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Dieser Artikel ist in der MSZ 6-1988 erschienen.

Ein Grüner interpretiert den INF-Vertrag
"REALE ABRÜSTUNG"

Unter dem Titel "Das grüne Abrüstungskonzept in der Krise" (Süddeutsche Zeitung vom 6.5.) hat der "wissenschaftliche Mitarbeiter" der grünen Bundestagsfraktion Wolfgang Bruckmann eine Interpretation des INF-Vertrages dargelegt. Sie lautet: "Die Militärbündnisse haben gezeigt, daß sie zu Abrüstungsschritten fähig sind."

Der Hauptstoß der Argumentation Bruckmanns ist unschwer auszumachen. Er will all diejenigen in der eigenen Partei blamieren, die in der "Eiszeit" der These von der "strukturellen Abrüstungsunfähigkeit" der NATO anhingen. All jenen, die mit dieser These ihren tiefen Glauben an die Untauglichkeit der NATO als Bundesgenossen für die Suche nach einem "Ausweg aus der Aufrüstungswelt" bekundeten und statt dessen eine "Strategie einseitiger Abrüstung" favorisierten - an der NATO vorbei -, hält Bruckmann jetzt das Fakt des Vertrages sowie das Fakt einer "realen Abrüstung" entgegen. Wer jetzt noch angesichts des INF-Vertrages dem Glauben anhängt, daß aus Abrüstungsverhandlungen stets nur "kontrollierte Aufrüstung" herauskomme, muß sich ab sofort grünenintern mit dem Vorwurf eines "metaphysischen Geschichts- und Politikverständnisses" auseinandersetzen. Nur wer an einer "selektiven Wahrnehmung komplexer internationaler Prozesse" leide, könne den einfachen Sachverhalt übersehen, daß für die Kriegsdiplomatie unserer Gegenwart Abrüstung eben doch ein wirklicher Zweck sei.

Bruckmann ergreift also Partei in der realitätsfernen Diskussion für die rein abstrakt methodische Frage, inwiefern man den

INF-Vertrag als Abrüstungsvertrag

interpretieren darf. Er meint, man muß!

"Zum erstenmal nach 1945 wird die Zahl moderner atomarer Offensivwaffen nicht begrenzt, sondern verringert, das heißt, es wird in einem Rüstungssektor real abgerüstet."

Das Glanzpapier eines Rüstungskontrollabkommens als seine Erklärung auszugeben, ist nur manchen Theoretikern gegeben. Wenn die Supermächte aus dem Topf nuklearer Vernichtungskraft eine bestimmte Masse eliminieren wollen, dann ist das eine Verringerung. Soweit stimmt es: Eine Verringerung ist eine Verringerung. Ein angetäuschter Schluß daraus - "das heißt" -, der in der Versicherung besteht, diese Verringerung des nuklearen Vernichtungspotentials sei eine ganz "reale", mutet einen an als ob Bruckmann einer Versicherung darüber ganz dringend bedürfe, keiner Täuschung anheimgefallen zu sein. Gegenüber diesem interessierten Lob des Vertrags, das mit dem platten Hinweis auf den empirischen Tatbestand einer Verringerung daherkommt, ist festzuhalten, daß der Witz dieser Übereinkunft der Großmächte gar nicht die Verringerung von Raketen ist.

Zur realen Abrüstung wird das bei Bruckmann durch den Hinweis auf bisherige Rüstungskontrollvereinbarungen, bei denen es um eine gegenseitige Beschränkung von Obergrenzen der Aufrüstung gegangen ist. Wenn man sich aber das INF-Abkommen verständlich machen will durch einen Vergleich mit SALT, dann soll man diesen Vergleich auch durchführen.

Von einem Fortschritt hin zur "Abrüstung", von einer Linie von SALT zum INF-Abkommen kann gar keine Rede sein. Unter der Voraussetzung, daß es keinen "Ausweg" aus ihrer Rüstungskonkurrenz gegeneinander gibt, haben die Großmächte bei SALT sich auf einen ideellen Rahmen ihrer wechselseitigen Waffenbedrohung verständigt. Dieser "Ansatz" ist beim INF gar nicht zu sehen. INF regelt dagegen eine spezielle Mittelstreckenraketenfrage zwischen den USA und der Sowjetunion neu und betrifft nur die Frontlage um Europa, das aber wiederum unter Absehung von den europäischen NATO-Kräften und dem Warschauer Pakt. Die beiden Großen ziehen ein bestimmtes Kampfpotential, mit dem sie sich in Europa bedrohen, wieder ein. Das ist das Fakt. Alle "Rüstungssektoren" zwischen den Streitkräften der NATO und dem Warschauer Pakt bleiben erhalten und haben mit dem INF-Vertrag nichts zu tun. Das ist das andere Fakt.

In der schwammigen Diktion von Bruckmann reduzieren sich diese Verhältnisse auf einen Rüstungssektor, auf dem jetzt die "Idee der Abrüstung" verwirklicht werde, so daß als billige Entdeckung stehen bleibt: Eben noch hatte die NATO Pershings und cruise missiles in ihrem Rüstungsarsenal, nun entfernt sie welche. Das genügt, um Bruckmann den Glauben an die Abrüstung zurückzugeben. Wo die bürgerliche Politikwelt sehr schnell vom Lob des Vertrages zu lauter "Folge"- und "Sicherheitsproblemen" für die Rüstung übergegangen ist, erblickt der grüne Politiktheoretiker im bloßen Zustandekommen der Einigung einen Wendepunkt. Mit dieser Auffassung fährt er in seinem grünen Verein höchst durchsichtig - unter dem Vorwand der "Aufarbeitung" von Fehlern der Friedensbewegung - die kindische Schiene: Möglichkeit von Verträgen = reale Abrüstung = Politik ist glaubwürdig = um politikfähig zu bleiben, müssen die Grünen die "Friedensfähigkeit" der NATO anerkennen:

"Heute ist es der NATO-Integration zu verdanken, daß sich die Bundesrepublik der doppelten Null-Lösung nicht entziehen konnte."

Der harte Kern des INF-Abkommens

Von wegen "Abrüstung"! Das INF-Abkommen ist die von allen Beteiligten besiegelte Erledigung der brüstungsfrage auf dem alten Kontinent. Die Geschichte des INF-Vertrags hat sich um den Punkt gedreht, ob es der Sowjetunion gelingen würde, der von den Westeuropäern angezettelten rüstungsdiplomatischen Erpressung namens Doppelbeschluß so zu begegnen, daß daraus eine Verhandlung über ein "gerechtes" nukleares Kräfteverhältnis zwischen der Sowjetunion und den westeuropäischen NATO-Staaten werde - wenn schon dem Erpressungshebel der NATO nicht auszuweichen war. Das Ergebnis: Dieser so-

wjetische Versuch scheiterte schlicht und einfach mit den Genfer Verhandlungen, und die Rüstungsdiplomatie unter Gorbatschow vollstreckte dieses Scheitern. Mit dem INF-Vertrag haben sich die westeuropäischen NATO-Brüder ihrem Hauptfeind gegenüber auf eine ganz neue Weise mit dem Standpunkt durchgesetzt, daß die einzige Militärmacht zwischen Atlantik und Ural, für die eine Abrüstungsbedürftigkeit besteht, die Sowjetunion ist, sonst doch niemand! Oder hat Herr Bruckmann vielleicht ein Gramm "realer Abrüstung" bei den militärischen Mittelmächten entdeckt, als kleines Zugeständnis dafür, daß es diesen Zwergen im Verein mit dem großen Bruder auf der anderen Seite des Atlantiks gelungen ist, dem militärischen Ungetüm Sowjetunion eine komplette moderne Raketengeneration abzuhandeln?

Auch wenn es über den Verstand eines linken Abrüstungsexperten wie Bruckmann geht: Der Begriff der Mittelstreckenaffäre und ihre vorläufige Lösung durch den INF-Vertrag ist weder Abrüstung noch Rüstungskontrolle und auch nicht die Einigung über die Beseitigung eines "Rüstungssektors", dem andere folgen sollen. Die wirkliche Materie dieser Abteilung Rüstungsdiplomatie ist ein alter und stets aufs neue aufgenommener Streit zwischen den USA und der UdSSR über das Recht der Amerikaner, das westeuropäische Territorium als zusätzliche Basis für den Krieg der Supermächte gegeneinander zu benutzen. Dieser Streit war von Beginn an dadurch gegeben, daß der UdSSR eine vergleichbare "vorgeschobene" zusätzliche strategische Position den USA gegenüber fehlt - der Versuch mit Cuba schlug ja fehl Dieser Streit ist faktisch entschieden: Die USA haben sich in Westeuropa militärisch so aufgebaut, wie sie es für ihre Kriegsplanung für nützlich halten. Freilich haben die USA diesen Streitpunkt ihres Kriegsgegners als Streitgegenstand ihres bilateralen rüstungsdiplomatischen Verkehrs anerkannt. Was sich daher die USA im Ausmaß ihrer strategischen Nutzung Westeuropas herausnehmen, bestimmt die Konjunkturen der Rüstungsdiplomatie. Mal schieben die USA ein Argument der Sowjetunion, das sie nicht widerlegen können, rücksichtslos beiseite - wie im Fall der sogenannten Nachrüstung exemplarisch geschehen. Mal gehen sie her - wie jetzt beim INF-Vertrag - und verlangen einen Preis für die explizite Anerkennung der sowjetischen Argumentation, mit der Aufstellung von Pershing II und den anderen Geräten habe die andere Seite das Maß überschritten und eine stillschweigende "Spielregel" verletzt. Was ist das Resultat des INF-Vertrages? Die USA haben ihre Flexibilität in Bezug auf die Wahrnehmung strategischer Optionen unter Beweis gestellt; sie nehmen wieder den Stand ein, den sie schon vor der Stationierung ihrer Mittelstreckenraketen eingenommen hatten. Die UdSSR hat dafür einen rüstungspolitischen Preis bezahlt. Die abgeschlossene Mittelstreckenaffäre ist der erfolgreich durchgeführte "Doppelbeschluß". Die Sowjetunion hat anerkannt, daß Westeuropa eine eigenständige strategische Rechnung und Bedrohung gegen sie aufmacht. Dagegen waren die SS 20 vorgesehen. Die SS 20 werden abgebaut - die Rechnung bleibt bestehen.

Der Glaube an Abrüstung hält jede Rüstung aus

Da es Bruckmann nur um den Glauben an Abrüstung geht, erspart er sich jedes Wort über den Inhalt des INF-Abkommens selbst und geht konsequent auf all jene los, die kleingläubig den Abrüstungswert des INF-Vertrages mit dem Hinweis in Zweifel ziehen, daß in der NATO als Konsequenz des angeblich erzielten Abrüstungsfortschrittes nur ein Thema diskutiert wird: Rüstungsprogramme zur Kompensation der "weggefallenen" Raketen. Bruckmann dagegen:

"Die erstarrten Gedanken erlauben keine Realität der Abrüstung. So werden die - übrigens nicht zu bestreitenden - alten und neuen Pläne der NATO angeführt, durch die (künftige) Stationierung von see- und luftgestützten Mittelstreckenflugkörpern größerer Reichweite so wie durch Modernisierungsmaßnahmen im Kurzstreckenbereich das INF-Abkommen zu unterlaufen. Es ist die Denkfigur der 'Kompensationsrüstung', die die technischen Unterschiede zwischen diesen Systemen und den zu Lande stationierten amerikanischen Mittelstreckenraketen größerer Reichweite einebnet. Durch diese Immunisierungsmethodik wird die Realität so lange verbogen, bis..." -

ja bis, meint "Denkfigur" Bruckmann, der Glaube an Abrüstung wieder angekratzt ist. So ein Quark! Wenn die NATO-Leute von der Notwendigkeit von Kompensationen reden, dann wollen sie das INF-Abkommen nicht unterlaufen. Vielmehr wollen sie auf den Resultaten dieses Vertrages aufbauend weiterrüsten. Seit wann ist Kompensation, auch in der Rüstung, identisch mit "Einebnen"??!

So verbiegt man als grüner Realpolitiker die Realität, wenn man die Partei unbeschadet aller Rüstungsfortschritte auf den Optimismus in Sachen NATO und Abrüstung festlegen will.