekauft hat, ist dieses Ideal ein eminent radikaler Maßstab für Kritik. Diese Behauptung ist in doppelter Hinsicht unwahr. Erstens im Hinblick auf den Inhalt des Ideals. Ihre Vorstellung einer Harmonie von "Subjekt" und "Objekt" imaginiert einen Einklang von Individuum und Rest der Welt, der gerade nicht davon abhängig sein soll, daß die Welt dem Individuum zur freien Benutzung, zur ungehinderten Betätigung seiner Zwecke verfügbar ist. Ihr Harmonieideal schließt praktische Kritik - das Eingreifen in die Welt, um sie zum Mittel der eigenen Zwecke zu machen - ausdrücklich aus: das wäre in ihren Augen die "Macht", die den Einklang gerade zerstört. Zum zweiten: Wenn sie mit dem Maßstab vollkommen gelungenen Welt-Sinns auf die wirkliche Welt von Homer bis Hitler losgehen, dann registrieren sie überhaupt nichts anderes mehr als die Differenz ihres Ideals zur Realität. Wie alle Moralisten sind sie zu keinem unbefangenen Gedanken über den jeweiligen Grund von Not und Gewalt mehr fähig, sondern raisonnieren in einem fort darüber, daß die Welt nicht ist und noch nie war, wie sie sein sollte, und wer die daran schuldige Sau ist. Den Universalschlüssel für alle moralischen Skandale der Weltgeschichte, den auch jeder Moralist in der Tasche hat, haben sie auch noch in ihrer Mythos-Theorie untergebracht. Es ist das Denken, das ihr Ideal grenzenloser Versöhnung schon in grauer Urzeit zerstört hat, und zwar dadurch, daß es anfing, Zwecken zu dienen. Damit, so Horkheimer und Adorno, wurde Denken zur Gewalt und zum immergleichen Grund für Ausbeutung und Herrschaft bis hin zum Faschismus. Diese Auffassung ist grundverkehrt. Bei der theoretischen Befassung mit einem natürlichen oder gesellschaftlichen Phänomen auf den Vorwurf "Gewalt" zu verfallen, ist schon deshalb der blanke Unsinn, weil das Nachdenken sein Objekt praktisch völlig unberührt läßt. Die Urteile und Schlüsse, die dabei zustandekommen, mögen der "Natur" des Gegenstands zuwiderlaufen, aber davon ist letzterer überhaupt nicht berührt, sondern der Nachdenkende täuscht sich. Umgekehrt: Wenn die Theorie mit einer Täuschung - angenommen dem Mythos - aufräumt, dann hat das schon wieder mit Gewalt nicht das Mindeste zu tun, schon gleich nichts mit "Denken, das sich selbst Gewalt antut"; es handelt sich vielmehr um die Beseitigung eines Widerspruchs des Denkens zu sich selber. Vor allem aber: Daß das Nachdenken die theoretische Voraussetzung dafür liefern soll, dessen "Objekt" praktisch in den Griff zu bekommen, ist schon gleich keine Versündigung, weder am "Objekt" noch am "Subjekt". Wenn ein Mensch mit seinen Anliegen an irgendwelchen Gegebenheiten scheitert und nach deren wahrer Beschaffenheit fragt - und dies ist der praktische Ausgangspunkt aller Theorie -, dann erfährt er durch eine korrekte Erklärung des bislang offenbar verkehrt aufgefaßten Gegenstands, ob der Gegenstand überhaupt für sein Anliegen tauglich ist, ob er sich durch unsachgemäßen Umgang damit selbst um den Erfolg gebracht hat, oder ob er es mit der Macht eines entgegengesetzten Interesses zu tun hat; und das Wissen darüber klärt ihn zugleich auf über die Mittel, die die Realität für ihn bereit hält oder die er sich beschaffen muß. Kurz: Mit korrekte Wissen über das "Objekt" fängt das vielgelobte"Subjekt" überhaupt erst an, eines zu werden. Die Behauptung, daß das Wissen über die Natur ein despotisches Verhältnis zu dieser einrichte und sie dem Menschen "entfremde", ist ein romantisches Geseiche. Erstens kann man über die Natur nicht despotisch herrschen, weil die Natur keine eigenen Zwecke hat, gegen die man verstoßen könnte. Zweitens ist es unmöglich, ihr etwas abzuverlangen, was ihren Gesetzen nicht entspricht das wäre dasselbe wie Münchhausen, der sich am eigenen Schopf hochzieht. Drittens kann von einer Fremdheit gegenüber der Natur gerade dann nicht die Rede sein, wenn man "Macht" über sie ausübt: dann muß man mit ihr ja wohl bekannt sein, sonst würden die Zwecke, die sich ihrer bedienen, notwendig scheitern. Viertens ist es ein Unding, die guten Dienste, die die Naturwissenschaft der Herrschaft und der Ausbeutung geleistet hat, dem Bescheidwissen über die Natur anzulasten. Gerade weil das Wissen über Naturgesetze die Benutzung der Natur durch beliebige Zwecke ermöglicht, liegt die Art und Weise ihrer Benutzung wie deren Wirkung auf die Leute nicht am Wissen, sondern an den Zwecken, die sich seiner bedienen. Das Wissen über die Natur, näher: schon das Streben danach als gewalttätig und als Grund von Ausbeutung und Herrschaft hinzustellen, ist nicht einmal eine feinsinnige, sondern eine ziemlich grobe Entschuldigung der herrschenden Zwecke, nämlich des Kapitals und der demokratischen Staatenwelt. Es ist nämlich reichlich absurd, die technische Intensivierung der Ausbeutung und die Beschaffung immer effektiveren Tötungsgeräts durch die Politik einem "Wesen der Dinge" zuzuschreiben, das aufklärerische Philosophen und sinnvergessene Naturwirte sich freischwebend hinkonstruiert hätten. Da gesellt sich zur argumentlosen Denunziation des Denkens die maßlose Überschätzung des Denkens durch selbstgefällige Intellektuelle, die sich in dem Verdacht ergehen, letztlich ginge alles Übel dieser Welt auf gewisse Gedankenwindungen zurück, auf die Ihresgleichen einmal verfallen wäre.

Die Botschaft der Mär vom Mythos, der, indem er das "Denken nach Zwecken" gebar, sich zerstörte und damit eine "Dialektik der Aufklärung" in Gang setzte, die für jedes Elend verantwortlich zeichnet, ist deutlich genug. Den Mythos verloren, muß das Denken ein sehr schlechtes Gewissen haben und, damit es mit der Welt nicht so weitergeht, furchtbar auf sich aufpassen. Was man nun denken soll und was nicht, erfährt das geneigte Publikum von den Mythenfreunden Horkheimer und Adorno auch nicht. Statt dessen wird ihm ein methodisches Denkgebot prinzipiellster Machart verabreicht. Was immer man denkt - man hat dafür Sorge zu tragen, daß das Denken keinen Anspruch auf theoretische Gültigkeit erhebt, keinem und schon gar nicht dem eigenen Interesse zum Mittel dient, mithin vor allem hirnverwoben und unpraktisih bleibt. Der Mythos und die künstliche Trauer über seinen unwiederbringlichen Verlust ist ein Titel für ein Kritikverbot und für die Entwaffnung derjenigen Lnteressen, die in schöner Regelmäßigkeit nicht zum Zug kommen und deshalb Aufklärung über den Grund ihres Scheiterns nötig haben. Denn wenn die Theorie ihren Humanismus wahrt, indem sie für ihre eigene Ungültigkeit und Folgenlosigkeit sorgt, dann gilt nicht etwa nichts, sondern eben alles das, was durch Gewalt praktisch gültig gemacht wird.

Mythos politologisch: die unschlagbare geistige Führung der Statisten

Für Politologen ist der Mythos nicht passe. Vorbei ist höchstens ihr Verdacht gegen eine Politik, die sich mit Mythen schmückt. Heutzutage betrachten sie ihn ohne Vorbehalt und attestieren ihm Leistungen, auf die in ihren Augen kein Staat verzichten kann:

"Politische Mythen greifen, wenn auch nicht immer aufklärend, so doch klärend, in alte und neue Unübersichtlichkeiten ein; sie schaffen Einblicke und Durchblicke in undurchsichtige Verhältnisse, unüberschaubare Zusammenhänge... Die dualistisch-dichotomische Sichtweise (klare Unterscheidung von gut und böse, schön und häßlich), wie sie dem Mythos in einer erste vorläufigen Charakterisierung zugesprochen werden kann, gibt klare Orientierungen und integriert so politisch handlungsfähige Gruppen und Parteien. Das heißt nicht, daß politische Integration nur durch Mythen möglich ist. Auch gemeinsame Interessen können verbinden, aber die daraus erwachsende politische Integration ist erheblich labiler als die durch den Mythos."

"Mythen sind ein offensichtlich unverzichtbares Element politischer Integration." (Herfried Münkler: Siegfrieden. Politik mit einem deutschen Mythos, Berlin 1988, 50f., 66)

Münkler spricht dem Mythos eine einmalige vereinnahmende Macht zu und erklärt sie mit einer Leistung des Mythos, auf die die Vereinnahmten schlechterdings nicht verzichten können: ohne seine geistige "Orientierung" hätten sie null "Einblicke und Durchblicke". Daß die dem Mythos zugeschriebene Unterscheidung von gut und böse nicht etwa Chaos im Hirn, sondern die Kenntnis der als gut oder böse bewerteten Gegenstände voraussetzt, ist ihm gänzlich entgangen. Ganz selbstverständlich betrachtet er die Entgegennahme geistiger Marschbefehle als eine elementare Form des Verstandesgebrauchs und ihre Erteilung als Dienst am Menschen. Der Mythos, dem Münkler diese an und für sich für in Ordnung befundene Serviceleistung zuspricht, ist die blutrünstige Sage vom Nibelungen-Siegfried, auf die sich deutsche Kanzler von Bismarck bis Hitler gern beriefen. Daß diese Geschichte keinerlei "Einblicke" in das bereit hält, womit es deutsche Politiker wie deutsche Untertanen 1871-1945 zu tun hatten, fällt für Münkler auch nicht ins Gewicht. Das mythologische Zitat, mit dem die Politiker die Deutschen als moralisch zum Kriegführen berechtigte Nation und den Feind als böse definiert haben, hat in seinen Augen zur "Integration" geführt, und deshalb muß es als unübersichtlichkeitsreduzierender "Einblick" gewirkt haben, sonst wäre die "Integration" nicht zustandegekommen.

Hier liegt der grundlegende Irrtum des Politologen. Wenn ein Mythos es schafft, die Unterscheidung zwischen einem Wir und den anderen, zwischen dem gemeinsam Erwünschten und dem nicht zu Duldenden auszudrücken, dann ist alles Entscheidende in Sachen "Integration" schon gelaufen und vom Politologen nicht zur Kenntnis genommen. Das Wir muß schon existieren und seine Interessen sowie Feinde definiert haben, damit es mit der Nibelungenehre belegt und der Feind als böser Hagen denunziert werden kann. Passiert sein muß also: die erfolgreiche praktische Unterordnung der verschiedenen Individuen und Klassen samt ihrer Gegensätze unter das einheitliche Kommando einer politischen Gewalt; die Verfolgung auswärtiger Interessen durch die nationale Geschäftswelt und den Staat, und zwar von Interessen, durch die man sich andere Staaten zum Feind gemacht hat; die Bereitschaft der Untertanen, die mehrheitlich keine derartigen Interessen haben, den Feind ihrer Obrigkeit als den ihren zu betrachten - lauter Vorgänge, die sich überhaupt nicht von selber verstehen und schon gar nicht durch die Erzählung alter Mären zu ersetzen sind. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wenn alle Benutzungsverhältnisse politisch eingerichtet sind und von niemandem bestritten werden; wenn der Staat also nach innen Handlungsfreiheit besitzt und sein Herumfuhrwerken auf der Welt zu Gegensätzen mit seinesgleichen geführt hat, die eine kriegerische Entscheidung auf die Tagesordnung setzen; wenn er sich seines Volks als Kanonenfutter sicher ist - nur dann ist man, als fertiger Nationalist, empfänglich dafür, wenn der politische Kriegswille mit dem bar arischen Bildungszierat versehen wird, dem deutschen Siegfried wäre beim Kämpfen am wohlsten. Der Politologe aber schlägt die Frage nach den alles entscheidenden Leistungen der politischen Gewalt mit seiner Kategorie "Integration" einfach tot. Ohne Rücksicht auf das Was und Wie der Subsumtion aller unter die Ordnungsmacht betrachtet er diese bloß nach der Seite, daß die Vereinnahmung auch gelingen muß. Und aus dem gemeinsamen Auftreten gelungener Unterordnung und gewisser mythologischer Zitate folgert er einen funktionellen Zusammenhang von "Integration" und Mythos, wobei die angebliche humane Notwendigkeit nach Einordnung für die Unschuld des Mythos und dieser für den geistigen Charakter des Zusammenhalts steht.

Damit wird der Politologe natürlich nicht zum unkritischen Befürworter jedes Mythos. Dem Spleen deutscher Redner und Gymnasiallehrer, "uns" bis 1945 mit Siegfried zu vergleichen, zollt er die respektvolle Anerkennung einer in zwei Weltkriegen erwiesenen Macht: "vorzügliche Instrumente der Massenbeherrschung" (ebd., 130). Andererseits hält er den Nibelungenmythos für einen blöden Mythos, weil er auch das Hirn der nationalen Befehlshaber vernebelt hat, so daß sie die Massen in den heldischen Untergang kommandierten. Das wiederum soll an einer Zweischneidigkeit der angeblichen Herrschaftstechnik Mythos liegen:

"Aber die Reichweite politischer Mythen ist nicht reduzierbar auf ihre instrumentelle Verfügbarkeit durch politische Eliten. Politische Mythen entziehen sich fast immer dieser Reduktion auf das bloß Instrumentelle, indem sie nicht bloß in die Köpfe der zu Beherrschenden eindringen, sondern auch das Bewußtsein der sie zunächst als Instrument Handhabenden infiltrieren. Kann eine politische und/oder wirtschaftliche Elite ist auf Dauer von jener zynischen Resistenz, die erforderlich ist, um nicht selbst der moralisch-ästhetischen Suggestion ihrer mythischen Bilder zu erliegen. So wird der Mythos zum Wahrnehmungsfilter auch im Kopfe derer, die ihn zunächst als bloßes Instrnment der Herrschaft über andere zu handhaben gedachten, und immer mehr unterliegen ihre Entscheidungen selbst mythischer Komplexitätsreduktion." (Ebd., 130 f.)

Ein echtes "Verhängnis" (ebd.) muß der Politologe konstatieren, wenn die Manipulateure auf ihre eigene Manipulation hereinfallen. Da hilft nur eins: Politologische Fachleute für die Zuträglichkeit von Herrschaftstechniken, wie der Mythos eine sein soll, müssen ihn überwachen - die "zynische Resistenz", die sie den wirklichen Befehlshabern absprechen, trauen sie sich offenbar lässig zu. Worauf es da aufzupassen gilt, gibt Münkler in seinem ganzen Buch auch nicht an. Nur eins weist ihn als berufenen Aufpasser aus: daß er von der von ihm erfundenen Unwiderstehlichkeit des Mythos die Politiker nicht, sich aber schon ausgenommen hat.

Mythos schöngeistig: der passende Geist geistloser Verhältnisse Mythologie und Aufklärung: sowohl statt als auch ohne nicht

Wenn der Mythos interessant gefunden wird, dann sind nicht zuletzt literarisch beschlagene Philosophieprofessoren herausgefordert. Schließlich gehört er - und da haben sie recht in das Reich des mehr oder minder schönen Scheins. Manfred Frank befaßt sich mit der "neuen Mythologie" der Romantik. Er bespricht die Romantiker als Kinder der Aufklärung, die an der Vernunft ein "Legitimationsdefizit" festgestellt und darauf mit dem Willen geantwortet hätten, selber neue Mythen zu erfinden:

"Lessing deutet auf ein Problem, mit dem besonders Schelling sich auseinandersetzen wird: "Die sich selbst überlassene Vernnnft" - so schreibt er, Lessings sechsten Paragraphen zitierend, in der 'Philosophie der Mythologie' - vermöchte "ohne jenes Leitende, jenes numen", ihre eigene "Beglaubigung" nicht zu leisten: als ein System von Mitteln unfähig, die letzten Zwecke des Prozesses immanent zu rechtfertigen, müßte sie sich - "lediglich sich selbst überlassen" - "in das völlig Sinnlose verlieren". Früher als Schelling haben Novalis und Friedrich Schlegel Lessings Idee aufgegriffen... Auch für ihre poetologische Argumentation ist charakteristisch, daß sie der Vernunft das Recht der Analyse, der Polemik, der kritischen Infragestellung aller Positivitäten zuerkennen, ohne ihrer undialektischen Totalisierung zu einer bürgerlichen Nachfolgeideologie mit vergleichbar positivem Anspruch zuzustimmen... Aufforderung zu einer Selbstkritik des aufklärerischen Kritizismus."

"Diese Krise des Logos läßt ahnen, welches Interesse die deutsche Romantik an einer Stärkung der Rolle der Poesie nehmen konnte. Die Dichtung nämlich eignet sich dazu - so überspannt der Anspruch heute erscheinen mag -, das Legitimationsdefizit der analytischen Vernunft auszugleichen."

"Es ist das erste und einzige Mal in der Geschichte der europäischen Aufklärung, daß eine Generation junger Schriftsteller und Intellektueller... davon träumt, den Mythos - im doppelten Sinn des Wortes - synthetisch herzustellen, nachdem die objektiven Bedingungen seiner Möglichkeit als organisches Geschichtsprodukt abgestorben sind. Die Forderung steht im Dienst einer Überwindung der Legitimationskrise der analytischen Vernunft und ihrer Selbstdarstellung im öffentlichen Leben." (Manfred Frank, zit. n. Karl Heinz Bohrer Hrsg.: Mythos und Moderne, Frankfurt 1983, 22 f., 23, 26)

Der erste Fehler des Berichterstatters aus dem Reich des Geistes um 1800 besteht darin, daß er den Schlegel und Co ihre Diagnose vom "Legitimationsdefizit" der Vernunft in der Aufklärung sowie von einer Abneigung der Aufklärer gegen "letzte Zwecke" abkauft. Als Philosophieprofessor weiß Frank doch ganz genau, wieviele Wälzer die Vernunftapostel des 18. Jahrhunderts vollgeschrieben haben, um für die Moral, den lieben Gott und die Überzeugung zu werben, man lebte in der "besten aller möglichen Welten". Insofern ist der Vorwurf der Romantiker gegen die Aufklärung ungerecht. Sofern die Alten aber ihr bißchen Vernunft wirklich einmal "sich selber überlassen" und eine richtige Einsicht produziert haben, liegt die romantische Kritik von wegen "fehlender Letztbegründung der Vernunft" völlig daneben. Richtiges Denken hat seinen Grund im Interesse dessen, der Wissen braucht, damit er sich nicht täuscht und seine Anliegen nicht selber vermurkst. Einen tieferen Grund braucht das Denken nicht, und überhaupt ist es ein denkbar ungeeigneter Gegenstand für die Frage, in welcher höheren Hinsicht es überhaupt stattfinden dürfe, weil Denken eine Tätigkeit ist, die ohnehin jeder die ganze Zeit ausübt, und selbst die Frager nach seiner höheren Legitimation denken schon die ganze Zeit ohne so ein höheres Dürfen. Die philosophischen Romantiker wollen, wie Frank berichtet, aber auch gar nicht das Warum des Denkens bestimmen, sondern ihm ein "Leitendes" verpassen, damit es auch ja bei einem Sinn der Welt, alias "letzte Zwecke des Prozesses", landet. Dieses Bedürfnis, statt Wissen Weltanschauung zu produzieren, wirft freilich, anders als Frank behauptet, keinerlei wirkliche, sondern nur eingebildete Probleme auf: Die Romantiker, die die "analytische Vernunft" hinter sich lassen wollen und nach einem neuen Gesamtsinn suchen, glauben ja schon an einen solchen, bevor sie ihn gefunden haben - eine eigenartige-Suche, die immer schon am Ziel ist. Und ihr Entschluß, sich eine neue Mythologie auszudenken, ist eine gehobene Schnapsidee, weil sie sich Verbildlichungen ihres methodisch vorgenommenen totalen Welt-Sinnes ausdenken wollen, in denen sie ihren eigenen Glauben wohlgefällig anschauen können, und dabei steht schon von vornherein fest, daß ihr Sinn-Anspruch viel zu universell ist, als daß sie mit einer besonderen Verbildlichung zufrieden sein könnten.

Dies als wenig unterhaltsamen geistigen Luxus philosophischer Schwarmgeister abzutun, ist die Sache des Philosophieprofessors nicht. Die Beschwerde der Romantiker, die Aufklärung hätte für ihren totalen methaphysischen Vertrauensvorschuß an die Welt nichts Brauchbares zu bieten, akzeptiert er als berechtigte Kritik an ihr. Aber die Stellung der Gläubigen will er auch wieder nicht teilen; stattdessen hält er ihren erst noch zu erfindenden Mythos nicht nur für ein sehr respektables intellektuelles Anliegen, sondern andererseits auch für ein ziemlich bodenloses Projekt, dem "die objektiven Bedingungen seiner Möglichkeit als organisches Geschichtsprodukt" abgehen. Ein interessanter Einwand, der den Herren Schlegel und Co ja nichts als mangelnde Angepaßtheit ihres Geistes an das, was ohne ihn gilt, vorwirft und ihnen gleichzeitig ein Kompliment für gutes Gespür in Sachen "Dienst an der Überwindung einer Legitimationskrise" ausspricht. Und immerzu beteuert er, daß die durch die Aufklärung berechtigte Niedermachung derselben durch die "neue Mythologie" gar keine ist, sondern eine "Selbstkritik des Kritizismus", die diesem auch wieder eine gewisse Berechtigung zuweist. Kurz: Der Herr Professor ist mit nichts als dem Verteilen von Legitimationspunkten auf Aufklärung und Mythologie befaßt. Nur: Wem sagt er denn etwas mit der Mitteilung, nicht nur die Aufklärung, sondern auch der Mythos dürfe sein, und zwar der eine wegen der anderen: Wer kann mit dieser Mitteilung überhaupt etwas anfangen?

Das Ideal des kritischen Mythosforschers: der Rattenfänger

Frank behauptet, die Aufklärung im Lichte einer "neuen Mythologie" und den Mythos im Lichte der Aufklärung zu interpretieren, sei eine Schicksalsfrage, die uns alle betrifft: "Das Aufblühen mythischer Weltansichten in aufgeklärten Zeiten ist darum nie einfacher Rückschritt oder Reaktion: es deutet auf ein Unvermögen der Staaten, den Begründungsansprüchen ihrer Bürger zu genügen. Darf man es Alfred Rosenberg und seinen Gesinnungsgenossen überlassen, die mythischen Sehnsüchte der Europäer des 20. Jahrhunderts als den Verlust eines gesamtgesellschaftlichen "Höchstwertes" zu erkennen und für ihre Zwecke propagandistisch auszuschlachten? Zweifellos hat sein Wort vom "mythenlos gewordenen bürgerlichen und marxistischen Deutschland" die Legitimationskrise der Weimarer Republik besser, nämlich erfolgreicher interpretiert als der vereinigte Puritanismus der sogenannten bürgerlichen Parteien, aber auch als der (wie Bloch sagt) "Sektiererische Aufkläricht" der Kommunisten, die zwar die Welt verändern, aber ausgerechnet im Augenblick ihrer höchsten Not nicht interpretieren wollten." (Ebd., 35)

Ein klares Wort. Frank nimmt ein existentes Bedürfnis nach Mythen an und schließt daraus erstens auf ein Unvermögen der Staaten, sich vor ihren Bürgern zu legitimieren, und zweitens auf einen Auftrag an seinesgleichen, in diese Bresche zu springen. Darin stecken mehrere Fehler und mindestens drei politische Frechheiten. Erstens: Wenn es stimmt, daß Staaten mit der Unzufriedenheit ihrer Bürger zu tun bekommen - warum kommt der Herr Professor nicht auf den Gedanken, daß dann wohl die Politik für die Leute nichts Gutes bedeutet, und kümmert sich wenigstens theoretisch um Inhalt und Grund der Unzufriedenheit? Deshalb, weil der Herr im freiwilligen Staatsauftrag denkt und bei einem möglichen Gegensatz von Herrschaft und Untertanen nur die Sorge kennt, wie das ideologische Einverständnis zwischen Obrigkeit und Untertanen wieder herzustellen geht. Zweitens ist diese Sorge völlig eingebildet. Wenn die Leute, wie Frank annimmt, nur ergreifendere Predigten über den die Nation einenden "Höchstwert" hören wollen, dann denken sie genau wie Frank: wer seinen Gehorsam schöner erläutert haben will, der denkt überhaupt nicht daran, ihn aufzukündigen. Dann kann sich Frank aber auch sparen, ihnen ihre Sehnsüchte zu interpretieren, weil davon sowieso nichts abhängt. Drittens: Wenn der Philosoph dieses sein Interpretationswesen für eine höchst verantwortliche Rettung des Volks vor rechten Verführern ausgibt, dann nimmt er eine sehr verächtliche, herablassende Stellung zu den als blöde unterstellten Massen ein: Er selber verspürt das im Volk angeblich vorhandene Bedürfnis nach Mythen doch gar nicht, er ist doch gegen die Rosenbergs immun - aber einem Normalmenschen die paar Einwände gegen die Rechten mitzuteilen, in denen doch allenfalls seine eigene intellektuelle Immunität gegen sie besteht, ist er weder willens noch in der Lage. Geistige Einordnungstechniken hält er nämlich für das genau Angebrachte, wenn es um die doofe Masse geht, und sein Wunschtraum ist nicht, sie aufzuklären, sondern an ihrer geistigen Führung beteiligt zu sein. Deshalb stylt er sich zum Rattenfänger für die richtige Seite und seine Vorlesung zur Vorarbeit einer ebenso geistreichen wie zeitgemäßen Massenmanipulation im Dienst der Demokratie - wobei er allerdings über diese Vorarbeit nie hinauskommt und nie etwas anderes als eine Universitätsvorlesung hält.

Da fragt sich schon, wo er das ebenso tiefe wie unpraktische Problembewußtsein, daß heutzutage lauter "mythische Weltansichten" aufblühen, überhaupt herhat. Er hat es jedenfalls nicht aus der Beobachtung der gewöhnlichen Staatsbürgerideologie, sondern aus von Künstlern und Professoren geschriebenen und nur von ihresgleichen gelesenen Büchern, in denen seit ein paar Jahren das Ende der Aufklärung und die tiefe Wahrheit sowie Macht des Mythos verkündet wird! Es ist eine elitäre Debatte unter Intellektuellen über die Bedeutung des Mythos, das Ende der "Vernunft", der "Zweckrationalität" sowie einer sog. "universalistischen Moral", der außerhalb dieser Debatte überhaupt nichts entspricht, die sich aber einen Schein von ungeheurer praktischer Bedeutsamkeit zusammenschneidert, indem sie die Fiktion anstehender Entscheidungsfragen auf dem Feld der "geistigen Führung" suggeriert. In dieser akademischen Konkurrenzveranstaltung behauptet der gute Frank sein Plätzchen, indem er den in französischen sowie auch deutschen Insiderzeitschriften ausgefochtenen kategorialen Gegensatz von "Aufklärung" und "Mythologie" zur "Synthese" bringt. Deshalb und nur deshalb führt er das romantische Mythengetue auf die Aufklärung zurück, zitiert eifrig zustimmend Adorno, der das Gegenteil behauptet hat, und verwendet sich dafür, daß die um das Fähnlein "Aufklärung" gescharten Ideologen von den "Mythos"-Fans nicht zu Ewiggestrigen gestempelt werden dürfen, vorausgesetzt, sie lassen deren "Vernunftkritik" gelten.

Mythos aktuell: Die Reduktion aller Sinnprobleme auf ihren affirmativen Kern

Von Frank angesprochen ist sowieso nur jemand wie Karl Heinz Bohrer, inzwischen auch Professor. Der hält nämlich dafür, daß nicht die "Aufklärung" (Synonyme: "Utopie", "politisch-ideologisch gefaßte Zukunftsgewißheit", "wissenschaftliche Rationalität" - alles dasselbe), sondern nur der "Mythos" "aktuell" ist:

"Begrifflich aktuell ist vielmehr der nicht abgegoltene Überschuß des ästhetischen Potentials, das nicht mehr länger mit wissenschaftlicher Rationalität und politischer Vernunft, sondern - es läßt sich nicht verheimlichen - mit dem mythischen Bild kompatibel ist. Das von Cassirer dargetane, von Anthropologie und strukturalistischer Linguistik vertiefte Konzept vom Mythos als einem eigenen Ordnungssystem lieferte das analoge Modell." (Bohrer: Mythos und Moderne, 7)

Wovon Bohrer redet, existiert überhaupt nicht außerhalb von geistes- und sozialwissenschaftlichen "Modellen", wie er treffend sagt: von ideellen Konstrukten, die aus ihrer Trennung von der Realilät kein Hehl machen. Der Mythos, um den gestritten wird, ist gar kein geglaubtes Weltbild, sondern ein "Konzept vom Mythos": ein methodischer Überbau vom Überbau. Nicht anders als beim Politologen und beim Kollegen Philosophen ist "Mythos" für Bohrer ein Name für eines von mehreren geistigen Einordnungstechniken, die einerseits furchtbar wichtig sein sollen, andererseits bloß in der geistigen Hinterwelt der Feuilletons und des akademischen Buchmarkts verwaltet werden. Wofür Bohrer in dieser intellektuellen Hinterwelt eintritt, wird dennoch deutlich genug. Er buchstabiert "Mythos" als "Ästhetik"; das ist seine Doppelkategorie eines denkbaren "irrationalen Ordnungssystems" und wie folgt gemeint:

"Es kennzeichnet die 'Ehrlichkeit' von Schlegels 'Mythologie', daß sie die Einsicht, Totalität sei in der Moderne unmöglich geworden, verarbeitet und konsequent eine ästhetische Reduktion vorführt."

"Daß es sich bei dieser Reduktion um einen dialektischen Prozeß von der vorrevolutionären, geschichtsphilosophisch bestimmten Zeit-Utopie über die Utopie-enttäuschende Revolution ziur Subjekt- Utopie handelt, die sich als Kunst-Mythologie objektiviert, sollte deutlich geworden sein." (Ebd., 74, 73)

Deutlich genug ist, daß Bohrer es mit Schlegels "Einsicht" hält, "Totalität sei in der Moderne unmöglich geworden". Nur ist das keine Einsicht. "Totalität", zu deutsch: alles paßt zusammen, ist eine Kurzformel für das Bild einer moralisch einsichtigen Ordnung, in die jeder sich einreihen kann, weil er je schon eingereiht ist - also für den Harmoniewahn der Moralisten, der schon immer ein Wahn war und deshalb auch immer möglich ist. Diesen Wahn hält Bohrer nicht für verkehrt, sondern für "in der Moderne unmöglich", also für nicht mehr zeitgemäß. Das ist keine Absage an den Sittlichkeitswahn, sondern nur dessen "zeitgemäße" Anwendung. Bohrer teilt ja ausdrücklich dessen Weltsicht: "Kontingenz" heißt sein Generalurteil über die Welt, was "Zufälligkeit" sowie "Abwesenheit eines Zusammenhangs" besagt und als Urteil über die perfekt nach zwei bis drei maßgeblichen Zwecken eingerichtete kapitalistische Realität hahnebüchen ist; es kommt nur zustande, weil er die moralische Suche nach "Totalität" mitmacht und ihr unweigerliches Resultat, die Feststellung, daß die Welt dem sittlichen Harmoniewahn nicht entspricht, anders bewertet: "Sinnlosigkeit" sei nun mal das Wesen unserer "Zeit" namens "Moderne". Gewonnen ist mit dieser Umdrehung der sittlichen Perspektive nur eins: Wenn "Sinnlosigkeit" das Wesen der"Moderne" ist, dann ist dieser Behauptung dcr Charaktcr der Beschwerde genommen. Bohrer hat kein anderes Argument, keine andere Einsicht als der Sittlichkeitswahn. Er stellt sich nur auf den Standpunkt der Realität als der dem Moralismus überlegenen Macht und fordert deren Anerkennung - ein nettes Eingeständnis, daß Opportunismus die Produktivkraft seiner Umdrehung des sittlichen Idealimus ist. Und wem sagt das überhaupt etwas? Nur Leuten mit der gleichen Weltsicht, die darüber, daß es in der Wirklichkeit nicht nach den Vorstellungen dcr Moralisten zugeht, in kritisches Stirnrunzeln verfallen und der Welt die Abwesenheit von Geist, Rationalität, Aufklärung etc. vorhalten. Ihnen schreibt Bohrer ins Stammbuch, daß die "Kontingenz", die sie moralisch beklagen, nicht der Ungeist, sondern der Geist unserer Zeit ist, die insofern vollkommen in Ordnung geht und sich von keinem Idealisten etwas vorwerfen lassen muß. Akademisch läßt sich das mit der Behauptung ausdrücken, daß die "geschichtstheoretisch-dialektische Position" mit ihrem "nachhegelschen Wissensbegriff" (ebd., 10 f.) abgewirtschaftet habe und "Ordnungsschemata" nur noch durch "ästhetische Reduktion" zu haben seien.

Die akademische Form des Streits ist kein Zufall. Mit seiner abgebrühten Heiligsprechung von allem, was es gibt, kommt Bohrer sich nämlich überhaupt nicht als geistloser Jasager vor, weil er zugleich dem Jasager-Geist, höhere Möglichkeiten der schnöden Welt zu imaginieren, ein Angebot macht: "Ästhetik" als "Subjekt-Utopie", welche darin großartig ist, daß sie "die zunehmende (!) Kontingenz nicht leugnet, sondern gerade ausdrückt" (74). Mit dem Vorschlag, den moralischen Jammer über die Welt in reichlich "kontingenten" Kunstwerken zu goutieren, rennt er natürlich bei seinen Kontrahenten offene Türen ein, so daß sein Einfall, in der Kunst konzeptionell mythische "irrationale Ordnungsschemata" auszumachen, letztlich nur auf eine andere Selbstinterpretation der professionellen Befassung mit dem gehobenen Dichter- und Denkerwesen hinausläuft: Bohrer plädiert dafür, daß Intellektuelle heutzutage statt moralisch-problembewußt lieber affirmativ-kunstgenüßlich daherkommen und dabei vor allem sich als etwas besseres vorkommen sollten:

"Vorsicht, dies ist keine Rückkehr zum Mythos: Dies ist Geistesskrupel angesichts der Banalität." (7)

"Mythos" als Zeitgeist: Elitäres Selbstbewußtsein im Aufwind der "Wende"

Sofern die Debatte, wie unvermeidlich "uns" das sinnreich-sinnlose "Ordnungsschema" "Mythos" ist, ob es der "Aufklärung" ganz oder nur zum Teil die Luft herausgelassen hat oder eher umgekehrt, überhaupt einen Gegenstand hat, ist es das Selbstbewußtsein von Intellektuellen, die in lauter verkehrten Urteilen über die Mythen wie die Vernunft immer nur sich selber definieren. Fragt sich nur noch, wo der Definitionsbedarf herkommt. Was ist los, wenn ein Bohrer die Frankfurter "Aufklärer" anpinkelt und dann mit ihnen zusammen einen Sammelband "Mythos und Moderne" (natürlich bei Suhrkamp) herausgibt? Das liegt weder daran, daß seine Argumente gediegener wären als die seiner Kontrahenten, noch daran, daß ihm die ominöse "Moderne", die er im Munde führt, seine Gedanken gerade 1983 aufgedrängt hätte. Daß er sein Selbstbewußtsein eines elitären Intellektuellen, der das neulich noch moderne Meckern und Stirnrunzeln über die Welt für eine "Banalität" und lieber selber nach neuen "Werten" Ausschau hält, offensiv im Intellektuellenklüngel der Nation geltend machen kann, das weiß er, seit es in Bonn einen Machtwechsel gegeben hat. Daß die Regierenden aufgehört haben, moralisches Problembewußtsein in allen intellektuellen Schattierungen als Beauftragung ihrer Machtausübung zu schätzen; daß sie vielmehr auf die Unabänderlichkeit der politisch verfügten Unzuträglichkeiten pochen, keine intellektuell-moralische Distanz zur von ihnen gemachten "Realität" mehr dulden wollen und statt dessen im Sektor der staatsbürgerlichen Ideologien auf "geistige Führung" dringen, das kriegt auch ein Literatur-Bohrer von der wirklichen BRD mit. Schon sieht er sich mit seiner Masche (mit der er persönlich längst Karriere gemacht hat) im allgemeinen ideologischen Aufwind: Er hat doch schon immer alle möglichen Kunstrichtungen als ebenso freies wie moralisch umstandsloses Sich-Beheimaten in den durch die Macht geschaffenen Verhältnissen gepriesen, und diese Tour paßt plötzlich besser zur Bonner Republik denn je! Seine Kollegen und Konkurrenten sehen das genauso, so daß die anderen, die den "Mythos" zumindest für obsolet, wenn nicht für faschismusverdächtig hielten, sich urplötzlich statt als Trendsetter im ideologischen Hintertreffen sehen und sich das mit dem "Mythos" noch einmal überlegen. So gibt es dann den neuen Zeitgeist, der darin besteht, daß das geistige Gerät "Mythos" in aller Munde ist, die einen es mit ihrem Steckenpferd "Aufklärung" viel besser rechtfertigen, als die Bohrers je könnten, während die anderen, die sich immer noch dagegen aussprechen, dies am liebsten im Dialog mit den "Mythos"-Fans tun, die sie deshalb auch nicht widerlegen, sondern problembewußt ergänzen.

Zeitgeist ist eben die freiwillige Abhängigkeit der nationalen Denker von ideologischen Parolen, die gar nicht der Geist, sondern die Macht ausgibt, und die der Geist nur variiert, indem er treu sich selber umorientiert. Dadurch klingt er ein bißchen anders als aus Kohls Mund, und das reicht unseren Dichtern und Denkern, an den Schein einer geistigen Avantgarde zu glauben, an dem auch nur sie selber interessiert sind.