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Dieser Artikel ist in der MSZ 7-1988 erschienen.

Die Studentenbewegung (Teil II)
EINE ABRECHNUNG MIT DEN JUBILÄUMSLÜGEN

e) Die Praxis der Bewegung

Wenn sie nicht viel bewegt hat, so liegt das nicht daran, dass zu wenig unternommen wurde. Mit ihrer Kritik ließen sich die Aktivisten laut und deutlich vernehmen. Aus ihren Adressaten wollten sie Kommilitonen machen; auch mehr oder minder aufgeschlossene Bündnispartner konnten sie aufspüren, und hoffnungslose Fälle, also Gegner, waren schnell ermittelt.

Im sicheren, weil demokratisch verbürgten Gefühl, mit ihren Beschwerden im Recht zu sein, hat die Bewegung gegen die besten Sitten der Universität verstoßen. In Hörsälen, wo sonst ehrfürchtig gehört, mitgeschrieben und am Schluss respektvoll geklopft wurde, zettelte sie einfach Diskussionen an. Gehör fanden die Redner ziemlich oft bei den anderen Studenten, weniger jedoch bei den Professoren. Diese Figuren fielen aus allen Wolken, als ihnen da eine "gesellschaftliche Verantwortung " nach der anderen angetragen wurde. Sie hatten ja schon eine: Sie betrieben Wissenschaft und hielten ganz im Sinne des Gesetzgebers den Lehrbetrieb ordentlich aufrecht. Von einer gemeinsamen Beratung über das Wozu und Wie akademischen Forschens und Lehrens hielten sie gar nichts; höchstens einen von langer Hand eingefädelten Angriff auf die Freiheit der Wissenschaft vermochten sie zu erkennen. Das trug ihnen den Vorwurf ein, statt demokratisch ziemlich autoritär zu sein. Die wenigen Ausnahmen und die Assistenten, die auch meinten, ein bisschen mehr Demokratie täte der Hochschule gut, taten sich als Ideenlieferanten für Reformentwürfe hervor.

So kam es zu aufregenden Szenen an der Stätte des Geistes, und die Hausmeister hatten ein paar Funktionen mehr. Der wegen "Diskussionsverweigerung " spontan entstandene Typus der Sprengung ward bald ergänzt durch geplante Einsätze, Sit-ins und Institutsbesetzungen. Professoren, die sich allzu vorwitzig in den Medien über den drohenden Untergang des Guten, Wahren und Schönen zu Wort meldeten, erhielten Besuch. Das Spektakel war erheblich, weil dann die Polizei immer öfter kam. Die Sprengungen waren von Mal zu Mal gerechter und ganz dringlich bei denen, die sich schon im Dritten Reich um den abendländischen Geist und seine Rettung verdient gemacht hatten. Von solchen Leuten durfte nämlich die Demokratisierung der Hochschule auf keinen Fall verhindert werden. Wie letztere zu gehen hatte, wurde auf Vollversammlungen ausgiebig besprochen; Modelle einer künftigen Universität waren Gegenstand öffentlichen Streits, paritätische Mitbestimmung und ganz viel politisches Mandat der verfassten Studentenschaft zählten zu den Dauerbrennern des umstürzlerischen Engagements. Das alles immer mit viel Abstimmung und Akklamation, garniert mit flotten Beschimpfungen des RCDS, der die Sache gewöhnlich etwas anders sah und die Maßstäbe der realen Demokratie geltend machte.

Recht aufwendig geriet auch der Einsatz auf dem Feld der Korrekturen, welche die in Aufregung versetzten Studiker dem innen- und außenpolitischen Treiben der Republik zufügen wollten. Das Kampfmittel war die Demonstration, das Erfolgskriterium bestand einerseits in der Masse der Teilnehmer, andererseits im Echo, das die Veranstaltungen in den Medien erzielten. Freilich war die Freude über die ansehnlichen Umzüge gegen Notstandsgesetze und Vietnam nicht lange ungebrochen; mit der Zufriedenheit über die wachsende Zahl demonstrationswilliger Mitmenschen kontrastierte die Erfahrung, dass die maßgeblichen Instanzen der Demokratie den Kritikern kein Gehör schenkten. Statt sich die in Sprechchören verlautbarten Volksbegehren zu Herzen zu nehmen und sich zu bessern, machten die Regierenden ungeniert weiter. Sie bestanden darauf, dass sie vom Volk höchst demokratisch ermächtigt worden wären, erklärten sich ein ums andere Mal zu den souveränen Vollstreckern demokratischen Willens und die Demonstranten zu einer "radikalen Minderheit", die sich zu viel anmaßt.

Das hat besagte Minderheit auf eigenartige Weise zur Besinnung angeregt - nicht über die Emanzipation der politischen Macht von den Konjunkturen, die das Interesse und Meinen von Bürgern heimsuchen; auch nicht über das Warum und Wozu der programmatischen Rücksichtslosigkeit. Vielmehr über wirksamere Arten, das "berechtigte" Gehör zu finden. Aus dieser Besinnung ergaben sich die berüchtigten Provokationen, die "Regelverletzungen" und die "symbolische Gewalt", gegen Sachen, und Farbbeutel gegen Personen. Die ganz und gar nicht symbolische und sehr regelmäßige Gewalt, mit der die Demokratie dagegen antrat, bestätigte die Demonstranten auf der ganzen Linie. Wenn sie von der Polizei aus Anlass einer Demo gegen den Putsch in Griechenland und die wohlwollende Reaktion darauf in Bonn vermöbelt wurden, hieß es: "Deutsche Polizisten beschützen die Faschisten!" Als bei der Anti-Schah-Demonstration in Berlin ein Demonstrant schlicht umgebracht wurde und die geteilte Staatsgewalt Hunderte andere mit Knüppeln und Landfriedensbruchverfahren traktierte, hatte der SDS nichts Besseres zu tun, als die Demokratie wieder einmal mit dem Faschismus-Vorwurf in Zweifel zu ziehen. Die BRD, so hieß die Erläuterung in der darauffolgenden Kampagne, sei von einem "postfaschistischen" System unterwegs zu einem "präfaschistischen" - und kaum jemandem wollte auffallen, dass noch bei den schmerzlichsten Erfahrungen mit der wirklichen Demokratie ein Hoch auf die Demokratie, die eigentliche, ausgebracht wurde.

Und weil die Öffentlichkeit, in Gestalt von Rundfunk und Fernsehen, vor allem aber in ihrer schönsten demokratischen Ausprägung als BlLD-Zeitung mit täglich verkaufter Millionenauflage, so freiheitlich wie möglich auf die demonstrierenden "Chaoten" hetzte und mit ihrer Sicht der Dinge weitaus mehr Anklang fand als die Flugblätter der Bewegung, stand eine letzte Kampfansage im Namen der Demokratie an. "Enteignet Springer!", so wurde, natürlich unter Berufung auf einen Grundgesetzartikel, noch einmal heftig gefordert und demonstrierend geltend gemacht. Auch bei diesem Gefecht, das aus Anlass des Mordversuchs an Rudi Dutschke seinen Höhepunkt erreichte, gab es tote und andere Opfer. Leider kulminierten in der Springer-Kampagne auch die ideologischen Irrtümer der Bewegung, die sich im Laufe von jahrelangem Demonstrieren eingestellt hatten. Und zwar deswegen, weil sich die Aktivisten und Mitläufer der demokratischen Vervollkommnung der BRD manchen eigenartigen Reim auf ihre relativen Erfolge und ihren eindeutigen Misserfolg zusammendichteten.

f) Das Bedürfnis nach "Theorie"

Was die grundsätzliche Position der Studentenbewegung angeht - Idealisten der Demokratie werden oppositionell, weil die Realität der Demokratie sie enttäuscht -, so hat die Marburger Schule mit der Glaubwürdigkeit des Faschismus-Opfers Abendroth gute Dienste getan. Allerdings war mit der sozialberechtigten Ausdeutung der Verfassung als Auftrag zur Beseitigung von Not, Gewalt und Krieg sowie an Gewalt verdienendem großem Geld so übermäßig viel auch nicht anzustellen. Während die "Herrschenden" und das "Establishment" in ihrem Umgang mit der Bewegung ganz gut als leibhaftige Beweise für die Abwesenheit der Demokratie taugten, geriet den Rebellen eine Tatsache zum Problem: Die Herren in Bonn hatten einen verlässlichen Zuspruch beim Volk auf ihrem Konto. Die Hetze der Springer-Presse war immerhin beliebt, und des Volkes Stimme nahm sich wie ein x-fach verstärktes Echo der regierenden und in Deutschlands Namen agitierenden Saubermänner aus. Die unübersehbare Differenz zwischen dem eigenen guten demokratischen Willen und der Einstellung demokratischer Wähler, die nicht nur mit "Nein danke!" ihren Gegensatz zu der aufsässigen Garde von "nach drüben" gehörenden "Weltverbesserern " aufmachten, forderte die Bewegung heraus. Im Bewusstsein, richtig zu liegen und dennoch keinen über den Umkreis abiturgetesteter Mündigkeit wesentlich hinausgehenden Anklang zu finden, schritt sie zu Erklärungen ihres Misserfolgs. Und die gingen mit der festen Überzeugung los, die anderen seien eben manipuliert - und landeten bei sozio- und psychologischen Befunden über den Unterschied von Charakteren, die es in sich haben.

Statt sich an die Prüfung und Kritik der Auffassungen zu machen, mit denen die Mehrzahl ihrer Zeitgenossen arbeiten und wählen ging, mit denen das Demonstrieren und Kritisieren in der Republik verurteilt wurde, versuchten sich die theoretisierenden Rebellen auf einem anderen Feld. Sie bauten die in der Manipulationstheorie enthaltene elitäre Tour aus - wer anderen zur Last legt, sie lassen sich gängeln, behauptet schließlich immer von sich, nicht darauf hereinzufallen - und ließen sich von der Frankfurter Schule bedienen. Von der Diagnose eines "autoritären Charakters", dem die Bereitschaft zur Unterwerfung einbeschrieben ist, weil der Seelenhaushalt von Individuen auch so seine Erfordernisse aufweist, waren einige Theoretiker ziemlich angetan. Sie fanden an den raubgedruckten Menschenbildern, die das alte Institut für Sozialforschung erstellt hatte, die Erklärung für das Scheitern der anti-autoritären Bewegung. Manche stellten die Auskünfte der Psychologie sehr energisch in Gegensatz zu dem bisschen Sozialkritik, das sie von Marx und Marxisten in jeder Richtung mitbekommen haben wollten; manche meinten, mit dem Zeug die fehlende Ergänzung zu ihren kritischen Vorstellungen von Herrschaft gefunden zu haben. Der "subjektive Faktor" war als Argument geläufig, noch bevor eine halbwegs ernsthafte Befassung mit dem "objektiven Faktor" - den angeblich Marx "bloß" analysiert hatte - begonnen wurde. Die Dogmen von Freud über die das Seelenleben und den Willen des Individuums regierenden Instanzen, über die Rolle des Sexuellen bei der Ausbildung des Charakters wurden brav übernommen. Thesen des Typs "Sexualität und Herrschaft" waren schwer in Mode, und von W. Reichs "Funktion des Orgasmus" wurden sich wohl mehr Exemplare angeschafft und verständnisinnig auf ihren Kern zusammengelesen als von der "Kritik der Politischen Ökonomie". Die Botschaft kam den Antiautoritären sehr gelegen: Ihre Weltverbesserung scheiterte an den verkorksten Typen, die sich - zur "Verdrängung" und zum Halt bei jeder Menge "Über-Ich" verzogen schon unter Hitler auf die falsche Seite geschlagen hatten.

Die Suche nach einem wirksamen Weg, der "autoritären Gesellschaft" beizukommen, nahm von da an konsequent eine etwas andere Richtung. Das Programm der erziehungspsychologischen Gegenmanipulation, die "anti-autoritäre Erziehung" stand an; und die entsprechende Literatur aus der Tradition dieses Fehlers wieder raubgedruckt zur Verfügung. Die andere Seite des Befunds, bei reichlich verklemmten Zeitgenossen auf Granit zu beißen, kam natürlich auch nicht zu kurz. Die Pflege seiner selbst als einer mehr oder minder "emanzipierten" Persönlichkeit ließ sich mancher Protestant angelegen sein; die Befassung mit einer Befreiung des Sexuallebens brachte viel theoretischen Unsinn und einige Experimente auf dem Feld des Kommune-Lebens hervor.

Dergleichen kontrastierte erheblich mit den theoretischen Versuchen derer, die sich an den imperialistischen Schandtaten ihr demokratisches Gewissen bewahrt hatten. Allerdings war es auch auf diesem Gebiet mit der wissenschaftlichen Objektivität nicht weit her, weil sich die Theoretiker des Anti-Imperialismus mit den Verhältnissen in der "Dritten Welt" und ihren Gründen sehr voreingenommen befassten. Die Suche nach einem erfolgreichen Ende des Kampfes, als dessen Anwalt man in den "Metropolen" sein Bestes gegeben hatte, verleitete zu einer ebenso optimistischen wie verkehrten Sicht der Dinge. "Schafft zwei, drei, viele Vietnams!" war als Parole die Kurzfassung des Glaubens, die gerechte Sache unterdrückter Völker sei unterwegs zu ihrer Durchsetzung - befolgt haben diese Parole mit dem ihnen gemäßen Standpunkt nur die USA. So kundig sich einige Kämpfer der Bewegung auch über die Verhältnisse entlegener und gebeutelter Weltgegenden zu machen anschickten, stets entdeckten sie eben unterstützenswerte Völker, gerechte und erfolgversprechende Aufstände. Als wäre die daheim abhanden gekommene Perspektive in der Geschichte der Entkolonialisierung lebendig geblieben und wirklich geworden, leisteten sich viele einen durch nichts gerechtfertigten Kult der Befreiungsbewegungen - und gingen schon auch einmal in die chinesische Botschaft in der Schweiz Teetrinken, weil ihnen dort ihre schiefe Optik bestätigt wurde.

So mündete die Einpunkt-Bewegung des demokratischen Idealismus auf eigenartige Weise in ein Neben- und Gegeneinander von recht inkommensurablen Positionen. Diese sind zustande gekommen durch die Deutungen des Misserfolgs, der unübersehbaren Grenzen, die die reale Demokratie dem demokratischen Protest gesetzt hatte. Streit war auf der Tagesordnung, und zwar einer von der schlechteren Sorte. Es ging eben nicht um die vernünftige Selbstkritik von Leuten, die einsehen wollten, worin ihr Engagement verkehrt oder beschränkt gewesen war. Vielmehr um die Konfrontation von Theorien, Interessen und Neigungen, auf die sich verschiedene "Fraktionen" im Zuge ihrer Interpretation der Bewegung verlegt hatten. Diese Konstellation war der Anfang vom Ende der "Studentenbewegung" - der Ausgangspunkt für neue politische und andere Anstrengungen.

g) Das Vereinsleben der "Avantgarde"

So bürgerlich, wie der programmatische Ausgangspunkt der Studentenbewegung war, ging es auch in den Reihen des SDS zu. Missliebige Verhältnisse von der Umsatzsteuer über die Fabrikarbeit bis zur Ausbildung von Soldaten mit dem Vorwurf zu geißeln, demokratisch sei das alles nicht, ist guter Brauch in der Demokratie. Diese Art zu kritisieren lebt noch in jeder Parlamentsdebatte und in jedem Zeitungskommentar auf, und ein fester Posten im Arsenal der von oben gepflegten Anti-Kritik ist sie auch. Der Unterschied bestand einzig in der Verwechslung dieses Arguments mit einem verbrieften Recht auf Einmischung in die Techniken und Ziele der politischen Herrschaft - die Bewegung wollte ihr Ideal von Demokratie nicht länger missen und in seinem Namen den ganzen Laden korrigieren. Ihre Entscheidungen, demonstrierend auf Änderung zu dringen, fällten die Aktivisten aus Anlass von Anlässen, die gar nicht weiter untersucht zu werden brauchten. Passend waren sie, wenn sie der Vorstellung eines undemokratischen Skandals entsprachen. Und die "Analysen", die für die Gewinnung von Leuten für die Bewegung angefertigt wurde, hatten auch immer nur dieses Beweisziel. Dass Notstandsgesetze der Ermächtigung der politischen Führung dienen, mit der diese aufs demokratische Procedere, aufs grundgesetzlich verbürgte Verhältnis von Rechten und Pflichten pfeift, war eben der Verstoß gegen die Demokratie. Wo das hinführt, wurde sehr politologisch mit "Weimar" an die Wand gemalt; und dass "echte" Demokratien dergleichen auch im Ernstfall nicht nötig haben, wurde ausgerechnet an England gezeigt. Dass Napalm nicht zu den Ehrentiteln "freedom and democracy" passt, war in dem Augenblick beschlossene Sache und Agitationslinie, als es einer der halbwegs redegewandten Genossen behauptete. Gefragt war nicht die Prüfung der Urteile, die der inkriminierten Angelegenheit gewidmet wurden, sondern die Brauchbarkeit der Verurteilung für das eigene unerschütterliche Rechtsgefühl. Und wer sich mit ein bisschen Sozio-, Psycho- und Politologiephrasen diesem Bedürfnis dienstbar machen konnte, war im SDS eine Autorität.

Die ausgegebenen Befunde hätten einem gemeinsamen Nachdenken über Grund und Zweck der bekämpften Anliegen der "Herrschenden" keine halbe Stunde standgehalten. Aber als geharnischte Einstimmung in die nächste Runde des Protests taugten sie schon, und ihre Erfinder kamen durch ihre Eloquenz im Reich falscher Theorien in den Rang von kundigen Ideengebern. Was sie da von "Bewusstsein schaffen" und "Strukturen aufbrechen" faselten, hatte mit der Welt herzlich wenig zu tun; aber die antiautoritäre Mission konnten sie ein ums andere Mal glaubwürdig in Schlagworte gießen. Was Dutschke und der jeweilige Frankfurter Bundesvorstand da an Parolen ausgaben, wie sie gelaufene Aktionen und künftige als gloriose Einbrüche ins Gemüt der "repressiven Gesellschaft", aber auch ins eigene, verfabelten, hat sie nicht in Misskredit gebracht. Und wer mit den schönen Floskeln nichts anzufangen wusste, gar Bedenken hatte, ob das denn so sei, galt als ahnungslos bis dumm.

Die Urheber gestanzter Umbruchsbedürfnisse und Falschmeldungen von Erfolgen aller Art waren gefragt - und führten sich entsprechend auf. Sie putzten sich zur personifizierten revolutionären Gesinnung heraus, und mit dem Siegeszug der Psychologie in der Bewegung verfügten sie zwar über keinen Wissensvorsprung, den sie an andere hätten weitergeben können, aber über ein neues Instrumentarium. Sie setzten Maßstäbe für eine Gemeinde, die nicht nur politisch demonstrieren wollte, sondern mit der Demonstration abweichender Gesinnung durch die Welt zu düsen beliebte. Aus dem falschen Argument der Manipulation wurde damals die Konsequenz gezogen, sich zur antiautoritären Persönlichkeit zu stilisieren. Zu zeigen, dass man anders war als der verdorbene Rest der Menschheit mit seinen autoritären Verkorkstheiten, wurde bald wichtiger als die politische Sache, mit der alles angefangen hatte. Ausgiebig wurde zur Schau gestellt, wie überlegen und libidinös, wie unbefangen und kritisch Leute sein konnten, die sich von ihrer "autoritären Erziehung" - die sonst eigentlich keinen Inhalt hatte -"emanzipiert" hatten. Der Einsatz der passenden Fetzen psychologischen Geschwafels, des Imperativs zum Sich-gehen-Lassen für die "antiautoritäre" Brautwerbung, das ewige Getue im Namen einer enorm befreienden sexuellen Betätigung gehört zu den dummen und gemeinen Seiten des bewegungsmäßigen Innenlebens. Es hat den Ortsvereinen manchen "kaputten Typ" beschert und auf der Seite der Mädchen einige Opfer. So konnte es gar nicht ausbleiben, dass die heftig zirkulierende Frauenwelt bemerkte, wie wenig "Emanzipation" dieser Sorte für das individuelle Wohlbefinden hergibt. Die ersten flotten feministischen Aufstände fanden in der antiautoritären Gemeinschaft statt, nachdem ein paar Jahre lang politische Versammlungen die Gestalt eines riesigen Knutsch- und Fummellagers angenommen hatten.

Peinlich war auf der anderen Seite auch eine andere Folge des Brauchs, nichts im Verein ordentlich zu beraten, bevor man zu einem weiteren Akt des Protests antrat. Die Vertretung der Bewegung in der bürgerlichen Öffentlichkeit, in Podiumsdiskussionen, Interviews etc. artete in lauter auf Originalität der dümmsten Machart versessene Selbstdarstellungskunststücke aus. Einmal vertrat Dutschke seine mehr philosophisch inspirierten Visionen, das andere Mal kritisierte einer den Kapitalismus mit "Monopol", dann wiederum entdeckte ein mehr kolonialrevolutionär angehauchter Typ die "Einkreisung der Metropolen durch die Dörfer", und Idioten psychologischen Zuschnitts repräsentierten die Bewegung mit öffentlichen Ergüssen über ihre bedeutsamen Orgasmusschwierigkeiten. Und genauso wie die Prominenz der Bewegung hatten sich die Mitglieder auf ihre "Spezialitäten" verlegt, wenn es um die Frage "Was tun?" und das Worum und Wozu ging. Die Versuche, sich doch irgendwie wie ein Haufen zu Wort zu melden, der weiß, was er will, waren zum Scheitern verurteilt. Der Gemeinsamkeiten gab es eben keine mehr. Sehr wohl aber einen Haufen verschiedener Programme, mit denen Studentenpolitiker die Fehler einer zerstrittenen und für unwirksam befundenen Bewegung zu beheben suchten.

Die Auflösung der Bewegung

Die eingangs erwähnte politische Lüge, der Studentenbewegung alle möglichen Verdienste um die politische Zukunft der Republik anzudichten, zehrt von einem Kunstgriff, der der bürgerlichen Betrachtungsweise eigen ist, die sich "historisch" nennt: Späteres wird ohne vorher Geschehenes als "undenkbar" verbucht, das Zeug von damals ist Bedingung und das Heute eine einzige Ansammlung von deren Folgen. Dieser etwas liederliche Gebrauch des Gedankens, etwas sei "Produkt" und "Wirkung" von..., geht ziemlich grob an der Wahrheit über die Auflösung der Bewegung vorbei. Diese vollzog sich als Selbstkritik der Akteure, die aus der Erfahrung des Misserfolgs, der Schranken ihrer einmal so ansehnlich anmutenden Bemühungen ganz verschiedene Schlüsse gezogen und sich neuen Vorhaben gewidmet haben. Die Bewegung der späten 60er Jahre gehorchte keineswegs dem Prinzip, dass alles auch einmal ein Ende hat; in ihr hatten sich genug Auffassungen über ihre fälligen Fortsetzungen angesammelt - und die fanden dann auch statt.

a) "Realismus" in Reformpartei und Reformhochschule

Dass es nichts nützt, ewig demonstrierend gegen die an Demokratiemangel laborierende Republik anzurennen, war kaum zu übersehen. Diese banale Bilanz gilt der eigenen Wirkungslosigkeit und verrät noch keine Einsicht in den Grund des Scheiterns. Weder lässt sich eine Feststellung dieser Art damit in Zusammenhang bringen, dass da jemand seine Auffassung über die Herrschaftsform der Demokratie geändert hat, noch verrät sie auch nur die begrenzte Erkenntnis über die Rolle des öffentlichen Beschwerdewesens in der besten aller Staatsformen. Wie peinlich opportunistisch das Eingeständnis ausfallen kann, man hätte nichts erreicht, haben einige Tausend rebellischer Jungakademiker von damals vorgeführt. Sie sind zur SPD zurückgekehrt und engagiert in die reformierte Landschaft der bundesdeutschen Bildungsinstitutionen eingestiegen.

Der Grund für diesen Übergang lautet schlicht: Die schönen Ideen von der Demokratisierung der Republik nützen nur etwas, wenn sie sich mit dem Mittel zusammentun, das allein ihre Durchsetzung garantiert! Dieses Argument für den Versuch, beim Mitmischen im Amt, beim Eingreifen in den Gebrauch der politischen Macht zum Zuge zu kommen, war auf zwei Polen modern geworden. In der Bewegung zusammengefasst in der Losung vom "Marsch durch die Institutionen", bei der die Urheber ein bisschen vergessen zu haben scheinen, dass sie in den Institutionen und ihrem Personal so gut wie alles vermisst hatten, was sie für gerecht und demokratiegemäß erachteten. Als Angebot an die Bewegung vonseiten der SPD, die die Konkurrenz der Parteien um die Macht ihrerseits mit den Idealen der Demokratie, als guten Grund für Wählerstimmen, bestritt. Diese Partei, die in Sachen innere Ordnung, Notstand, Rüstung und imperialistische Außenpolitik wahrlich keine Zweifel über ihre Variante des Staatmachens aufkommen ließ, trat den rebellischen Studikern und ihren Sympathisanten mit dem Aufruf entgegen: "Kritische Jugend, beteilige dich mit der SPD und deinen Idealen an der Verbesserung der Politik! Auch die SPD ist der Meinung, dass es viel zu tun gibt." Unter Hinzufügung der kleinen Bedingung, dass die Mitwirkung den "realistischen" Respekt vor den Sachzwängen des nationalen Interesses einschließt, erging diese Einladung im Namen von (Chancen-) Gleichheit im Ausbildungswesen, von "sozialen Rechten" aller Art usw.

Diejenigen, die das Angebot angenommen haben, sind in den Genuss einer Karriere gekommen, was nicht weiter wichtig ist. Was sie jedoch in ihrem Beruf zu ihrer Sache machen, weil sie die letzten wären, etwas derart Ehrenvolles wie ein Staatsamt "zynisch" zu betreiben, ist ärgerlich:

  • An der reformierten Hochschul- und Bildungsszene widmen sie sich mancher wundersamen Neuinterpretation der bürgerlichen Wissenschaft; des hohen Antrags, dem sie folgt, ebenso wie der guten Werke, die von ihr ausgehen. Noch die verrücktesten und einigermaßen weltfremden Ideologien verkaufen sie als praktisch enorm sozialrelevant und als Beitrag zur fortschrittlichen Orientierung der Gesellschaft auf ihre Zukunft;
  • in der SPD und im DGB wirken sie enorm "bewusstseinsbildend", indem sie ihre Ideale von einst - mit denen sie sich zum Gegner der sozialreformerischen Macher aufmandelten - heute als die Wahrheit über die Praxis ihrer Ämter ausgeben. Lauter alternative Wirtschafts- und Sozialpolitiker, Entwicklungshelfer und Weltschuldenmanager, Friedensplaner und Nationalisten sind da am Werk - und färben die Programme ihrer Vereine umso schöner ein, je hässlicher die Resultate ihres Wirkens geraten.

So sind aus streitbaren Idealisten der Demokratie professionelle Befürworter des Systems geworden, dem sie trauen, weil es ihnen und ihren Ideen eine "Chance" und den passenden Platz zuwies. Den Glauben in die Demokratie, den Respekt vor jeder Lüge über die eigentlich guten Zwecke von SPD, parteilicher Wissenschaft und gewerkschaftlicher Mitwirkung fordern sie jetzt jedermann ab und was sich "links" davon tummelt, verwerfen sie mit dem billigsten aller Argumente, das "Realisten" beherrschen; sie mögen "Sekten" nicht und meinen, solche gehörten kräftig isoliert und nicht bzw. umso aufmerksamer beachtet. Als Glaubwürdigkeitsbeschaffer für eine reale Abteilung der Macht, ohne die bekanntlich nichts zu ändern geht, steht ihnen der leicht umfunktionierte Fanatismus der Demokratie gut zu Gesicht.

b) Revisionistische Parteigründungen

Die schlechten Erfahrungen der Revolte sind einigen anderen nicht so locker aus dem Gedächtnis entschwunden. Der Staat, der ihnen mit Gewalt begegnete, so lange sie Demonstrationen als Kampf um seine Verbesserung veranstalteten, war für sie kein Bündnispartner, sondern Gegner. Die Selbstkritik des zweiten Typs hatte in dieser Hinsicht wenigstens einen Inhalt: Die radikaldemokratische Fehleinschätzung des freiheitlichen Ladens ward korrigiert; an ihre Stelle trat die Anklage gegen die Klassengesellschaft und den Klassenstaat. Damit war ein neues Kampfprogramm aufgelegt, das sich vom alten erheblich unterschied. Erstens waren die gegnerischen Parteien nicht mehr als echte und falsche Demokraten bestimmt, sondern als Klassen, deren eine zudem in der Staatsgewalt ihr Instrument besitzt. Zweitens gehörte man selbst nicht zu denen, die in eigenem Interesse und gemäß den eigenen Mitteln die Sache auszutragen hatten. Obgleich man schwer was für den Klassenkampf gegen das Kapital und seinen Staat übrighatte, war dem bisschen Marx-Lektüre und dem Stöbern in der marxistischen Literatur eindeutig zu entnehmen, dass das "revolutionäre Subjekt" nun einmal das Proletariat war. Drittens stand deshalb die Frage ins Haus, wie man sich zu diesem neuentdeckten Subjekt der fälligen Umwälzung ins Verhältnis setzen sollte.

Und dabei machten die Gründer der Parteien des Klassenkampfes einiges verkehrt. Das kam daher, dass sie von einer schlechten Angewohnheit aus ihren studentenbewegten Tagen nicht lassen wollten. Die bestand in der Verwechslung von Interessen, die in der Verfassung der Gesellschaft auf Gründe stoßen, die ein bisschen Umsturz notwendig machen, mit der moralischen Berechtigung zum Kampf. So entdeckten sie bei ihren marxistischen Studien wenig mehr als die eben genannten Durchblicke, am allerwenigsten gewahrten sie die Erklärung, die der Marxismus dem Funktionieren der kapitalistischen Produktionsweise zuteilwerden lässt. Die Arbeiterklasse war für sie – erkennbar als Opfer der bösen herrschenden Klassen – ziemlich gut, weil zum Revoltieren befugt – und schon insgesamt ziemlich Klasse, weil die wandelnde Mission, die sich die studierenden Radikalbürger fälschlicherweise selbst zugeschrieben hatten. Das hatte Folgen.

Zunächst einmal kontrastierte die freudige Entdeckung, dass zwar nicht Studenten und "Kleinbürger", wohl aber Arbeiter revolutionär sind, ein wenig mit den Erfahrungen, die man bei den kämpferischen Auftritten der 60er Jahre hatte machen können. Dem war mit der Auskunft beizukommen, man hätte sich ja auch gar nicht auf die berechtigte Arbeitersache gestürzt, sondern eine kleinbürgerliche Revolte veranstaltet, die jeden echten Proletarier zu Recht abstößt. Der Proletkult war geboren und die Parole "Dem Volke dienen!" erfunden. Die langen Haare, einst Zeugnis des demokratischen Nonkonformismus, fielen der Schere anheim, obgleich sich die Arbeiter langsam aber sicher auch origineller frisierten. Den ihnen zugedachten Kampf unterließen sie indes konsequent, obgleich ihre Mission mit Sicherheit feststand. Die Septemberstreiks 1969 waren zwar eine Zeitlang für die optimistische Deutung gut, den Anfang vom Ende der Klassengesellschaft eingeläutet zu haben, doch allzu viel kam nicht nach. Die Antwort auf diesen selbstfabrizierten Widerspruch, der nicht gelten gelassen werden durfte, war schnell gefunden: Zum Kampf fehlt der Klasse die Organisation - und die gehört ihr gestellt. Zumal die Organisation des Klassenkampfes vom Faschismus und von der Demokratie (mit KPD-Verbot) "zerschlagen" worden war. Also musste eine Partei her, ohne die als Instrument Arbeiter einfach ihren Kampf nicht führen können. Auf den Gedanken, dass sich der Wille zum Klassenkampf allemal seine Organisationen "aufbaut", falls es ihn gibt, sind die Proselyten der Studentenbewegung nicht verfallen. Ebensowenig darauf, dass Marx das Trachten der Arbeiter als eine ansehnliche Anstrengung des Inhalts dargelegt hat, mit der Abhängigkeit vom Kapital zurechtzukommen. Statt aus den Erfahrungen mit Lohn und Leistung, mit den Ansprüchen des Staates den Arbeitern die Notwendigkeit revolutionärer Umtriebe zu begründen; statt aus den fälligen und unumgänglichen Opfern des Arbeitens und Wählens die Argumente für den Klassenkampf zu beweisen, sind die revolutionären Parteien mit dem Glauben an das Proletariat zu Werke gegangen. Den haben sie in ihre Flugblätter geschrieben, ohne zu merken, dass ihre Adressaten sich andere Sorgen machen.

Freilich ist ihr Optimismus, die Sicherheit, mit den Arbeitern einer Sache gemeinsam zum Durchbruch zu verhelfen, immerzu auch Zweifeln ausgesetzt gewesen. Es hat sich ja wirklich wenig gerührt, so dass die Frage "Wieso nicht?" sehr die Parteigemüter beschäftigte. Das ideale Proletariat, an dessen Erfolg im Klassenkampf die Parteien von DKP, KPD mit AO und ML etc. hilfreich mitwirken wollten, erwies sich als extrem abweisend. Dass es gar nicht existierte, das Ideal, wurde erst einmal so ausgedrückt: "Objektiv" - was für "eigentlich" stand - ist die Klasse der Lohnarbeiter revolutionär! Bloß subjektiv und jetzt nicht. Da kam die raubgedruckte Geschichte der Arbeiterbewegung zu Hilfe, gewissermaßen als zweiter ideeller Bündnisgenosse. Ohne sie auch nur eines einzigen Urteils würdigen zu müssen, lieferte diese Geschichte immerhin den unwiderlegbaren Beweis dafür, dass Arbeiter sich auch einmal dem Klassenkampf verschreiben.

Der Proletkult war gerettet, die Moral war durch solch seichte Blicke in die wahrlich nicht korrekten, geschweige denn erfolgreichen Kämpfe der Vergangenheit intakt geblieben. Der wissenschaftliche Sozialismus, die Erklärung der Ausbeutung und der Zwecke des Klassenstaats, unnötig. Dafür konnten die "K-Gruppen" ausgiebig ihr Problem weiterverfolgen - die Frage, was die Arbeiter vom Klassenkampf abhält. Die Antworten auf diese bescheuerte Frage von Leuten, die Kommunisten sein wollen und nicht einmal selbst die Gründe für ihr Projekt halbwegs anständig kennen, haben ihnen einige Mühe bereitet. Ganz viel Mühe wurde auf die "Theorie" des Verhältnisses von Intelligenz und Proletariat verschwendet. Damit war nicht das wirkliche Verhältnis im kapitalistischen System, in der Hierarchie und Funktion der Berufe gemeint, sondern die in den Rang einer Theorie erhobene Gewissensprüfung der Studiker, ob sie nicht doch heimlich selbst, und konterrevolutionär dazu, revolutionäres Subjekt spielen wollten! Dieselben, die sich zur Avantgarde berufen wussten und Parteien aufgebaut haben, die kein Arbeiter bestellt hatte, riefen sich selbst zur Ordnung: Gerade als Avantgarde mahnten sie sich zu disziplinierter Bescheidenheit. Die sah so aus, dass gerade das Argumentieren mit Gründen für die Revolution als ein einziger Akt der Bevormundung galt. Nein, vorschreiben wollte man der verehrten Masse nichts, ihre Erfahrungen sollte sie - auch wenn es schlechte am laufenden Band sind - selber machen. Diese noble Entscheidung wurde freilich wieder ausführlich dem Volke zugetragen, allein schon wegen der Konkurrenz unter den Avantgarden. Die anderen waren immer diejenige, die der revolutionären Klasse etwas einreden wollten, was ihr gar nicht entsprach und ihre Einheit spalten musste. So tat der Manipulationsgedanke auch für diese Bewegung manchen Dienst - er "erklärte" eben auch ihre Misserfolge verkehrt. Gegen SPD und DGB ging er auch gut anzuwenden, wie die Geschichte der Arbeiterbewegung zeigte. Und er ersparte die Beschäftigung mit den Gründen, die im real existenten Bewusstsein der Klasse für gut genug befunden wurden, auf lauter "Verräter" hereinzufallen.

Alle Enttäuschungen in der Welt unter 1% - das Wahlkämpfen wurde ja auch ein wenig ausprobiert - wurden moralisch überstanden. Die Arbeiter waren in den Startlöchern zum Klassenkampf, aber der Hindernisse gab es genug, so dass sie nicht loslegten. Für den Beweis, dass es nur eine Frage der Erfahrung, also der Zeit ist, standen auch noch andere ideelle Bündnisgenossen zur Verfügung. Außer denen von früher kamen auch die anderswo zu Ehren. Die einen nahmen mit der russischen Revolution das trostreiche Vorbild in ihre Bekenntnisse zum Proletariat auf, dem sie die Möglichkeiten und Errungenschaften eines gelungenen Klassenkampfes vor Augen führen wollten. Das war den anderen gar nicht recht, weil sie das Vorbild als reichlich schlecht einstuften und für ein allzu berechtigtes abschreckendes Beispiel erachteten. Sie überboten jeden bürgerlichen Antikommunismus und schimpften vor deutschen Fabriken über die roten Zaren noch dümmer als die "Bild"-Zeitung. Dafür gratulierten sie vor der Morgenschicht Mao-Tse-tung zum 80. Geburtstag, denn dass sich deutsche Arbeiter am langen Marsch eine Scheibe abschneiden wollen, war klar. Englische, französische und italienische Streiks ergaben wunderschöne Berichte von den Kämpfen, die man hier nie erlebte. Gestimmt haben sie nie, die Berichte, aber als wohlmeinender Aufruf zur Nachahmung waren sie unverzichtbar. Auch ihnen blieb die beabsichtige Wirkung erspart - wie dem ganzen Theater, das auf dem Glauben an das Proletariat beruhte statt auf dem Wissen um die Notwendigkeit des Klassenkampfes. Am Schluss wollten viele der Gläubigen einfach das nicht mehr sein, was sie während ihrer aktiven Missionarstätigkeit den jeweils anderen zum Vorwurf gemacht haben: eine "Sekte", die auf dem "Misthaufen der Geschichte" landet.

c) Die Grünen

sind genaugenommen ein abgeleitetes Produkt der Selbstkritik, mit der Studentenbewegte den Weg zu neuen Ufern beschritten. Es ist der gemeine Vorwurf, eine Sekte zu sein - also über nicht so viel Anhang wie die Mächtigen und ihre Ideologen zu verfügen; die Sache wird ja durch die Anzahl ihrer Mitläufer nicht richtig oder falsch -, den einige aus der K-Gruppen-Ära sich zu Herzen genommen haben. Ihre letzte Läuterung bestand in dem Entschluss, dass, wenn schon ein glaubhaftes Massenvertretungsprogramm aufgelegt gehört, eines hermuss, das einen Eindruck endgültig vermeidet: dass da welche irgendetwas anderes vorhaben als die umsorgten Adressaten, wie sie gehen und stehen. Ganz locker wird da eine Sache, nur weil sie keine Anhänger findet,- dem Opportunismus des Erfolgs geopfert. Das Programm sieht dann freilich etwas anders aus, Kritik verschreibt sich dem Ziel "einer" Bewegung überhaupt - und die Einwände sind keine mehr, sondern Themen, die jeden Menschen betroffen machen. Die abstrakte Sorge ums (Über-)Leben gibt sich als konkretes Programm, wenn Umwelt und Frieden die Menschen bewegen. Dass auch dieser bodenlose Opportunismus noch fortschrittsfähig ist, zeigt die Entwicklung der aus der menschelnden Bewegung entstandenen Partei. Weil das "Thema" nach seiner Aufnahme in den Kanon aller politischen Parteien mit einem aparten Einwand nicht mehr verwechselt werden kann, weil die Nichtberücksichtigung der Schlager Frieden und Umwelt also nicht mehr zur Profilierung taugt, haben die Grünen heute neue Sorgen: Wie realpolitisch oder wie fundamentalistisch müssen sie sich geben, um glaubwürdig, also wählbar zu sein? In diesem Streit zeigt sich also schlagend, dass man selbst die Methode des Opportunismus für eine Frage der anstehenden Politik halten kann.

d) Der Terrorismus

Auch bei dieser Bewegung ist Vorsicht mit der lockeren Tour geboten, in der sie in die "Folgen" der 68er-Revolte eingereiht wird. Was die RAF und ihre Ausläufer von der Studentenrevolte erhalten haben, ist der Moralismus von Leuten, die sich im Besitz anerkannter Rechtstitel zur Störung und Behinderung der Macht befinden bzw. wähnen. Alles andere besorgte der verkehrte Schluss aus einer Beobachtung, der kaum ihre Richtigkeit bestritten werden kann. Die Beobachtung betrifft die Allgegenwart der Gewalt, die als Mittel überall dort anzutreffen ist, wo jemandem Leid zugefügt wird, so dass gute Menschen ein bisschen auf Abhilfe sinnen. Der verkehrte Schluss lautet: Allen Veränderungsversuchen, insbesondere den in der Studentenbewegung unternommenen, ist ihr Scheitern sicher, solange sie sich nicht auf die Gewaltmittel verlassen können, die die andere Seite einsetzt. Deshalb ist das Abschleppen von Leuten, die den Beruf der Charaktermaske des Geldes gewählt haben und ihn auf Kosten zahlreicher anderer Zeitgenossen ausüben, in Ordnung. Deshalb ist es moralisch geboten, Personifizierungen des staatlichen Gewaltapparats auch einmal mit den ihnen so vertrauten Mitteln auf umgekehrte Art und Weise bekannt zu machen.

Daran ist nichts, worüber zu erschrecken wäre; dergleichen ist als fester Bestandteil der politischen Kultur einzuschätzen, eben so, wie es die maßgeblichen Instanzen in diesem unseren Lande und anderswo auch tun. Wenn sie nicht gerade mit der Lüge über ihr eigenes Handwerk aufwarten, die "Gewalt ist kein Mittel der Politik" lautet. Worin der Fehler des Terrorismus und die Vergeblichkeit seiner und der von ihm geschaffenen Opfer besteht, ist leicht nachzulesen in: MSZ Nr. 9/85, 'Terrorismus - Die Gegengewalt der Ohnmacht'.

e) Der einzig echte Erfolg der Studentenbewegung ist dadurch zustande gekommen, dass die psychologischen Techniken, die in ihr als Bedingung für antiautoritäres Aufbegehren, auch als Ausweis für die eigene Unbefangenheit galten, auch noch sonst ganz brauchbar sind. Sich an den eingebildeten seelischen Deformationen abzuarbeiten, ist zur Mode geworden. Und zwar völlig zu Recht auch außerhalb von Vereinen, die dergleichen schätzen, weil ihnen die seelenhaushaltliche Intaktheit wie die Befähigung zur Kritik des Staatshaushaltes vorkam - und verklemmte Persönlichkeiten der Fähigkeit zum Aufmucken gegen Krieg und Ausbeutung beraubt schienen. Logisch gesehen ist es nämlich überhaupt nicht einzusehen, dass die Verkümmerung des Ich nur den oppositionellen Willen lähmt - warum sollte mit der Pflege des Selbstbewusstseins nicht auch die Voraussetzung für die Verfolgung anderer, auch gar nicht so leichter Anliegen herzustellen sein?

Das Peinliche an dem Quatsch, soweit er aus der Studentenbewegung und ihrem geistigen Umfeld kommt, ist nur dies: Die Staats- und Gesellschaftskritiker, die sich auf die Psychoschiene verlegt haben, vollziehen die radikalste politische Selbstkritik, die gegenüber den einmal geäußerten Einwänden - an Politik, Militär, Profit etc. - überhaupt zu üben geht. Sie geben rundheraus zu Protokoll, dass sie sich auf der ganzen Linie getäuscht hätten. Nicht objektive Instanzen der bürgerlichen Welt, fremde und mit Machtmitteln ausgestattete Interessen wären ihnen in die Quere gekommen, sondern ausschließlich sie selbst. Insofern war das Psycho-Geschwafel von der Emanzipation, die man an sich selbst vorzunehmen und dann vorzuzeigen hat, der Vorläufer zu der Volksseuche der modernen Klassengesellschaft, die von einer akademischen Disziplin, vielen Briefonkels und massenhaften Publikationen von Bestsellerstatus betreut wird: Männlein und Weiblein fühlen sich von nichts mehr beschränkt, außer von sich; so dass sie sich suchen, selbst verwirklichen und sich verändern, bis sie perfekter als jeder demütige Christenmensch ihren Frieden mit sich gemacht haben. Und brauchbar sind für jede Bewegung, die Geschäft und Gewalt verlangen.