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Dieser Artikel ist in der MSZ 6-1988 erschienen.

Internationale Heimatkunde: Irland
MIT BOMBEN UND GEBETEN FÜR DIE NATIONALE SOUVERÄNITÄT

Kaum führt die hochoffizielle Pflege noch der letzten nationalen Idiotie in der Sowjetunion dazu, daß sowjetische Bürger aufeinander einschlagen, weil sie verschiedenen Volksstämmen angehören, reibt man sich hierzulande die Hände von wegen der Unverwüstlichkeit des Nationalgefühls, das sogar die infame Verfolgung durch Förderung überlebt. Da muß man sich dann tagelang alle zwei Stunden die Szene des weinenden Vaters auf dem armenischen Friedhof ansehen von wegen dem Leid, das der Osten über die Menschen bringt - trotz Glasnost, Gorbatschow und Perestroika. An die Schlächterei, die seit Jahrzehnten vor der eigenen Haustür stattfindet, hat man sich dagegen gar nicht mal gewöhnen müssen, weil man dem britischen Ordnungswillen, mit dem Terrorismus aufzuräumen, sehr grundsätzlich mit Verständnis begegnet. Andererseits können auch Bombenleger in Ost und West mit der Billigung ihrer Motive rechnen, wenn sie aus patriotischer Gesinnung heraus handeln, solange sie ihrem tödlichen Geschäft nicht gerade im eigenen Land nachgehen und sich nicht mit Kalaschnikows statt Armalite-Gewehren ausstatten. Die IRA wird diesen wenig anspruchsvollen Kriterien gerecht.

I. Grundlage: Der britische Hoheitsanspruch

"A Cuba off Britain's western shore"

Kuba war noch gar nicht das, als was es heute gilt, da betrachtete und behandelte das große Britannien die kleine Insel vor seiner Küste schon so, als wäre sie das eine Bedrohung der nationalen Sicherheit Großbritanniens, der man nicht den Hauch einer Chance lassen darf. Old Dev (Eamon de Valera), der "Vater des Irischen Freistaats", hat dann in den 20er Jahren den Vergleich erfunden. Die Zucker- und Tabakinsel, die sich die USA nicht lange zuvor aus spanischer Herrschaft befreit hatten, war ihm als Vorbild für seinen Staat gerade recht. Offensichtlich spekulierte er darauf, Irland als eine Großbritannien vorgelagerte Milchschüssel zu organisieren. Fidel Castro erst hat die irische zu einer britischen Parole werden lassen. Ein Problem hat Großbritannien dabei mit Irland nie gehabt. Es hat die Insel von jeher zu einer Frage der eigenen Sicherheit erklärt, ohne daß sie das je gewesen wäre. Und deshalb ist es das Pech der Iren, nicht bloß eine "große grüne Schüssel" im Atlantischen Ozean zu sein, sondern als "natürliche Bedrohung" für die Nachbarinsel definiert worden zu sein: Irland also als "vorgelagertes" Sprungbrett gar nicht realer, sondern bloß vorgestellter Invasionen: Eben deshalb haben die Invasionen in umgekehrter Richtung stattgefunden. Und dabei wußte schon Elisabeth I., daß eine Unterwerfung ohne Gewalt nicht zu haben ist:

"Der Wille eines barbarischen Landes muß erst durch einen Krieg gebrochen werden, bevor er für gutes Regieren taugt."

Etwas anderes als Unterwerfung unter die Regie britischer Hoheit ist nie der Zweck der jahrhundertelangen britischen Gewaltmaßnahmen gewesen. Eine andere Benutzung der Insel war zu keiner Zeit beabsichtigt, weder der Iren noch ihres Landes. Die brutalen Enteignungen (1741 gehören nur noch 7% des Landes katholischen Iren) und die drakonischen Strafgesetze (penal laws) dienten weniger der Bereicherung der immigrierten Schotten und Engländer als der Befreiung der Bevölkerung dieses britischen Sicherheitsrisikos von allen Mitteln, die dem Zweck der Installation des politischen Willens Großbritanniens in Form einer importierten Herrscherkaste irgendwie hinderlich sein konnten.

Viel mehr als ihren Glauben haben die Engländer ihren Nachbarn nicht gelassen. Und auch den nicht, weil ihnen die "sprichwörtlich irische Religiosität" bei ihren Reformationsversuchen in die Quere gekommen wäre. Ihren eigenen Untertanen haben sie den Katholizismus ja auch nicht mit Predigten ausgetrieben. Der Zweck der englischen Strafmaßnahmen in Irland war aber gar nicht die Missionierung Falschgläubiger, sondern die Diskriminierung und Enteignung der störenden Bevölkerung. Auf die Gleichung von Loyalität und Protestantismus haben die Engländer nämlich nur bei ihren Statthaltern wert gelegt. Weil es eh nur auf die Unterscheidung zwischen englischen Verwaltern der Insel und ihrer störenden Bevölkerung ankam und neben dem Besitz der Glaube - durch den Besuch der verkehrten Kirche z.B. - diesen Unterschied äußerlich kenntlich machte, konnten die Iren ihren Glauben ruhig behalten. Für die besitz- und nutzlos gemachte, von Strafen bedrohte Bevölkerung war die Beschäftigung mit dem Allerhöchsten die adäquate Ideologie ihres Knechtdaseins, das sie sich so als Gottes Fügung zurechtbeten konnten.

Als persönliches Inventar der zum britischen Hoheitsgebiet erklärten Insel sind die Iren nichts als störende Momente der Errichtung der britischen Herrschaft gewesen, weshalb tendenziell die Entvölkerung Zweck der britischen Maßnahmen gewesen ist. Zwar haben die Briten die Kartoffelseuche Mitte des letzten Jahrhunderts mit großer Sicherheit nicht in die Welt gesetzt; aber daß die Massen wegen der Seuche verhungert wären, ist angesichts übervoller Vorratsspeicher und hoher Exporte ebenso sicher erlogen. Die Entvölkerung der Insel durch Hunger und die das 19. und 20. Jahrhundert kennzeichnende massenhafte Auswanderung - so daß in den USA heute etwa zehnmal soviel Iren leben wie in Irland selbst - paßte ins Sicherheitskonzept Großbritanniens.

Sovereignty

Wo Kontrolle einer Zone britischer Sicherheit oberster Zweck ist, kommt Souveränität - im Sinne, wie sie für Großbritannien selbstverständlich ist - nicht in Frage; es sei denn: als von Großbritannien kontrollierte Souveränität. Und dafür hatte die Politik der Entvölkerung und Verarmung die Grundlage geschaffen. So sehr, daß der irische Nationalismus im Ersten Weltkrieg seine Chance am ehesten darin gegeben sah, recht tapfer an der Seite der Briten zu kämpfen, in der Hoffnung auf den Lohn irischer Unabhängigkeit. Eine so begründete irische Selbständigkeit konnte den Briten nicht grundsätzlich unrecht sein, so daß sie dem irischen Befreiungskampf gar nicht die gesamte Wucht ihrer Staatsmacht entgegensetzten, sondern mit der Unterstützung der Protestanten und der verdeckten Entsendung der "Black and Tans" (Söldnern, die mit der dieser Sorte inoffizieller Soldaten eigenen Rücksichtslosigkeit und Brutalität für das notwendige Maß an Terror sorgten, das auf einen Sieg gegen die Republikaner gar nicht berechnet war) die Grenzen irischer Souveränität - im geographischen wie im politischen Sinne - augenfällig und blutig demonstrierte.

Außerdem genügte dieser Einsatz immerhin, um den Traum von der irischen Souveränität nur teilweise wahr werden zu lassen und mit der Aufrechterhaltung der britischen Herrschaft in den nördlichen Grafschaften für dauernde Präsenz auf der Insel zu sorgen. Die frischgebackene Republik war so mit einem Dauerziel versehen, das nur in Abhängigkeit von und in Verhandlungen mit den "Unterdrückern der irischen Freiheit" zu verfolgen war.

Mit der Einrichtung der sechs Provinzen im Norden versorgte sich der britische Staat darüber hinaus mit einem Rechtstitel, der bis heute die Rechtfertigung des Kriegs darstellt, den die Briten - mit mehr oder weniger Resonanz in der Weltöffentlichkeit - seit Jahrzehnten führen - das Selbstbestimmungsrecht der britischen Bürger in Nordirland:

"Solange das nordirische Parlament nicht anders entscheidet, bleibt Nordirland Teil des United Kingdom." (Zit. nach: Manfred P. Tieger, Irland, München 1984, S. 55)

Bei diesem Titel will niemandem auffallen, daß die beanspruchte Zuständigkeit für die dortigen Leute sich nur daraus herleitet, daß der Staat seine Verfügung über diese Figuren nicht aufgibt, weil er sie als seine Bürger beansprucht und behandelt. Eine Tautologie, für die nur eines spricht: die Gewalt, die sie durchsetzt. An den Russen würde der menschenrechtlich geschulte, und daher so parteiische, Verstand des Bürgers sofort bemerkt haben wollen, daß er dene eine derartige Begründung für Armenien oder Litauen nie und nimmer abkaufen könnte. Im Falle der befreundeten Macht, die diese "Logik" gewaltsam praktiziert, kommen ihm die Tränen, weshalb er nur an den Menschen im Protestanten denken will, der sich ein Leben unter irisch-katholischer Herrschaft nicht vorstellen kann:

"Sie (die IRA) kämpft gegen die Protestanten des Nordens, die sie gewinnen müßte, wenn ihr Kampf je Aussicht auf Erfolg haben sollte. Der Aufruf an die Protestanten, sich doch endlich als 'Iren zu fühlen', ist zu wenig, um deren Abneigung gegen ein Aufgehen in ein wiedervereinigtes, mehrheitlich katholisches Irland zu überwinden." (Süddeutsche Zeitung, 19.8.1986)

Die Praktizierung ihres Selbstbestimmungsrechts läßt die Protestanten im Falle einer Verwirklichung eines vollständigen irischen Freistaats nichts Gutes ahnen. Die Behandlung einer Minderheit, die zum volksfremden Bestandteil der Bevölkerung deklariert wird, erscheint ihnen offensichtlich als das selbstverständlichste von der Welt. Und das mit Recht. Denn wo allein die Zustimmung zum Staat verlangt ist, ist Loyalität eben der entscheidende Gesichtspunkt, der die Staatsbürger in gute und keine einteilt und sie in Nordirland in "Loyalists" bzw. "Unionists" einerseits und in "Papisten" andererseits sortiert. Dabei ist es ja gar nicht der Bürger, der seine Haltung von der Religionszugehörigkeit abhängig macht, der hat auch in Nordirland erst mal andere Sorgen. Es ist - wie im Süden auch - der Staat, der die Religionszugehörigkeit zum Kriterium der Loyalität macht, seine Untertanen dementsprechend sortiert und sich die Loyalität der richtigen Christen sichert. Das beginnt bei der Vergabe von Arbeitsplätzen, von der ja immerhin die Existenz der Leute abhängt, geht über die schulische Bildung, bis hin zur sehr absichtsvollen Benachteiligung beim Stimmrecht. Lauter Maßnahmen, die nur auf eines abzielen: die der Illoyalität verdächtigten Katholiken von jedem Einfluß auf die Ausübung der Herrschaft fernzuhalten.

"No Surrender!"

Der bei England verbliebene Teil Irlands stand von Anfang an unter de Ausnahmerecht des Special Powers Act. Für Großbritannien waren die protestantischen Iren Bannerträger der Souveränität des Königsreichs über Irland. Und niemand verstand das so gut wie die so geehrten: Der Union Jack dürfte in keinem Teil des britischen Reichs je auffälliger vertreten gewesen sein als in den protestantischen Bezirken Belfasts; Gehwege sind in den britischen Farben gehalten, und zu den traditionellen Gedenkmärschen, die auch auf der protestantischen Seite immer irgendein Gemetzel zum Inhalt haben, schneidern sich die feistbigotten Herrenmenschen Ulsters die britische Flagge um Wanst und Hut. Gleichzeitig sind solche Umzüge fast immer eine Gelegenheit für die RUC (Royal Ulster Constabulary, die paramilitärische Polizei Nordirlands) und das britische Militär, ihrer Ordnungsaufgabe gerecht zu werden. Diese religiös-politischen Prozessionen sind nämlich als Provokation der Katholen geplant, so daß Schlägereien ins Konzept passen; wenn die sich mal nicht provozieren lassen und in ihren Häusern bleiben, dann holen sie sie zum Prügeln raus und zünden ihnen die Bude auch so an.

1972, nachdem die britische Armee in Derry in eine katholische Kundgebung geballert und 13 Leute erschossen hat (Bloody Sunday), haben die Konservativen für Rechtsstaatlichkeit gesorgt und den administrativen SPA durch parlamentarisch verabschiedete Notstandsgesetze (Emergency Provisions Act) ersetzt und 1974 um eine umfangreiche Terroristengesetzgebung (PTA: Prevention of Terrorism Act) ergänzt so daß schon drei Personen auf der Straße eine zu verhaftende Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellen können. Und da man bei Terrorismusverdacht nie vorsichtig genug sein kann, gelten für Terroristen die berühmten britischen Rechtsgrundsätze mal leicht modifiziert. So ist im Falle schwerer Straftaten ein Strafverfahren ohne Geschworene vorgesehen, um "Einschüchterung von Geschworenen" und "parteiische Schuldsprüche" zu verhindern. Seit den 80ern ist die Kronzeugenregelung ("supergrass", "converted terrorists") sehr erfolgreich gewesen:

"Den 'Super Grass', den großen Petzern, verdankte die Polizei 1982 und 1983 über 30 Festnahmen und die Aushebung von 96 Waffenlagern." (Süddeutsche Zeitung, 29.10.86)

"Shoot to kill"

Für die britischen Spezialeinheiten (SAS) ist Nordirland ein ständig zur Verfügung stehendes Trainings- und Erprobungsgelände; gezielt wird nicht auf Pappkameraden:

"Schon 1969 operierten SAS-Soldaten in Ulster, aber es dauerte bis 1976, bis Harold Wilson ihre Anwesenheit bekanntgab... Die SAS-Soldaten wurden ausgebildet, auf Terroristen zu schießen, auch wenn diese sich offensichtlich ergaben." (Anthony Sampson, The Changing Arratomy Of Britain", 1984 - unter der Überschrift "Lizenz zum Töten in Friedenszeiten", S. 286)

Und geschossen wird scharf und seit jeher mit allem, was Ordnungskräfte ja auch hierzulande für harmlos und nützlich erachten im Umgang mit Staatsgegnern: Der Bloody Sunday 1984 kostete in West-Belfast Menschenleben - im Einsatz: Gummigeschosse und chemische Keule. Die zur Strecke gebrachten dürfen dann in schöner Regelmäßigkeit antreten, um den Beweis der Notwendigkeit ihrer Hinrichtung anzutreten, wie neulich anläßlich der drei von SAS-Leuten niedergeschossenen IRA-Aktivisten in Gibraltar:

"Die Verluste hätten dreistellig ausfallen können. Zweifellos ist damit ein schrecklicher terroristischer Anschlag verhindert worden." (Innenminister Geoffrey Howe, The Guardian Weekly, 13.3.88)

Und die Opposition Ihrer Majestät beeilt sich am Triumph des Rechtstaats teilzuhaben:

"George Robertson, der außenpolitische Sprecher der Labourparty, beglückwünschte die Sicherheitskräfte und erklärte, daß der Vorfall zeige, welch 'zynische Gewalttätigkeiten die IRA seit Enniskillen rechtfertige'. Die einzige Lehre, die man daraus ziehen könne, sei, daß man 'mit diesen Leutenfertig werden muß'." (The Guardian Weekly, 13.3.88)

Eine Woche später kommen dann dem Exponenten der Linken in der Labourparty, Eric Heffer, doch Bedenken: "Todesstrafe ohne Verhandlung", lautet sein Vorwurf an die Regierung, weil ihm und seinem Kollegen Robertson die Beweise fehlen dafür, daß die Terroristen wirklich diesen "schrecklichen Anschlag" vorgehabt haben, weshalb Robertson die Regierung mit kritischen Fragen in Schwierigkeiten bringen will:

"Kann der Außenminister zusichern, daß die Erschossenen gewarnt worden sind, bevor das Feuer eröffnet worden ist, und kann er sagen, ob es irgendeine Untersuchung der Umstände der Schießerei gibt?" (The Guardian Weekly, 20.3.1988)

Gerade weil klar geworden ist, daß die Erschossenen nicht an einer Warnung, sondern an den Kugeln der SAS gestorben sind, die ja bloß deshalb so sicher und zahlreich ihre Ziele gefunden haben, weil die Schützen nicht lange gefragt haben, ob die auserkorenen Opfer Waffen tragen - am Ende hätten sie sie dann ja gar nicht, weil erwiesenermaßen unbewaffnet, erschießen, sondern nur verhaften dürfen:

"Jene drei waren unbewaffnet. Sie hätten festgenommen werden müssen. So haben Sie Märtyrer geschaffen." (Kevin McNamara, Labour, nach: Süddeutsche Zeitung, 30.4./1.5.)

Weil also klar ist, daß die SAS die IRA-Männer tagelang beschattet hat, um sie dann abzuknallen, möchte Herr Robertson von der oppositionellen Arbeiterpartei eine "Untersuchung der Umstände" durch den Herrn Außenminister einrichten lassen. Warum auch sollte ausgerechnet in der Heimat des Parlamentarismus unbekannt geblieben sein, daß Untersuchungsausschüsse nicht die Aufklärung der inkriminierten Angelegenheit bezwecken, sondern den Nachweis ihrer Unumgänglichkeit. Es braucht ja auch bloß rauszukommen, daß die Terroristenjäger ihre Ziele gar nicht warnen konnten, weil sie sonst Gefahr gelaufen wären, selbst erschossen zu werden und das Bedürfnis des Oppositionspolitikers nach rechtsstaatlich ordnungsgemäßer Terroristenhatz ist zufriedengestellt.

Einen anderen als den Ausnahmezustand hat es in Irland also nie gegeben. Er ist dort die Normalität. Es gibt keine Familie, die nicht von irgendeinem Mitglied erzählen kann, das zumindest halb zu Tode geprügelt oder den Kugeln der Gegenseite nur um Haaresbreite entronnen ist. Schlägereien, Schikanen seitens der Bullen, Schießereien, brennende Häuser gehören zum alltäglichen Erfahrungshorizont der nordirischen Jugend zumindest in den Zentren der Auseinandersetzung, so daß schon Kinder den Kampf gegen die andere Seite als eine Art Räuber- und Gendarm-Spiel praktizieren, ohne fürchten zu müssen, für übertriebene Brutalität getadelt zu werden. Im Gegenteil: Das Rechtsbewußtsein ist so ausgeprägt - und viel gehört da ja nicht dazu -, daß die Gewalt selbst im Spiel keine Grenzen kennt.

Für die uneingeschränkte Geltung britischen Rechts im nördlichen Teil Irlands richtet Großbritannien nicht nur lauter Sondergesetze ein und läßt die Bevölkerung dort dafür zahlen und bluten; Großbritannien läßt sich diesen Rechtsanspruch auch einiges kosten:

"Die Wirtschaft Nordirlands wird nur noch durch Schecks aus London vor dem Zusammenbruch bewahrt." (Manfred P. Tieger, Irland, München 1984, S. 56)

Und die belaufen sich auf ca. 1 Mrd. Pfund pro Jahr...

II. Die Republik Irland: Kontrollierte Souveränität

Hauptsache irisch!

Sehr anspruchsvoll ist die republikanische Bewegung nicht gewesen. Mit einer Beseitigung der Not hatte sie nicht etwa wenig Erfolg, sie hatte sie gar nicht im Sinn, weil es ihr immer um Höheres gegangen ist:

"Mindestens 800000 Menschen, etwa ein Viertel der Bevölkerung der Republik, werden in Irland zu den Armen gerechnet. 400000 sind 'on the dole' d.h. abhängig von der Wohlfahrt, mit manchmal nur 3 Pfund in der Woche - bei weitem nicht genug für eine Familie mit mehreren Kindern." (ebenda, S. 26)

Nicht mal für die katholische Minderheit in Ulster ist die Republik eine Alternative, zumindest nicht für die, die allen Grund hätten, ihre Heimat zu verlassen, und zwar nicht nur wegen der Bedrohung:

"Sie sind, wo sie eigentlich niemand mehr haben wollte, und bleiben trotz persönlicher Bedrohung zum größten Teil in ihrer Heimat: Die etwa eine halbe Million zählende Minderheit der Katholiken in Nordirland."

Ein paar Zeilen weiter dementiert der Autor begriffslos, daß es nicht bloß die Verrücktheit der Heimatliebe ist, die die Iren in Ulster hält. Er gibt zu erkennen, daß der negative Zusammenhang mit dem Boden, auf dem man lebt, (die Unmöglichkeit, anderswo ein besseres Auskommen zu finden) die ganze Grundlage der Heimatliebe - und nicht nur der Iren - ist:

"Die wenigen, gut geschulten und beruflich Ausgebildeten emigrieren, während die anderen, weniger qualifizierten, die Schlangen der Arbeitslosengeld-Empfänger verlängern und das Nachwuchsreservoir für die IRA bilden." (ebenda, S. 60)

Daß sie sich mit der Errichtung des Freistaats zufrieden geben wollten, dokumentierten die Gründerväter - alte IRA-Kämpfer - schon im Verfassungs- und Rechtssystem, wo sie sich gar nicht die Mühe gaben, einen Gegensatz zur alten Besatzungsmacht aufzumachen:

"Verfassung ... basiert auf einer Mischung englischer und amerikanischer Prinzipien ... Das Rechtswesen ist unabhängig und entspricht im wesentlichen dem englischen Recht." (ebenda, S. 70)

Hauptsache, der ganze Krempel trägt die Unterschrift echter Iren. Einen Unterschied gibt es allerdings: Den Umweg, sich per proletarischer Empörung über kapitalistische Ausbeutung eine staatstreue Opposition zuzulegen, haben die Iren sich gespart:

"Es gibt zwei große Parteien in Irland. Beide sind konservativ - die eine etwas mehr als die andere ... Fianna Fail ('Soldaten des Schicksals') und Fine Gael ('Familie der Iren') haben den gleichen Ursprung: Sinn Fein." (ebenda, S. 72)

Schon die Namenswahl verspricht nichts außer den nationalen Zwangszusammenhang, wobei aus dem Zwang gar kein Geheimnis gemacht wird. Der Parteienstreit geht dann um ganz aparte Dinge. Die Fine Gael will das Scheidungsverbot und das Gebot natürlicher Familienplanung aus der Verfassung streichen, während Fianna Fail beide drin behalten will. Auch sonst haben die republikanischen Parteien keine Hemmungen, ihr Wahlvieh ohne Umschweife für dumm zu verkaufen. So war der Wahlschlager von Fine Gael im Jahre 1981, "jeder Hausfrau 9,6 Pfund auszuzahlen, indem man den entsprechenden Steuervorteil des arbeitenden Ehemannes kürzt" (ebenda, S. 78). Die Iren ihrerseits geben sich auch lieber dem Spiel und dem Suff hin als der Illusion, mit ihrer Stimme würde mehr für sie herausspringen als eine Gelegenheit zum Wetten und für ein paar Guiness mehr:

"Wahlen... sind wie Pferderennen... Getrunken wird auch hinterher noch reichlich, sei es, um den Sieger zu feiern oder um die Erinnerung an den Verlierer zu begraben." (ebenda, S. 78)

Das typisch Irische daran ist wiederum, daß es die Briten genauso machen und die Kollegen vom Kontinent auch nicht anders.

Souveränität per Staatsvertrag

Die Gründung des Freistaats Eire 1922 beruht auf einem Vertrag mit Großbritannien. Die Kämpfe der Iren gegen die britische Herrschaft hatten zwar nichts anderes als einen irischen Freistaat zum Ziel, sein Grund waren sie nicht. Mit dem Vertrag verblieb Irland im Commonwealth, und neben dem vertraglichen Verzicht auf Ulster war die Verpflichtung des irischen Premierministers, dem britischen König den Treueeid zu leisten, bleibender Stachel im Fleisch des irischen Nationalstolzes. Daß der Freistaat nicht anders als in Übereinkunft mit den Unterdrückern zu haben war, ist der Mehrzahl der irischen Nationalisten immer klar gewesen. Die Kämpfe nach dem Ersten Weltkrieg hatten ihre hauptsächliche Grundlage in der Enttäuschung darüber, daß Großbritannien die Bereitschaft der Iren, "sich zu Zehntausenden in die Armee ein(zu)schreiben und für England (zu) kämpfen" (ebenda, S.48), nicht mit der Realisierung irischer Selbstverwaltung entlohnt hatte. Wo jedoch Dienstbarkeit für eine andere Souveränität das Mittel der Souveränität sein soll, kommt auch nichts anderes heraus als eine dienstbare Souveränität. Und deren Einrichtung ist allemal Sache dessen, der sie gewährt.

Staatssprachen sind Englisch und Irisch, welches von 97% der Bevölkerung gar nicht verwendet wird, weil kaum ein Fünftel der Nation die Nationalsprache, die doch sonst einen entscheidenden identitätsstiftenden Beitrag zur nationalen Einheit leisten soll, halbwegs beherrscht. Die Engländer haben in diesem Fall gar nicht mal nur Gewalt anvenden müssen; die bloße Not genügte, den armen Iren das Erlernen der fremden und das Vergessen der ursprünglichen Sprache als materielles Interesse geboten erscheinen zu lassen:

"Als eine weitere Folge der Hungersnot (von 1848) hielten Eltern ihre Kinder an, Englisch zu lernen, damit sie eine Chance zur Auswanderung hatten. Gälisch als Hauptsprache verschwand von da an in Irland." (ebenda S. 46)

Deshalb braucht es heute einigen "künstlichen" Aufwand, um die "natürliche" Muttersprache der Iren überhaupt am Leben zu erhalten:

"Viel Grün und viel Harfe, die Nationalfarbe und das Nationalsymbol, und der Erhalt der irisch-gälischen Sprache sind ebenfalls Ausdruck der Bemühungen um die nationale Identität, vor allem im Gegensatz zu England." (ebenda, S. 18)

So reflektiert die verordnete Zweisprachigkeit sowohl den staatlichen Materialismus der Dienstbarkeit gegenüber Großbritannien wie auch den nationalen Idealismus der Souveränität.

Diesem Widerspruch verdankt sich die irische Politik - und sie besteht in kaum etwas anderem; während des Zweiten Weltkriegs wahrte es - im Gegensatz zu Ulster - "strikte Neutralität", konnte sich jedoch dem englischen Drängen, seine Häfen für englische Kriegsschiffe zur Verfügung zu stellen, nicht verweigern. Die Verfassung von 1949 erhebt Anspruch auf das britische Nordirland, und gerade deshalb ist es irische Außenpolitik allemal gewesen, auf Mitsprache in Nordirland zu drängen.

Der gemeinsame Feind

Seit dem Abkommen von Hillsborough (1985) sind Vertreter der Republik in einem "Ständigen Sekretariat" mit Sitz in Belfast vertreten, wo über Sicherheitsfragen, Verbot der Sinn Fein, Maßnahmen der Polizei von Nord- und Südirland gegen die IRA usw. beraten wird. Daß solche Zugeständnisse im wesentlichen darin bestehen, daß die Republik in der Terroristenbekämpfung englischem Beistands- und Hilfeersuchen nachkommt, ist indes kein Widerspruch. Schließlich torpedieren die IRA-Kämpfer aus irischer Staatssicht das Bemühen, über ein Arrangement mit Großbritannien das Verfassungsziel zu erreichen. Die IRA ist deshalb nicht nur im Norden, sondern auch im Süden verboten. Als Margaret Thatcher die hungerstreikenden IRA-Häftlinge souverän verhungern ließ, um keine Schwäche zu zeigen im "Kampf gegen den Terrorismus", anstatt ihrem Verlangen, als Kriegsgefangene anerkannt zu werden, nachzugeben, hätte sie sich - wenn das nicht unter ihrer Würde gewesen wäre - glatt auf die IRA-Politik der Irischen Republik berufen können:

"Die Regierung des Freistaates geht (im Jahe 1922!) unnachgiebig und mit größerer Härte als selbst die Engländer gegen die ehemaligen Kampfgenossen vor: 1300 Republikaner kommen ins Gefängnis, 77 werden exekutiert, und wer einen Hungerstreik beginnt, den läßt man sterben." (ebenda, S. 50)

Auf den gescheiterten Versuch, die Eiserne Lady in Brighton mit einer gewaltigen Bombe auf ihre Bruchfestigkeit zu testen, reagierte der irische Premier nicht anders als Frau Thatcher selbst:

"Das Volk ist sich völlig im klaren darüber, daß die IRA Gesetzlose und Fremde auf diesen Inseln sind... Ereignisse dieser Art demonstrieren, daß es einen gemeinsamen Feind gibt - den Terroristen - unser aller Feind. " (Irland-Premier Fitzgerald in: World and Press, 11/84)

Der Erfolg der Zusammenarbeit in Polizei- und Justizangelegenheiten - "Wenn wir ihre Hilfe wollen, dann kriegen wir sie auch!" (Ein RUC-Offizier) -: das Aufbringen von waffenschmuggelnden Frachtern, das Durchsuchen von 50.000 Häusern in Irland durch irische Sicherheitskräfte und die Auslieferung von Terroristen an England, noch bevor die USA sich zu diesem Schritt bequemen ließen.

Auch ansonsten hält die Republik mit der britischen Politik Schritt. Mit Großbritannien stellten sie ihren ersten, vergeblichen Antrag auf Aufnahme in die EG, mit Großbritannien sind sie dann 1975 eingetreten; ein Schritt, der sie 1979 durch den Eintritt in das EWS immerhin aus der Währungsunion mit dem britischen Pfund befreite, das bis dahin auch in Irland gültiges Zahlungsmittel und mit dem irischen Pfund gekoppelt war. Neben "Irisch Moos" und "Irischer Frühling" ist irische Butter aus Milch von irischen Klee futternden glücklichen Kühen zum Exportschlager geworden. Besonders seit Tschnernobyl, weil bundesdeutsche Gesundheitstanten sich offensichtlich lieber von nichtrussischer Radioaktivität, mit der die Irische See von den Briten gründlich belastet wird, bestrahlen lassen. Einen genuin irischen Beitrag zur Europäischen Gemeinschaft haben die Iren auch schon geleistet: Sie wollen dem europäischen Milchsee zu Leibe rücken - als trinkfeste Naturen haben sie ein Verfahren entwickelt, die Milch zu 85%igem Alkohol zu destillieren. Die Weigerung, in die NATO einzutreten, hält die Republik sich als ideelles Pfand der Wiedervereinigung, nicht ohne die feste Verbundenheit mit dem Westen dauernd zu betonen.

III. Die IRA: Trotz Terror - Sinn fein!

Für Gott und Vaterland

"IRA-Männer waren immer Kriminelle und Helden, Mörder und Märtyrer zugleich. Sie wollten schließlich nichts anderes als die Politiker in Dublin: Die Befreiung der Insel von englischer Herrschaft und die Vereinigung des Südens mit dem Norden... Irische Regierungen haben IRA Männer gejagt, gehenkt, erschossen und eingesperrt. Aber wenn diese tot waren, konnten auch die Regierungen nicht umhin, sich von der Vaterlandsliebe und dem Mut dieser Männer zu verbeugen." (Süddeutsche Zeitung, 19.8.1986)

Ein sehr verräterisches Nichtumhinkönnen! Entlarvt es doch alle "Verurteilung des Terrors" als eine sehr relative Angelegenheit, alle "Trauer um die Opfer" als Meuchelei und alles Gerede von "tragischer Verwicklung" als sehr prinzipielles Einverständnis mit den als Notwendigkeiten akzeptierten Zwecken der herrschenden Politik in Nordirland. Ob ein Bombenattentat vom "Mut dieser Männer" zeugt oder nichts anderes als ein "feiger und hinterhältiger Anschlag" ist; ob jemand, der mit Bomben, Granaten und Gewehren Leute ins Jenseits befördert, ein "krimineller Mörder" oder ein "Held und Märtyrer" ist, darüber entscheidet allein, ob der attestierende Beobachter befindet, daß der Täter all das aus Vaterlandsliebe bzw. für eine ordnungsgemäße, sprich: befreundete Regierung getan hat, oder ob er ihm eben diese Vaterlandsliebe abspricht. Bei den "Todeskommandos Gadafis" käme wohl außerhalb Libyens keiner auf die Idee, dem Täter Vaterlandsliebe und Übereinstimmung mit der Regierung in Tripolis auch noch zugute zu halten. Im Falle der IRA jedoch hält sich außerhalb Großbritanniens die Abscheu in Grenzen und die Süddeutsche Zeitung etwa will, wenn sie in ihrer Terrorismus-Reihe die IRA bespricht, nichts gegen den Nationalismus und die Religion dieses Vereins gesagt haben. Diese famosen Beweggründe will sie schon gleich gar nicht als Grund für deren Terror behauptet haben, wenn sie ihren Artikel folgendermaßen überschreibt:

"Der fanatische Nationalismus der IRA

Sonntags in die Kirche -

wochentags zum Bomben

'Im Namen Irlands morden sie, aber im Namen Gottes verurteilen sie den Schwangerschaftsabbruch'"

(Süddeutsche Zeitung, 19.8.1986)

Das Bomben soll sich wohl aus dem "Fanatismus" erklären und im Gegensatz zum Kirchgang stehen, wo doch der bombende Ire die Heilige Jungfrau bzw. den heiligen St. Patrick, der ganz speziell für die irische Sache verantwortlich zeichnet, um nichts Geringeres als um Fürbitte beim Höchsten für ein gutes Gelingen anfleht. Und zwischen Briten umlegen und Abtreibung verurteilen, sieht ein Ire genauso wenig einen Widerspruch wie ein deutscher Pfaffe, der der Helden der zwei Kriege gedenkt. Und es ist auch keiner. Ein Schwangerschaftsabbruch ist immerhin Mord an ungeborenem irischen Leben. Und zu Helden sollen sich ja die Nichtabgetriebenen noch allemal mausern. Daß die IRA und ihre politische Organisation, die Sinn Fein, nie etwas anderes als die Befreiung Irlands getrieben hat, verrät schon der Name dieser Organisation. Sinn Fein heißt "Wir selbst allein" - und das auf original gälisch. Damit die, gegen die's geht, das auch verstehen, haben die Iren den Spruch auch übersetzt: "Brits out!" Die irische Unabhängigkeitserklärung macht deutlich, daß mit ihr die kämpfenden Iren sich nichts als eben die Unabhängigkeit ihres Staates versprochen haben:

"Unter Berufung auf dieses Grundrecht (das Recht auf nationale Freiheit und Selbstbestimmung), für das wir vor den Augen der ganzen Welt wieder einmal die Waffen sprechen lassen, erklären wir hiermit die irische Republik zum souveränen unabhängigen Staat; und wir geben unser Leben und das unserer Waffenbrüder hin für die Verteidigung seiner Freiheit, Wohlfahrt und steigende Anerkennung unter allen Nationen... In dieser heiligsten Stunde muß die irische Nation sich des großartigen Schicksals, für das sie bestimmt ist, würdig erweisen - durch ihre Tapferkeit, Disziplin und durch die Bereitschaft ihrer Kinder, sich für das Allgemeinwohl aufzuopfern." (Aus der Unabhängigkeitserklärung von 1922)

Freiheit kann hier bestimmt nicht mit der Vorstellung verwechselt werden, daß da ein Subjekt frei seine Zwecke setzen könne, da von denen mit der Verpfändung des Lebens ja recht total Abstand genommen wird. Es geht von vornherein um die Einrichtung eines bürgerlichen Staats, für dessen Wohlfahrt und Anerkennung die Bürger da zu sein haben.

"Fanatismus" ist darum auch nicht die Übertreibung des Nationalismus, sondern seine notwendige Konsequenz. Nur die vollständige Hingabe an diesen abstrakten, weil von allen individuellen Zielsetzungen losgelösten und ihnen entgegenstehenden Zweck schafft den tapferen Soldaten wie auch den IRA-Kämpfer, der auf eigenes ebensowenig wie auf fremdes Leben Rücksicht nimmt, sondern beide als Einsatz für den Sieg der Freiheit - seines Staates nämlich - in die Waagschale wirft.

Die IRA betreibt nämlich ein Wiedervereinigungsprogramm von unten, dem jeder Materialismus fremd ist. Nicht nur derer, die es verfolgen, oder derjenigen, für die es - idealiter zumindest - verfolgt wird. Es fehlt diesem Programm sogar der politische Materialismus, der auf den Erfolg dieses Programms setzt:

"Wir führen hier in einer Kolonie einen nationalen Befreiungskampf... Wir unterstützen die IRA politisch, denn am Ende wird der Erfolg unseres Freiheitskampfes von dem militärischen Druck abhängen, welchen die IRA auf die britische Kolonialmacht auszuüben vermag... Wir schaffen es nicht, die Briten aus dem Land zu werfen, aber London weiß auch, daß es die IRA nicht besiegen kann... Wir kämpfen mit dem Stimmzettel in der einen und dem Armalite-Gewehr in der anderen Hand." (Gerry Adams, Präsident von Sinn Fein, der politischen Organisation der IRA, Süddeutsche Zeitung, 19.8.1986)

"Die Organisation muß akzeptieren, daß es nach 65 Jahren republikanischen Kampfes nicht gelungen ist, die Mehrheit der irischen Bevölkerung von der Bedeuiung der republikanischen Bewegung zu überzeugen " (Gerry Adams, Süddeutsche Zeitung, 4.11.1986)

Zu diesem Realismus der Erfolglosigkeit gehört der religiöse Eifer dieser Bewegung. In der Religion erhält ihr Kampf zumindest die höhere Weihe und den Sinn, die die Realität ihm verwehrt. Darum "bombt die IRA sonntags nie", und weil sie das tut und so ihren Herrn ehrt, klagt so mancher irische Pfaffe, der die Gewalt der IRA verurteilt, beim Begräbnis eines abgeschossenen Kämpfers das perfide Albion an, das einem Iren (= Katholiken) keine Gerechtigkeit zuteil werden läßt.

Bomben ins Weltgewissen

Die sehr einseitige Abhängigkeit des Schicksals Nordirlands ist den Freiheitskämpfern so selbstverständlich, daß sie ihren Kampf (ähnlich wie die Politiker in Dublin ihre Politik) von vornherein ins Verhältnis setzen zur "Kolonialmacht", gegen die er sich richtet. Daß die nationale Selbstregierung nicht auf militärischem Weg erreicht werden kann, ist jedem IRA-Kämpfer klar. Die militärische Aktion hat keinen anderen Zweck, als dem Anspruch auf Anerkennung voller irischer Selbständigkeit gewaltsam Nachdruck zu verleihen.

Eine militärische Strategie verfolgt die IRA nämlich nicht. Das hieße ja glatt, sie hätte eine Vorstellung davon, wie sie mit ihren 300 Aktiven und 3000-5000 aktiven Sympathisanten die Briten aus dem Lande vertreiben könnte, die ihrerseits ihre Truppenstärke nach Maßgabe der Schwierigkeiten, die die RUC mit der Ordnung in Nordirland hat, kalkuliert. Das, was die IRA Strategie nennt, besteht allein darin zu beweisen, daß es sie und damit den irischen Widerstand noch gibt: "Wir halten Irland in den Schlagzeilen der Welt", verkündet sie in ihrem Statement zu einem ihrer letzten Anschläge und wertet ihn als "Prestigegewinn" (Süddeutsche Zeitung, 8.3.1988)

Dieser Existenzbeweis besteht zum einen darin, daß man den Namen der IRA an irischen Mauern häufiger liest als Parolen, die verraten, was sie will, welche jedoch auch nicht mehr sagen: "Ireland unfree shall never be at peace". Das heißt auch: Immer dann, wenn es wieder einen erwischt hat, beim Begräbnis uniformiert und bewaffnet, dem Kameraden mit militärischem Salut die letzte Ehre zu erweisen, so daß der Tote selbst Beweis der Existenz des Kampfes wie auch Ansporn zu seiner Fortführung ist. Auch der Hungerstreik der 10 inhaftierten IRA-ler im Jahre 1981, den die britische Premierministerin bis zum bitteren Ende der Gefangenen durchgestanden hat, ging um die Anerkennung als Kriegsgefangene durch den Feind, der den ehrenhaften Kampf einfach als Terrorismus wertet und behandelt.

Und schließlich die "legitimen Ziele" des Kampfes, der sich eben auf Attentate gegen Repräsentanten Großbritanniens beschränkt. Dabei gilt, je höher der Rang, desto größer die Beweiskraft für die Stärke der IRA. Den Spitzenplatz nimmt dabei wohl die Verewigung des letzten indischen Vizekönigs und Hobbyfischers Mountbatten durch eine in einer Hummerreuse plazierte Bombe ein. Auch der mißglückte Bombenanschlag auf die im Hotel in Brighton versammelt schlafende konservative Parteiführung, war der IRA ein Beweis dafür, daß Frau Thatcher oft Glück haben, die IRA dagegen nur einmal treffen müsse. Im übrigen jedoch hat der erfolgreiche Kampf der Gegenseite (Aufrüstung von RUC, Entsendung der shoot-to-kill-SAS, die Kronzeugenregelung und weitere Erleichterungen der Rechtsfindung) dazu geführt, daß die IRA laufend Aktivisten verloren hat und an die nicht bloß legitimen, sondern auch imposanten Ziele immer schwerer ranzukommen ist.

Deshalb hat die IRA einerseits die "legitimen Ziele" ausgedehnt, andererseits in den letzten Jahren ihren Kampf ins Ausland verlegt. Zu den erlaubten Zielen gehören mittlerweile neben den politischen und militärischen Repräsentanten des britischen Imperialismus auch Iren, die selbige mit Milch oder Brot beliefern:

"Jeder Ire ist zu einem 'legitimen Ziel' von Rache- und Vergeltungsakten erklärt worden,der dem 'Feind' hilft, der britischen Armee und der Polizei in Nordirland. 'Bedauerlich, daß es so sein muß, aber so ist das nun mal mit Kollaborateuren im Krieg', sagt Gerry Adams lakonisch dazu." (Süddeutsche Zeitung, 19.8.1986)

Bullits Or Ballots?

Der Fortschritt, der sich bei diesem Kampf, der nichts anderes als den Beweis seiner Existenz zum Inhalt hat, immer wieder einstellt, ist der Streit darüber, ob er dem Ziel, durch eben diesen Beweis dem Feind ein Stück Anerkennung abzutrotzen, noch nützt. Ein Streit, der in dem Maße zunimmt, in dem der Kampf der "Treuen" einerseits aussichtsloser, die Chance der "Verräter" auf ein Zipfelchen Verhandlungskompromiß wahrscheinlicher ist. Die Geschichte des irischen Freiheitskampfes ist daher eine Geschichte der Spaltungen, ein erbitterter Streit, darum, was vorzuziehen sei: Stimmzettel oder Gewehr oder beides, ein dauerndes Hin und Her von Treue und Verrat:

"Nach dem Vertragsschluß mit London spaltete sich die IRA, begann der radikale Flügel sofort einen Bürgerkrieg, der bis 1923 dauerte... Nach der Niederlage der Militanten war Ruhe bis 1939. Die Rest-IRA meuterte gegen ihren eigenen Nationalhelden de Valera, der als Präsident eine vorsichtige Politik gegenüber Großbritannien betrieb." 1 964 wollte Cathal Goulding, nach dem Scheitern der "Operation Ernte" (einer Bombenphase) in den 50er Jahren, die "IRA zur Vorhut einer sozialistischen Revolution machen, den sektiererischen Gegensatz zwischen Katholiken und Protestanten aufheben sowie die Arbeiter beider Konfessionen im Kampf für die Errichtung einer irischen 'Bauern- und Arbeiterrepublik' vereinen. Er suchte die politische statt der terroristischen Aktion... Während die marxistische Official IRA zur Bedeutungslosigkeit herabsank und in einer neuen Abspaltung am linken Rand die aus höchstens 15 Mann bestehende INLA (Irish National Liberation Army) entstand, entwickelten sich die Provisionals allmählich zu der aktiven Organisation, die sie heute sind. Gerry Adams versucht nun politische und die terroristischen Aktionen miteinander zu vereinbaren." (Süddeutsche Zeitung, 19.8.1986)

Was hier begriffslos in einem Wust von Militanz, Radikalismus, Sektiererei, Sozialismus, Marxismus, Terrorismus und Politik daherkommt, ist ein Streit von Fanatikern einer Nation, von deren Souveränität sich keine Macht der Welt etwas verspricht, die es ihr - wie Israel - erlauben würde, das Sicherheitsinteresse der Supermacht als eigenes nationales Interesse zu exerzieren. Darum ist der irische Nationalismus auch zum Mißerfolg verdammt und richtet sich darauf ein, daß er seinen Kampf als den aussichtslosen, der er ist, führt oder sich kompromittiert mit der Macht, die ihm im Wege steht, um so die kontrollierte Souveränität zu erreichen, die Großbritarinien ins Konzept paßt. Genau o stehen beide Seiten als Verräter der Sache da, die beide radikal vertreten. Über der Frage, ob die irische Unabhängigkeit als Sieg von (immerhin drei Viertel) Irland (wenn auch im Commonwealth) festzuhalten und zu feiern oder als Verrat am ganzen Irland zu bekämpfen sei, entbrannte gar kein Streit, sondern ein erbitterter Bürgerkrieg, der die Abspaltung Fianna Fails von Sinn Fein wie auch das Verbot der IRA zur Folge hatte.

Seit 1977 gibt's den Streit um die Auslegung des Mottos "In der einen Hand den Stimmzettel, in der andern das Maschinengewehr", weil die IRA selbst ihr politisches Standbein in Form der Sinn Fein in die Welt gesetzt hatte, welche sich 1985 bei den Kommunalwahlen beteiligte und 11,8% der Stimmen einheimste (= ein Drittel der katholischen Stimmen). Der Grund für diesen Wahlerfolg besteht weniger darin, daß damit die Katholiken zu einem großen Prozentsatz hinter der IRA stünden, sondern darin, daß die Politiker von Sinn Fein sich als wahre Verwalter kommunaler Angelegenheiten in den Slums bewähren, weil sich sonst eh niemand darum kümmert. Auch nicht die Polizei, die in den "No-go-areas" nicht einmal die Leistung für Eigentümer wahrnimmt, ihr Eigentum vor dem Zugriff der Masse ven Habenichtsen zu bewahren. Für die IRA die Gelegenheit, sich als wahre, weil irische Ordnungsmacht zu produzieren, so daß sie neben der Fähigkeit zur militärischen Gewalt auch noch die zur richterlichen demonstriert:

"Die Jungen wachsen auf in Anarchie; jugendliche Autodiebe, joy riders, die einen Wagen zum Vergnügen knacken und zuschanden fahren, fürchten nicht die Polizei. Ihre Autorität ist die IRA, die auf brutale Weise eine Art Ordnungsdienst in jenen Straßen versieht, die von der Staatsmacht nicht wirklich kontrolliert werden... No-go-areas..." (Süddeutsche Zeitung, 23.3.1988)

"Immer mehr Unternehmer und Geschäftsleute geben deshalb der Forderung der IRA nach, Verträge mit Armee oder Polizei zu kündigen... 'Touts and hoods will be shot', heißt eine Losung der IRA: Verräter und Kriminelle werden erschossen. In leichteren Fällen begnügt sich die IRA-Selbstjustiz mit dem 'knee capping', der Verstümmelung der Opfer durch einen Schuß ins Knie. " (Süddeutsche Zeitung, 19.8.1986)

Insoweit ergänzen sich die militärische und die politische Organisation durchaus. Der Unterschied besteht allerdings darin, daß die IRA autonom-irisch Gewalt ausübt und in den no-go-areas auf ihrem Gewaltmonopol besteht, während Sinn Fein sich der Einrichtungen des Feindes bedient. Dabei ist diese Trennung nicht mal mehr korrekt, da die Spaltung quer durch beide Abteilungen der zusammengehörenden Organisation - bis hinein in die Knäste - geht. Der gegenwärtige Stand: Sowohl in Sinn Fein als auch in der IRA gibt es heute drei Standpunkte: 1. Bullits, 2. Ballots, 3. Bullits and Ballots!

Daneben gibt es natürlich - um der gemeinsamen Sache willen - jede Menge Vermittlungsversuche, die genau daran scheitern, daß einmal bullit und einmal ballot als Verrat an der Sache inkriminiert wird.