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Dieser Artikel ist in der MSZ 6-1988 erschienen.

Systematik

Das Afghanistan-Abkommen
EIN WUNDERBARER FALL VON WELTORDNUNG

Ein interessantes Vertragswerk ist da in Genf abgeschlossen worden:

- Die vom Westen unterstützten Mudschahedin treten gar nicht als Vertragspartei auf, sie verpflichten sich also auch zu gar nichts. Statt dessen kommen sie zweifach als Vertragsgegenstand vor: Einmal als "afghanische Flüchtlinge", deren "freiwillige, geordnete und friedliche Rückführung" Pakistan, deren "Freiheit und Rechte" in Afghanistan die Regierung in Kabul verspricht. Auf der anderen Seite firmieren sie als "terroristische Gruppen, Saboteure und subversive Agenten", die nicht selber auf Frieden festgelegt werden, sondern nur nicht mehr "in Lagern, Stützpunkten und andernorts untergebracht, organisiert, ausgebildet, finanziert, ausgerüstet und bewaffnet werden" sollen, also, im Klartext, nicht mehr von Pakistan aus operieren dürfen sollen. Daß die Mudschahedin nicht zustimmen, stellt das Abkommen deshalb auch gar nicht in Frage, sondern paßt zu seinem Charakter. Es verpflichtet die Regierungsgegner darauf, sich mehr als bisher in Afghanistan selbst zu behaupten, bietet andererseits dafür auch neue Möglichkeiten. Die Mudschahedin versprechen, sie rücksichtslos zu nutzen und der Regierung mehr als bisher zuzusetzen. Kein Frieden, ehe die nicht kapituliert! Das diskreditiert die Freiheitskämpfer bei ihren westlichen Freunden ganz und gar nicht.

- Da treten die beiden Nachbarnationen Afghanistan und Pakistan als Vertragsparteien auf und versprechen, "die Souveränität, politische Unabhängigkeit, territoriale Unantastbarkeit, nationale Einheit, Sicherheit und Bündnisfreiheit" der jeweils anderen Seite zu wahren. Dabei befanden sich die beiden Staaten überhaupt nicht im Kriegszustand, nur Pakistan war in Kämpfe im Nachbarland 'eingemischt'; in Pakistan dagegen gibt es keine Kämpfe, geschweige daß Afghanistan welche schüren würde. Das vertragliche Entgegenkommen ist also höchst einseitig - wegen der einseitigen Ausgangslage. Pakistan scheidet offiziell als Basis der Widerstandskämpfer aus. Kämpfe erspart bleiben Kabul deswegen nicht. Sie werden laut Vertragstext zusammen mit den Flüchtlingen ins Land verwiesen.

- Die Unterschrift der Regierung in Kabul steht für ein völkerrechtliches Subjekt Afghanistan, bei dem laut Vertrag gar nicht feststeht, wer es demnächst vorstellen wird. Das vertragliche "Recht", "in Übereinstimmung mit dem Willen des Volkes ein eigenes politisches, wirtschaftliches kulturelles und gesellschaftliches System zu entwickeln", machen sich nämlich in einem mittlerweile achtjährigen Krieg wechselseitig streitig die Regierung in Kabul - mit Unterstützung der Sowjetunion - und mindestens sieben islamische Guerilla-Vereine - mit Pakistan und dem Iran als strategischem Rückhalt und mit tatkräftiger Ausstattung durch die USA.

- Darüber hinaus stellt das Vertragswerk klar daß die formellen Vertragspartner vor Ort gar nicht diejenigen sind, die über Fortführung oder Einstellung der Kämpfe entscheiden. Erst durch die Unterschrift der Sowjetunion und der USA erhält der Vertrag Gewicht. Die versprechen in einem separaten Abkommen noch einmal ihrerseits dasselbe, nämlich "sich auf Dauer jeglicher Art der Einmischung und Intervention in die inneren Angelegenheiten der Republik Afghanistan und der Islamischen Republik Pakistan zu enthalten". Dabei war die Sowjetunion bisher in Afghanistan offiziell alleinzuständig. Jetzt verspricht sie, und zwar als einzige, sich zurückzuziehen und ihre Kriegshandlungen einzustellen. Umgekehrt sind die USA erklärter Bündnispartner und Ausrüster Pakistans und Pate der afghanischen Regierungsgegner. Darüber aber steht wiederum gar nichts im Vertrag. Das fällt nicht unter "Einmischung".

Garantiert wird dnrch die Abmachung also alles andere als die prinzipielle "Nichteinmischung" der beiden Großmächte. Sie erkennen sich als Aufpasser aufeine 'Lage' an, die einzig durch das sowjetische Interesse an der Regierung in Kabul und durch den unerklärten Krieg, den die USA mithilfe der Mudschahedin gegen diese Regierung im Land geführt haben, zustandegekommen ist. Und wenn sie so tun, wie wenn sie einvernehmlich sich ein Stück mehr als bisher aus dieser "Lage heraushalten" und sie einvernehmlich regeln, dann schaffen sie eine neue, durchaus nicht friedlichere.

Geeinigt haben sich die Weltmächte nämlich nur daranf, ihre beiderseitige Zuständigkeit für das umkämpfte Problem anzuerkennen, was aus Afghanistan wird, und wechselseitig aufzupassen, daß sich die andere Seite nicht verbotenerweise "direkt" einmischt. Indem sie sich im Vertrag zu gleichberechtigten Beaufsichtigern eines Krieges erklären, den sie weiterhin, eben als Stellvertreterkrieg unterstützen, definieren sie Afghanistan ausdrücklich als Schauplatz ihrer weltpolitischen Auseinandersetznng. Jeder 'interne Streit' - intern nur der Form, aber nicht den Mitteln und schon gar nicht den engagierten Interessen nach - ist auf die beiden Garantiemächte bezogen. Immer steht unmittelbar ihr Interesse auf dem Spiel, wenn sich die Ortsmannschaften bekriegen. Und der Vertrag bietet die Grundlage, um sich darüber zu streiten, was man jeweils für "intern" und was für eine unerlaubte Einmischung der Gegenseite hält. Was man als Fortschritt zu mehr Frieden und Freiheit ansehen und als ein Instrument zur Entspannung einer Krisensituation auffassen soll, ist also die wechselseitig zugestandene, diplomatisch abgesegnete und geregelte 'Einmischung'; die verfeindeten Supermächte haben sich mit diesem Vertrag auf ein negatives Beaufsichtigungsprogramm darüber geeinigt, wie sie jeweils ihrer Partei in Afghanistan zum Erfolg zu verhelfen suchen - wohlgemerkt: unter tatkräftiger Unterstützung, was eine erfolgversprechende Ausrüstung mit Kriegswerkzeug betrifft.

Dabei bedeutet die vertragliche Gleichstellung für beide Seiten etwas ganz verschiedenes: Während die Sowjetunion ihre Truppen zurückzieht, ihre unmittelbare Kriegsbeteiligung beendet und vom Anspruch auf Alleinzuständigkeit für die Verhältnisse in Afghanistan vertraglich Abstand nimmt, treten die USA offiziell in den Rang einer interessierten Partei, einer Schutzmacht für eine Mannschaft vor Ort und eines gleichrangigen Garanten afghanischer 'Selbständigkeit' ein - mit dem überhaupt nicht inoffiziellen Versprechen, diese Position nach Kräften gegen die Sowjetunion wahrzunehmen.

Von wegen 'sowjetische Niederlage': ein Angebot zur Kooperation

Zustandegekommen ist dieser Vertrag, weil sich die sowjetische Regierung entschlossen hat, ihre Truppen abzuziehen, da sie ihr Ziel nicht erreicht hat, an der Südgrenze einen Staat herzurichten, von dem aus sich der weltpolitische Gegner nicht störend würde geltend machen können. Diese Absicht haben die USA durchkreuzt. Afghanische Hinterwäldler, die sich der sowjetischen Versuchen widersetzten, die Nachbarn ein wenig zu zivilisieren und darüber freundlich zu stimmen, wurden bis an die Zähne bewaffnet und mit dem westlichen Auftrag versehen, sich als "Freiheitskämpfer" gegen die Interessen der Sowjetunion zu verbluten.

Daß die Rote Armee an den Waffen der "freiheitsbewußten" Stammeskrieger, die in der Regel Demokratie nicht einmal buchstabieren können, gescheitert wäre, stimmt allerdings nicht. Die Sowjetunion will sich, nachdem sie ihr Ziel eines stabilen, sozialistischen Afghanistan nicht erreichen kann, die Kosten dieses Krieges nicht mehr leisten; den militärischen Aufwand, die moralischen Zweifel im eigenen Land und die diplomatischen Angriffe von westlicher Seite, die sich des stereotypen Deuters "Afghanistan" bedient haben. Mit dem Hinweis auf die untragbare russische Aggression gegen dieses neutrale Land haben die USA schließlich ihre Bündnispartner auf eine offene diplomatische Konfrontation eingeschworen: 'wg. Afghanistan' wurde die Olympiade boykottiert, der Handel beschränkt, ein Wirtschaftsembargo in die Wege geleitet, das 'Ende der Entspannungsära' festgestellt, der 'Kreuzzug gegen das Reich des Bösen' aufs Programm gesetzt.

Zustandegekommen ist das Abkommen über Afghanistan zweitens auf Grund des dezidierten sowjetischen Interesses, die USA zu einer "politischen Lösung" heranzuziehen. Stur gestellt haben sich die USA gegenüber dem sowjetischen Verlangen, die militärische Ausstattung ihrer Muslims einzustellen; herausgehört haben sie dagegen das Angebot, in die Position einer diplomatisch anerkannten Ordnungskraft in der Region einzurücken.

Die imperialistische Antwort

Seitdem hat sich das weltöffentliche Bild schlagartig gewandelt. Das Gerücht, daß sich in dieser öden Gegend ein tapferes Völkchen allein und heldenhaft gegen eine sowjetische Übermacht wehrt, ist prompt abgetan. Statt die sowjetischen Subversionsvorwürfe empört zu dementieren wie früher, gilt es jetzt erstens als allgemein anerkanntes Faktum, daß sich die USA längst entscheidend eingemischt haben. Und zweitens ist dieser Sachverhalt mit allen diplomatischen Ehren versehen.

Dabei haben die USA nicht nur klargestellt, daß sie sich das Recht herausnehmen, Fakten zu schaffen, wo immer sie wollen. Sie haben auch ein bißchen zugegeben, daß die Parole 'Russen raus' gar nicht so wörtlich gemeint war. Die bisherige Lage war ihnen nämlich gerade recht, um die Sowjetunion dauerhaft bluten zu lassen. Ganz so "gerecht", wie es ein demokratischer Kongreßabgeordneter aufrechnet, geht es zwischen den Supermächten zwar nicht zu, aber den freiheitlichen Geist dieses "Kreuzzugs", für den die Allah-Krieger antreten durften, trifft er durchaus:

"In Vietnam verloren wir 58.000 Mann, während die Sowjetunion in Afghanistan nur etwa 15.000 verloren hat. Also schulden die uns noch 33.000." (Die Zeit, 11.3.)

Und jetzt gestehen die USA - ohne großes Getue um afghanische Unabhängigkeitsgefühle der Sowjetunion den Status eines berechtigten Interesses zu - als Preis für den jetzigen Afghanistan-Schacher.

Allerdings entdeckt der Freie Westen neben seinem diplomatischen Erfolg auch gleich wieder ein Problem: Die bisherige Bequemlichkeit, mit Waffenlieferungen an ein paar islamische Fanatiker den Hauptfeind direkt und dauerhaft schädigen zu können, ist vorüber. Jetzt gilt es erst einmal abzuschätzen, was sich aus der neuen Lage machen läßt. Nicht ganz zufällig hat sich auch das Bild "unserer" Freiheitskämpfer rapide verdunkelt: Ihre verbohrte Uneinigkeit wird als höchst störend vermerkt; neben der Frage, wen von den Mullahs und Khans man aufbauen soll, stellt sich vor allem die, ob sie sich überhaupt gegen die regierende Partei durchsetzen und nicht aufeinander losgehen. Ebenso plötzlich will man bemerken, daß ein kämpferischer Islam auch nicht geradewegs zu einem westlich inspirierten Entwicklungsland führt, im Nachbarland z. B. einen Khomeini-Staat hervorgebracht hat. Eine ehrliche Kundgabe, daß ein positives Interesse der westlichen Weltordnungsstifter an Afghanistan nie bestanden hat, sondern eben nur das, die Sowjetunion zu treffen. Dafür haben die Mudschahedin getaugt; was sie unter den neuen Bedingungen taugen, muß man noch ausprobieren. Allerdings stehen nun auch andere Mittel der Einmischung zu Gebote: US-Experten für einen "Wiederaufbau" haben schon einmal die Regierung in Kabul getestet; von seiten der EG und der BRD sind Angebote für "Wirtschaftshilfe" eingetroffen. An Waffen wird es deshalb allerdings auch nicht fehlen.

Die "Regelung" eines "Regionalkonaikts": Streit der Weltmächte auf Dauer

Die Sowjetunion kann einen zweifelhaften Erfolg verbuchen. Durch den Vertrag ist es quasi amtlich beglaubigt, daß die USA in einen "unerklärten Krieg" involviert gewesen sind, wie es die Russen immer angeprangert haben. Die USA haben sich zu ihrem bisherigen Engagement in der Region, zu ihrer "Subversion" bekannt und sich nun förmlich in die"Verantwortung" für eine Friede in Afghanistan nehmen lassen, freilich ohne Frieden anzubieten: Die Vertragsunterschrift, an der den Russen so gelegen war, schließt nämlich gar nicht das amerikanische 'Versprechen ein, sich zurückzuhalten und auf eine Beendigung der Kriegshandlungen zu dringen. Sie haben sich zu gar nichts verpflichtet außer dazu, die Auseinandersetzung in Form eines Bürgerkriegs stattfinden zu lassen und sich dabei immerzu mit dem eigentlichen Gegner diplomatisch darüber zu streiten, wieweit das eigene Engagement vor Ort, die Unterstützung der Stellvertretertruppe vertragsgemäß, wieweit das Engagement der Gegenseite vertragswidrig sei. Der diplomatische Gewinn, den die Sowjetunion erzielt hat, besteht darin, als ebensolcher "Verantwortungsträger" anerkannt zu sein; der diplomatische Preis, die USA in ihrer früheren Einflußsphäre offiziell zuzulassen.

Den Staatsmännern des realen Sozialismus gefällt diese Sorte "Konfliktregelung" offenhar dennoch über alle Maßen, so daß sie darin gleich ein Modell friedlicher Koexistenz rund um den Globus ausmachen möchten:

"Indem sie als Vermittler und Garantiemächte an der Lösung des Afghanistan-Problems mitgearbeitet haben, haben die UdSSR und die USA einen Präzedenzfall jenes konstruktiven Zusammenwirkens geschaffen, welches zur Verbesserung der internationalen Beziehungen so dringend nötig ist. Ich erhoffe von dem Afghanistan-Abkommen Impulse für die Lösung anderer Regionalkonflikte." (Gorbatschow, Süddeutsche Zeitung, 15.4.)

Die sowjetischen Weltfriedenspolitiker meinen offenbar, mit dem Afghanistanvertrag seien ihre Appelle an die Vernunft des imperialistischen Gegners, er müsse wegen der "Gefahr" der Gegnerschaft an einem "Miteinander" ausgerechnet bei ihren weltpolitischcn Streitigkeiten interessiert sein, erhört worden. Sie interpretieren das Abkommen so, daß ihre Sicht der "regionalen Konflikte" zum Zuge gekommen sei: ein Fall von internationalem Regelungsbedarf. Wenn sie das Afghanistan-Abkommen als ein "Fenster der Hoffnung" bezeichnen, "das sich in den internationalen Beziehungen geöffnet hat" (ebd. ), zeigt das, was die Sowjetunion unter Entspannung der Weltlage versteht, und wie sie sich die Sicherung des Weltfriedens vorstellt: Alle Gegensätze mit den USA, die die gewaltsam schüren, machen die beiden Supermächte zum Gegenstand diplomatischen Streits. Und die Afghanistan-Regelung schätzen die Russen als Präzedenzfall dafür, daß sie in der Rolle des gleichberechtigten Weltpolizisten anerkannt worden sind, und die USA umgekehrt sich zum Prinzip der "Kooperation" mit der Führungsmacht des Ostblocks bekannt haben. Verhandeln beim und übers Schießen, das ist die "gemeinsame Verantwortung" gegenüber "Konfliktherden" wie Afghanistan, von der Gorbatschow träumt. Und dieses Ideal wird auch nicht deswegen erstrebenswerter, weil die USA es überhaupt nicht teilen. Wahr geworden ist es in Afghanistan nur deshalb, weil die Sowjetunion offiziell eine amerikanische Mitzuständigkeit in ihrem Einflußgebiet anerkennt. Als Vorbild für Washington etwa in Sachen Nicaragua oder Golf gilt es aber ganz und gar nicht.

Der neue Verlauf des Afghanistankriegs, die Konkurrenz vermittels der jeweiligen Mannschaften vor Ort und der diplomatische Streit um die "Symmetrie" der beiderseitigen Einmischung, steht schon fest: Die Sowjetunion verlangt von Pakistan die Einhaltung des Vertrags und "die Auflösung von Ausbildungslagern und Stützpunkten der afghanischen Rebellen" (SZ, 16.4.); Pakistan bestreitet deren Existenz, es gäbe nur Flüchtlingslager. Schewardnadse erklärt,

"in den Genfer Dokumenten sei die Frage von Waffenlieferungen und einer Symmetrie - wie Shultz sagte - nicht geregelt. Es würde eine Afghanistan-Regelung komplizieren, wenn die USA weiter Waffen an die Mudschahedin lieferten..."

Shultz erklärt,

"die amerikanische Seite habe den Sowjets klargemacht, daß sie ungeachtet ihrer Rolle als Garantiemacht des Abkommens,das Recht zu militärischer Hilfe für den afghanischen Widerstand behalte. Auf die Frage, wie Waffen ohne Verletzung des Genfer Abkommens geliefert werden könnten, meinte Shultz, die USA würden geeignete Wege finden..." (SZ, 16.4.)

Ein US-Vertreter versichert der Weltöffentlichkeit,

"daß in Kürze Waffennachschub in Pakistan eintreffen wird. Es würden Maßnahmen getroffen, um zu gewährleisten, daß den Aufständischen nicht die Munition ausgehe." (SZ, 28.4.)

Das State Department eröffnet einen neuen Streitpunkt:

"Die USA wollen keine sowjetischen Berater in Afghanistan dulden..." (SZ, 2.5.)

Die beiden Supermächte haben mit ihrem Abkommen beschlossen, daß ihnen Afghanistan mörderisch viel wert ist. Sie versichern sich, daß sie beide ihre Interessen an dem Land und die Mittel, sie durchzusetzen, vergleichen wollen. Der Vergleich macht die nächsten zehn Jahre Afghanistan aus.

Die Russen sind raus aus Afghanistan - keiner im Westen ist zufrieden

Jahrelang sollte man das 'Russen raus aus Afghanistan' als wichtigstes Anliegen der Freien Welt begreifen. Jetzt geht der sowjetische Truppenabzug los, und die demokratischen Weltbetrachter interpretieren die neue Lage als höchst unbefriedigend. Mit einem eirzigen "Argument": unsere Interessen.

Vor der Erläuterung der "Probleme" eine Würdigung des "Erfolgs":

"Die Genugtuung der in Vietnam gebeutelten Amerikaner darüber, daß den Sowjets nunmehr ebenso ein Desaster widerfährt bei dem Versuch, einem Land der Dritten Welt sein Gesellschaftssystem gewaltsam aufzupfropfen, sie ist schon zu verstehen." (Süddeutsche Zeitung, 15.4.)

Solche merkwürdigen "Gefühle" kann ein demokratischer Journalist also wunderbar mitempfinden: Daß in Vietnam nicht die Vietnamesen "gebeutelt", "in die Steinzeit zurückgebombt" worden sind, sondern daß das kostbare Selbstbewußtsein der Supermacht USA einen Knacks abbekommen haben soll! Und daß die Sowjetunion daran gescheitert ist, ein paar hinterwäldlerischen Stämmen ein bißchen Schulerziehung, Gleichberechtigung der Frauen und Hygienerichtlinien beizubringen, das gilt einem zivilisierten Mitteleuropäer als guter Grund für "Genugtuung". Jeder Schaden für die Sowjetunion ein Anlaß zur Freude für uns diese Sichtweise ist ein schöner Beleg für die moralische Erhabenheit unseres westlichen Wertesystems! Aber der subtile Weltkenner teilt die Gefühle der USA auch nur kurzfristig, um dem US-Präsidenten die Problemlage vorzuhalten:

"Afghanistan wird einer Selbstbestimmung überantwortet, die ihre endgültige Form wohl erst nach den Blutbädern eines Bürgerkriegs finden wird. Frieden oder nur Befriedung verschafft dieses Genfer Abkommen dem geschundenen Bergstaat am Hindukusch nicht."

Das, was bislang in Afghanistan stattgefunden hat, waren offensichtlich keine "Blutbäder". Das war vielmehr ein höchst gerechter "Freiheitskampf". Und wenn dieselben Akteure, unsere geliebten Freiheitskämpfer, jetzt ein bißchen weiter metzeln, mit Waffen, die bekanntlich nach wie vor von uns geliefert werden, was ist denn daran auf einmal so bedenklich? Daß sie kein russisches, sondern nur noch afghanisches Menschenmaterial dafür haben: Wozu taugt schließlich die Beschwerde, daß das Genfer Abkommen keinen Frieden bringt? Der einfache logische Schluß, daß es dann wohl auch kein Abkommen über Frieden ist, sondern die Einigung der feindlichen Weltmächte über die Fortsetzung ihrer Konkurrenz als Bürgerkrieg, verbietet sich für einen demokratischen Vordenker. Der entdeckt genau dann seine Entrüstung über "Blutbäder", wenn er ihnen nicht zutraut, daß sie das von ihm erwünschte Resultat garantieren:

"Niemand vermag heute vorauszusagen, ob aus diesen Auseinandersetzungen am Ende eine Islamische Republik, eine bürgerlich-monarchisch geprägte Regierung, doch noch eine Volksrepublik oder ein Land nach dem Modell des Libanons hervorgehen wird..."

Ja, dann macht es sich gut, ein paar Tränen über die Leichen zu vergießen, wenn so wenig feststeht, ob sie sich für uns auch lohnen! So wenig wie bei diesen Tiraden eine ziemlich maßgebliche Partei jemals ins Blickfeld gerät, die mit Stinger-Raketen und einer gerade neu beschlossenen 300-Millionen-Dollar-Waffenhilfe die "Blutbäder" doch, höflich gesagt, fördert, so sehr bedenklich findet man andererseits die Rolle der anderen Supermacht. Eine originelle Variante des allseits beliebten Vietnam-Vergleichs entdeckt den entscheidenden Unterschied nicht darin, daß die sich zurückziehende Weltmacht Sowjetunion nicht daran denkt, das Land für ihre Feinde auf Jahrzehnte unbrauchbar zu machen. Nein, die Sowjetunion zieht sich gar nicht wirklich zurück:

"Doch die Parallele stimmt nur bis zu dem Punkt, wo die sowjetische Supermacht die Vorderbühne verläßt. Anders als die USA in Vietnam bleibt die Sowjetunion in Afghanistan auf der Hinterbühne präsent, schon deswegen, weil beide Länder eine gemeinsame Grenze haben... Auch nach dem Abzug ihrer Truppen wird die Sowjetunion also einen dicken Pfahl im Fleische Afghanistans behalten, wogegen ungewiß ist, wie die USA den Mudschahedin weiter Unterstützung zukommen lassen können."

Merke: Daß Nicaragua auch nur irgendwie geographisch in der Nähe der USA liegt, gilt demokratischen Meinungsmachern als zweifelsfreie Rechtfertigung dafür, daß die USA ihren "Hinterhof" als Problem für ihre Sicherheit behandeln. Wenn die Sowjetunion eine gemeinsame Grenze mit Afghanistan hat und sich wegen ihrer Sicherheit um die Zustände im Nachbarstaat kümmert, berechtigt das allemal zu Vorwürfen von wegen Einmischung und Hegemonie. Und es ist doch wirklich zutiefst ungerecht, daß die USA geographisch ziemlich weit weg liegen und sich auch noch um Transportwege für ihre Waffen kümmern müssen!

Das Abkommen ist in allen Hinsichten unbefriedigend: Die imperialistische Sichtweise denkt einfach an ihren Interessen entlang und kommt so lässig von Afghanistan auf Osteuropa. Theo Sommer in der "Zeit":

"Nicht, daß die Sowjets sich völlig auf die eigenen Angelegenheiten krümmen. Schon gar nicht ist zu erwarten, daß sie in Osteuropa ihre Zelte abbrechen... In Afghanistan liefern die Sowjets den Beweis, daß sie Positionen räumen können, wenn deren Behauptung zu teuer wird. Auf ihrem Glacis gegenüber dem Westen werden sie dies nicht tun; doch könnten sie die Zügel lockern..." (15.4.)

Wieso das: Warum sollte die Sowjetunion ausgerechnet aus ihrer Afghanistan-Politik den Schluß ziehen, ihre Interessen an ihrem Bündnis zu streichen: Bloß, weil nicht nur Afghanistan, sondern auch " Osteuropa" und letztlich auch Rußland eigentlich uns gehört?!

Während den armen Afghanen einerseits viel Mitgefühl dafür ausgesprochen wird, daß sie sich jetzt ohne Beteiligung von Russen umbringen müssen, bekommen sie andererseits auf einmal auch sehr schlechte Noten.

"Der Wille ium Kompromiß zählt nicht zu den afghanischen Tugenden. In Afghanistan, wo zum richtigen Mann die Knarre über der Schulter gehört, wo Rache Ehrensache und Töten Selbstverständlichkeit ist, gibt es keine Zusammengehörigkeit zwischen den Clans, geschweige denn ein Nationalgefühl." (Die Zeit, 15.4.)

Waren das nicht gerade die "Tugenden", die die Jungs dafür so brauchbar gemacht haben, gegen den Hauptfeind verheizt zu werden? Ach was, eine einzige imperialistische Fehlkalkulation hat man in der "Zeit"-Redaktion aufgedeckt:

"Washington hat als 'Freiheitskämpfer' sieben Jahre lang Leute unterstützt, die mit den Idealen von Freiheit und Fortschritt nicht das geringste im Sinn haben. Mehr noch, sie machen, wie zum Beispiel der Fundamentalisten-Führer Hekmatyar, überhaupt keinen Hehl aus ihrer antiamerikanischen und antiwestlichen Einstellung."

Und zu denen haben wir neun Jahre lang gehalten? Und jetzt erst gemerkt, daß die es mit dem Islam haben?! Bloß weil man in der "Zeit"-Redaktion das bescheidene Bedürfnis nach einer soliden prowestliche Regierung in Kabul angemeldet haben möchte, wird jetzt heftig an der Eignung unserer Mudschahedin herumproblematisiert. Mit einem leichten Hang zur Übertreibung: Die Tölpel im Pentagon und State Department haben wieder einmal eine ganze Region für unsere Interessen vergeigt!

"Der Sieg dieser Rebellengruppen kann nur eins iur Folge haben: Er wird die gesamte Region ins Rutschen bringen - nicht nur Afghanistan, sondern wohl auch Pakistan. Doch Pakistans Stützpunkte spielen für die 40.000 Mann des amerikanischen Central Command, die im Ernstfall den westlichen Zugang zu den Ölfeldern sichern sollen, eine wichtigere Rolle als die Basen in Oman, Somalia, Kenia und Ägypten... Nun droht im Großraum Afghanistan/Pakistan der Status quo zu zerbrechen. Washingtons Sicherheitsinteressen werden davon empfindlich berührt. Die Sowjets können erst einmal abwarten..."

Die Sowjetunion zieht ihre Truppen zurück; die USA etablieren sich als neue Garantiemacht für Afghanistan; die Region ist bereits mit lauter amerikanischen Stützpunkten übersät; der Golf eine einzige US-Aufmarschbasis und wegen der Geistesart der US-Hilfstruppen in Afghanistan soll man sich die größten Sorgen um die US-Sicherheitsinteressen machen?! Alle Achtung.