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GESUNDHEIT - EIN GUT UND SEIN PREIS
Die Pharma-Industrie streitet im Namen der Rentner für ihren Absatz; der Sozialminister im Namen der Arbeitslosen für mehr Selbstbeteiligung der Patienten; der Arbeitgeberverband im Interesse geringerer Lohnkosten gegen die unmenschliche Krankenkassenbürokratie; und auch sonst fällt kein ehrliches, geschweige denn wahres Wort über den Preis der Gesundheit. Ist der wirklich zu hoch? Für wen, und inwiefern? - Gesundheit volkswirtschaftlich.
Dieselbe Gesellschaft, die für Atomkraftwerke samt "Müll" und Wiederaufarbeitung die Kategorie des "Restrisikos" erfunden hat, läßt sich für Kreuzzüge gegen das Laster des Tabakrauchens mobilisieren. Ist Gesundheit wirklich eine Frage des "gesunden Lebens"? - Gesundheit volkstümlich.
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts sind manche Krankheiten ausgerottet, Bakterien und Viren theoretisch und zum Teil auch praktisch im Griff, ist die durchschnittliche Lebenserwartung in vielen Ländern so hoch wie nie. Doch um den Gesundheitszustand dieses Durchschnitts ist es nicht gut bestellt; nicht bloß bei den immer älteren Alten. Die moderne Menschheit kränkelt und stirbt an "Zivilisationskrankheiten". Ist es wirklich "die Zivilisation", die die Menschen nicht aushalten? - Krankheit wissenschaftlich.
Die Medizin weiß Bescheid über Gene und Immunsysteme, über Gifte und Kanzerogene. Gestützt auf dieses Wissen erklärt sie die Krankheitsgründe für dunkel, die Wirkungen von Radioaktivität für zweifelhaft, die Liste der "Risikofaktoren" für unendlich und jeden einzelnen je nach Interessenslage für ausschlaggebend oder harmlos. Dabei will sie nur unser aller Bestes. Ist das vielleicht ihr Fehler? - Gesundheit medizinisch.
Gesundheit ist keine Ware; aber mit Krankheiten lassen sich beste Geschäfte machen; und hunderttausend Ärzte, Apotheker und Pharma-Fabrikanten beweisen, daß Heilkunst und Profit bestens zusammenpassen: Gemeinsam regieren sie ein Gesundheitswesen, das sich um sonst nichts kümmert, nicht einmal um Klassenfragen. Ist jetzt die Gesundheit der letzte Zweck der Veranstaltung oder das Geschäft - oder keins von beiden? - Gesundheit praktisch.
Gesundheit volkswirtschaftlich
Die Kosten des bundesdeutschen Gesundheitswesens sind zu hoch. So sieht es jedenfalls der zuständige Sozialminister. Und im Unterschied zu seinen Vorgängern, die das allesamt auch schon so gesehen haben, führt Blüm seinen "Kampf um die Kostendämpfung" so, daß die meisten Abteilungen des nationalen Krankenversorgungswesens seine Pläne erbittert kritisieren. Denn, wie man hört, sollen ihre Verdienstmöglichkeiten eingeschränkt werden.
Dabei ist gar nicht recht zu sehen, im Verhältnis wozu die ca. 240 Milliarden D-Mark, die das Gesundheitswesen letztes Jahr insgesamt gekostet haben soll, und die 125 Milliarden, die die gesetzlichen Krankenkassen dafür gezahlt haben, "zu viel" sein sollen. Zu teuer für den Staatshaushalt, der ja sonst immer als - ausgesprochen flexibler - Maßstab fungiert, kann es gar nicht sein; denn die Finanzierung ist absichtsvoll gerade so konstruiert, daß sie mit anderen staatlichen Auf- und Ausgaben gerade nicht haushaltsmäßig konkurriert. Die Mittel werden nach dem Versicherungsprinzip aufgebracht, als private Vorsorge für den voraussehbaren Bedarfsfall. Die Leistung des Sozialstaats beschränkt sich ganz auf den gesetzlichen Zwang, als "Arbeitnehmer" mit einem Einkommen bis hinauf zu einer deutlich über dem Durchschnitt angesetzten "Beitragsbemessungs-" und "Pflichtversicherungsgrenze" - derzeit 4.500 DM monatlich - einer Krankenkasse anzugehören und prozentual vom Einkommen Beiträge abzuführen, die gleich "an der Quelle", vor der Auszahlung von Lohn bzw. Gehalt, einbehalten werden.
Diese gesetzliche Beitragspflicht trägt dem Umstand Rechnung, daß die Vorsorge für den Krankheitsfall in einer Hinsicht allemal zu teuer ist, nämlich für die Versicherten. Da will der Staat sich eben gar nicht darauf verlassen, daß die Masse seiner Lohn- und Gehaltsbezieher soviel Geld übrig hat, wie sie zur Finanzierung des Gesundheitswesens beisteuern soll; als Sozialstaat kalkuliert er ganz selbstverständlich mit der Armut derer, die - eben deswegen - einen Versicherungsschutz für den Krankheitsfall besonders nötig brauchen. Für die Minderheit der "Besserverdienenden" unter den Pflichtversicherten ist der Beitrag - dieses Jahr maximal 585 DM - in einer anderen Hinsicht zu hoch, nämlich im Vergleich zu einer privaten Versicherung, die Angebote für die Absicherung des tatsächlich privat abgeschätzten Risikos unterbreitet. Gegen sie übt der Sozialstaat gesetzlichen Zwang aus, um den Kassen für das weniger bemittelte Volk überdurchschnittliche Einnahmequellen zu erschließen - bis zu der Grenze eben, oberhalb derer die Freiheit der Eigenvorsorge beginnt.
Der Standpunkt des Beitragszahlers, der seine Abgaben entweder im Verhältnis zu der Geldsumme, mit der er dann auskommen muß, oder im Vergleich mit den Kosten einer normal kalkulierten privaten Versicherung ärgerlich findet, ist aber durchaus nicht der sozialstaatliche "Kostendämpfungs"-Standpunkt. Der Staat hat sich ja keineswegs für die billigste "Lösung" entschieden, sondern für die Abwicklung aller medizinischen Leistungen als durchaus nicht billiges Geschäft; übrigens einschließlich der viel gescholtenen Pharma-Industrie, die dank ihrer von den Kassen beglichenen Luxus-Monopolpreise zur erstklassigen Macht auf dem Weltmarkt für Medizinisches und zu einem Exportgeschäft der höchsten Güteklasse geworden ist. Für diesen Zweig des nationalen Geschäftslebens will der Staat eine sichere Basis; deswegen hat er die Pflichtkrankenkassen mit dem Privileg ausgestattet, ihre gesetzlich garantierten Beitragseinnahmen jährlich neu so zu bemessen und in Prozentsätze vom Einkommen ihrer Mitglieder umzurechnen, daß das Geld für ihre Ausgaben reicht - also die Beiträge nach Bedarf steigen zu lassen; im Bundesdurchschnitt derzeit auf über 12% und maximal auf ca. 15% der Lohn- bzw. Gehaltssumme. Und davon soll nichts zurückgenommen werden.
Was die tatsächlich bereits eingeführten Maßnahmen zur Kostendämpfung betrifft, so täuscht sich jeder Beitragszahler, der auf Vorteile für sich gehofft hat: Rezeptgebühren und Eigenbeteiligung im Krankenhaus verringern die Kosten des Gesundheitswesens überhaupt nicht und ersparen den Versicherten erst recht nichts; sie sorgen bloß dafür, daß ein paar 100 Millionen Mark auf anderem Weg als per Beitragszahlung eingesammelt werden. Ähnliches gilt für die neuen Reformpläne des Sozialministeriums: Das System der jeweils billigsten Festkosten, die in Zukunft für Arzneien, Brillen und dergleichen bloß noch erstattet werden sollen, wird den Anstieg der Krankenkassenzahlungen nur insofern dämpfen, als absehbarerweise im laufenden letzten Jahr vor der Reform noch einmal ein Kostensprung und anschließend, bis zur Gewöhnung der Kundschaft an ihre neuen Zahlungspflichten, ein Rückgang der Verordnungen eintreten wird. Der Beschluß, die Zahnarztpatienten einen deutlich höheren Anteil als bisher selbst tragen zu lassen, hat erstens denselben Effekt und macht zweitens nur noch viel deutlicher, daß die Reform den Leuten kein Geld ersparen soll, sondern künftige Kostenzuwächse direkt statt über die Kassenbeiträge auf den "Leistungsempfänger" überwälzt. Alles, was darüber an effektiven Minderausgaben bei den Kassen erzielt wird, und noch einiges mehr soll ab 1991 für die Versorgung von Pflegefällen Patienten ohne Aussicht auf Besserung ihres Gebrechens - bereitgestellt werden, die bisher der Sozialhilfe zur Last fallen; einer öffentlichen Kasse, für die letztlich irgendein Staatshaushaltsposten einstehen muß. Bei diesem Reformanliegen geht es also rein um die Verminderung gegenwärtiger Lasten der öffentlichen Fürsorge und die Abwehr künftiger Ansprüche an die Kassen der Länder bzw. des Bundes.
An der gesetzlich gewährten Bequemlichkeit der Krankenkassen, die "Arbeitnehmereinkommen" als eine Art Selbstbedienungsladen für ihren Geldbedarf zu nutzen, wurde zwar herumdiskutiert, wird aber gar nichts geändert; der Zweck, den Versicherten mehr von ihrem Einkommen zu belassen, wird überhaupt nicht verfolgt. Dennoch operiert der Sozialminister in seiner Reformpropaganda mit der Gegenüberstellung zweier Wachstumsquotienten, die genau diesen Anschein erwecken soll: "Seit 1960 sind die Ausgaben unserer Krankenversicherung um das 14fache gestiegen - fast dreimal so schnell wie Löhne und Gehälter!" Wenn Löhne und Gehälter gleichfalls um das 14fache gestiegen wären, wäre für Blüm, der seine Entdeckung in einem offenen Brief an die "Lieben Bürgerinnen und Bürger" mitteilt, die Welt natürlich nicht in Ordnung. Sein Gesichtspunkt sind die Löhne und Gehälter in ihrer Eigenschaft als Lasten, die durch die Krankenversicherungsbeiträge noch größer würden, nämlich für die "Arbeitgeber". Auch das teilt Blüm in Großanzeigen mit, freilich in der hierzulande gewohnten verlogenen Form: "Wir sichern Beschäftigung, weil hohe Lohnnebenkosten Hürden für neue Arbeitsplätze sind."
Wenn man die wirtschaftsideologische Recheneinheit der "Arbeitsplätze" beiseite läßt, bleibt immer noch das Argument der "Lohnnebenkosten", von denen die Unternehmen entlastet werden müßten. Daran gemessen bleiben Blüms Reformvorhaben allerdings auch fast alles schuldig. Ein nennenswertes Sinken dieser "Nebenkosten" wird praktisch gar nicht erzwungen, also auch nicht bezweckt. Es wäre eben doch keine "Strukturreform" zustande gekommen, sondern "bloß" ein "Kostendämpfungsgesetz", sagen die Kritiker. Die Umverteilung von Lasten an die Patienten trifft diese, bringt den "Arbeitgebern" aber keine zählbaren Vorteile. Deren Verbände äußern sich dementsprechend unzufrieden über die "Halbherzigkeit" dieser "Strukturreform"; ihr Ideal sind private Versicherungen für jedermann, deren Kosten jeder "Arbeitnehmer" aus seinem ausgezahlten Nettolohn bestreitet. Das wird es nicht geben.
Dennoch ist es bei einer bundesdeutschen Regierung nie einfach eine Lüge, wenn sie sich gegen angeblich zu hohe oder gar steigende "Lohnnebenkosten" ausspricht. Zwar kann wirklich kein Sozialpolitiker angeben, welcher Prozentsatz bei den Krankenkassenbeiträgen denn nicht überschritten werden darf; und wenn mit allen Anzeichen des Entsetzens die "Gefahr" beschworen wird, im Jahr 2000 könnten bereits 20% der Bruttolohnsumme für diese Pflichtversicherung draufgehen, ist damit andererseits noch ein ganz ansehnlicher Spielraum für Beitragserhöhungen angegeben. Die geplanten Eingriffe machen aber deutlich, daß der Sozialstaat seine Unkosten fürs Geschäftsleben durchaus kritisch überprüft. Er nimmt zu ihnen praktisch genau den Standpunkt ein, den das Argument der "Lohnnebenkosten" theoretisch repräsentiert: eine Mischung aus dem unbedingt schützenswerten Unternehmerinteresse an niedrigen Lohnkosten und der Übersetzung dieses Interesses in eine sozialstaatskritische Ideologie.
Ideologisch ist das "neben", das einen Unterschied dieser Zahlungen zu den "normalen", "hauptsächlichen" Lohnkosten behauptet. Tatsächlich gehört alles, was in die verschiedenen Sozialkassen eingezahlt wird, seiner ökonomischen Natur nach zum Lohn. Es ist Teil der Geldsumme, von der Arbeiter leben; denn zu ihrem Leben gehört nun einmal die Notwendigkeit, sich auch dann zu erhalten, wenn ihre einzige Erwerbsquelle, die Lohnarbeit, ihren Dienst versagt - wegen Krankheit, Alter oder Entlassung. Für diese Lebenslagen und außerdem für die Wiederherstellung ihres Arbeitsvermögens, die aus einem normalen Lohnarbeiterbudget nicht zu bestreiten ist, erzwingt der Sozialstaat eine Klassensolidarität, die sich für den einzelnen als Verstaatlichung eines Lohnteils darstellt. Für den Unternehmer zählt diese verstaatlichte Summe zu dem Preis, den er für Arbeit zu zahlen hat - der also durch die Erträge der geleisteten Arbeit überboten werden muß, damit das Unternehmen sich lohnt. Die Kassenbeiträge sind notwendige Auslagen für die Leistung, die insgesamt lohnend gestaltet werden muß.
Praktisch stellt sich diese Notwendigkeit für den Unternehmer allerdings als bloße staatliche Vorschrift dar; und unter diesem Blickwinkel nehmen sich die gesetzlich verplanten Lohnteile etwas anders aus. Sie sehen wie staatlich verfügte zusätzliche Unkosten aus, die den Geschäftsmann mit einem "zweiten Lohn" neben dem "wirklichen" belasten und aus "rein politischen" Gründen seine Konkurrenzsituation verschlechtern. Diese Sichtweise abstrahiert zwar ziemlich gewaltsam von dem Umstand, daß eine real existierende Lohnarbeiterklasse ohne solche staatlich umverteilten Lohnteile nicht zu haben ist, weil sie eine Existenznotwendigkeit finanzieren. Praktisch taugt sie erst einmal nur zur Beschwerde, z.B. über Konkurrenten, die sich durch alle möglichen halb- oder illegalen Tricks oder auf Grund der freundlicheren Sozialgesetze anderswo solchen Zusatzkosten entziehen; auch Politiker, die sonst als Fanatiker der pünktlichsten Gesetzlichkeit auftreten, warnen in dem Zusammenhang höchst verständnisvoll vor einer zunehmenden "Schattenwirtschaft", wo die Unternehmer sich ihren sozialen Zahlungspflichten entziehen. So ist diese Sichtweise aber auch ein politischer Standpunkt, der fortwährend tatsächlich mit den Notwendigkeiten eines kapitalismusdienlichen Sozialstaats konkurriert; ungefähr so wie die Ressorts einer Regierung um ihren Anteil am Staatshaushalt streiten, der zwar bedürfnisgerecht wächst, aber nicht uferlos soll wachsen dürfen. Ein weltmeisterlicher Kapitalismus geht nicht ohne seinen sozialstaatlichen Überbau und auch nicht ohne ein Gesundheitswesen, das die nationale Mannschaft bei Kräften hält; er geht aber auch nicht seinen Gang ohne fortwährenden Streit um die sozialen Unkosten. In diesem Streit messen die Anwälte des freien Geschäfts mit dem massenhaften Gesundheitsbedarf und die Vertreter des "Lohnnebenkosten"-Standpunkts ihre Kräfte.
Die Vieldeutigkeit der Sozialstaatskosten hat sich übrigens in der Beitragserhebungstechnik der deutschen Sozialkassen u.a. in Gestalt einer leicht absurden Rechnungsweise niedergeschlagen, die zwischen den Gesichtspunkten der privaten Vorsorge des zukünftigen Patienten, der Notwendigkeit sozialer Lasten für die Geschäftswelt sowie der politisch zu regulierenden Lohnnebenkosten eine gerechte Mitte hält: Die fälligen Beiträge werden je zur Hälfte als Zusatzkost für den "Arbeitgeber" verbucht. Eine besondere Zweckmäßigkeit ist dieser Buchungstechnik nicht zu entnehmen. Sie ist eine Konstruktion des sozialen Gerechtigkeitssinns, die den geschröpften Lohnempfänger mit der gleich hohen Zahlungspflicht des Kapitalisten tröstet und zugleich dessen Kritik an zu hohen Lohnkosten recht gibt, aber nur zur Hälfte und ohne ihr praktisch einfach zu gehorchen.
Fast könnte man es so sehen, als wüßte der Sozialstaat hier mit einer gewissen Ironie zu unterscheiden zwischen der gesellschaftlichen Klasse, die eine Krankheitsversorgung aus kollektivierten Finanzmitteln braucht, und der anderen, die die Gesundheit ihrer "Arbeitnehmer" verbraucht. Allerdings würde aus dieser Unterscheidung etwas anderes folgen als eine hälftige Kostenteilung. Und außerdem wäre der Sozialstaat damit einmal schlauer als sämtliche Klassen und Mitglieder der Gesellschaft, die er betreut.
Gesundheit volkstümlich
Mitten im Zeitalter der wissenschaftlichen Medizin sind Gesundheit und Krankheit moralische Gegenstände erster Güte. Es hat den Charakter eines Kompliments, wenn jemandem mit oder ohne Neid - bestätigt wird, er sei gesund oder sehe zu allem Überfluß auch noch so aus. Wenn alle Welt sich im beliebten Geplauder über jedermanns Gebrechen darin einig wird, daß Gesundheit eine, nein: die "Hauptsache" im Leben sei, dann soll damit auch nicht bloß die Trivialität vermerkt sein, daß ein kaputter Organismus dem Betroffenen vieles verwehrt. Physiologisch zu funktionieren, gilt in der zivilisierten Gegenwart als eigener Zweck, um den man sich kümmern muß, keineswegs bloß als das, was es ist: eine Voraussetzung dafür, sich Zwecke zu setzen und dafür einzusetzen. Rundherum gesund zu sein, dieser eigentlich nichtssagende Zustand der Funktionsfähigkeit wird glatt als Leistung behandelt, die die Lebenstüchtigkeit eines Menschen beweist. - Das ist natürlich implizit ein Urteil über die Gesundheitsschädlichkeit des bloßen Daseins in der modernen Welt; explizit ist es aber ein verrückter Achtungserweis vor dem gesund gebliebenen Individuum, der felsenfest und ohne jede Kritik von der Selbstverständlichkeit ausgeht, daß das Intakt-Bleiben heutzutage schon als bemerkenswerter, nützlicher Erfolg einzustufen ist.
Umgekehrt ist die Feststellung einer Krankheit zwar noch nicht unmittelbar ein Vorwurf. Bei aller Anteilnahme ist aber immer ziemlich klar, daß nicht bloß und nicht einmal so sehr die Krankheit als Last begriffen wird, sondern vor allem der Kranke als einer, der seiner Umgebung zur Last fällt. Pflege und Betreuung, die er nun eiinmal braucht, haben eben auch im Zeitalter der gesetzlichen Krankenversicherung nicht den Charakter einer selbstverständlichen zivilisatorischen Errungenschaft, sondern den einer problematischen Unkost; die ganze "Kostendämpfungs"-Debatte bezieht sich insgeheim auf diesen populären Standpunkt, daß Kranke Verdruß bereiten, und hält ihn lebendig. Jede Begutachtung eines Krankheitsfalls kommt einer Überprüfung der moralischen Pluspunkte gleich, die ein Kranker auf dieser Grundlage sammeln kann - aber auch vorweisen muß, damit sein Gebrechen nicht doch zu einem Vorwurf an ihn wird. Es muß sich erstens um ein unverdientes Unglück handeln; mit dem moralischen Freispruch wächst das Bedauern, das umgekehrt gar nichts anderes zum Ausdruck bringt als die gefühlsmäßige Einschätzung, der Kranke hätte seinen elenden Zustand nicht verdient. Der gegenteilige Verdacht steht also unausgesprochen immer am Anfang; und in der Regel bleibt er auch nach allen Dementis noch ein bißchen bestehen: Irgendwie wird der Kranke sich schon auch zu wenig um seine Gesundheit gekümmert, sie womöglich leichtfertig aufs Spiel gesetzt haben. Die Patienten selbst sind übrigens die ersten, die für sich diese Schuldfrage wälzen; und weil sie sich natürlich für unschuldige Opfer, also für bedauernswert halten, werfen sie die Sinnfrage auf, entschließen sich also zum Glauben an eine höhere moralische Zweckmäßigkeit ihres Leidens. So kommt zur Krankheit der Blödsinn. Am Ergebnis solchen Grübelns entscheidet sich übrigens in der Praxis meist die zweite moralische Prüfung, nämlich wie gut der Kranke mit seinem Leiden "fertig wird". Damit, daß er nicht stört, kann er sich gute Noten verdienen und seine Selbstachtung ausbauen - auch wenn er seinen Betreuern damit erst recht auf die Nerven fällt. Der Beweis individueller Tüchtigkeit kann natürlich auch den entgegengesetzten Weg einschlagen: Eine ganz außergewöhnliche Leidensgeschichte stellt dem, von dem sie erzählt wird, auch ein gutes Zeugnis aus, nämlich für die damit ja irgendwie erbrachte Höchst-"Leistung" im Aushalten. Der verrückte Stolz auf ein solch paradoxes "Leistungsvermögen" ist die moralische Seele der Jammerei ebenso wie der Indolenz, mit der ein Kranker sein Leiden auch wieder "psychisch verkraften" kann.
So schätzt das bürgerliche Gesellschaftsleben die Krankheit nach wie vor als denkbar interessanten Entscheidungsfall für die Moralität eines Individuums; so selbstverständlich ist der moralische Fehlschluß, daß der Mensch, an dem eine Krankheit dran ist, zumindest für eins verantwortlich ist, nämlich für die Last, die er damit bereitet - wem auch immer. Die verrückte Auffassung der Gesundheit als Leistung schließt die Fortsetzung ein, daß es sich um eine Leistung handelt, die der Mensch im Grunde - wem auch immer - schuldig ist. Wem er sie schuldet, ist ohnehin kein Geheimnis fürs Gemeinschaftsgemüt und wird von den zuständigen Gesundheitsministern deutlich herausgestellt, die ohnehin dauernd herumüberlegen, wie man die moralische Gesundheitspflicht des Bürgers mit griffigeren "Anreizen", sprich Strafgeldern für "selbstverschuldetes" Kranksein ausstatten kann - gäbe es unter den Führungskadern unserer Demokratie nicht so viele fette Greise, wäre da womöglich schon mehr an Schikanen Gesetz geworden! -:
"Der Bürger muß wissen, daß Gesundheit nicht seine Privatangelegenheit ist. Die Gemeinschaft kann es auf Dauer nicht dem einzelnen überlassen, sich nach Belieben, bewußt oder unbewußt, krank zu machen. Die Gemeinschaft darf von jedem einzelnen erwarten, daß er sich gesundheitsgerecht verhält. Gesundheitspolitik muß besonders jungen Menschen bewußt machen, daß Gesundbleiben auch aktiv betrieben werden muß und entsprechend anitrengend sein kann." (Dr. Scheurlen, Gesundheitiminister des Saarlandes, in: Wie krank ist unsere Gesellschaft?, Ullstein 1981, S. 36)
Solche Ermahnungen enthalten wieder ein Urteil über die Gesellschaft, in der es als Pflicht gilt sich gesund zu erhalten: Offenbar ist körperliches Funktionieren eine Sache, um die man sich eigens kümmern muß, aber kein gesellschaftlicher Zweck, nach dem das gesellschaftliche Leben mit eingerichtet wäre. Für dieses gilt vielmehr, was für den einzelnen nicht gelten soll und darf, nämlich daß die Funktionstüchtigkeit des Individuums bloß die Voraussetzung für die geltenden und praktisch verfolgten Zwecke ist; und zwar eine dermaßen beanspruchte Voraussetzung, daß ein jeder zusehen muß, sie an sich aufrechtzuerhalten bzw. immer wieder herzustellen. Gesundheit ist nur dann und gerade deswegen ein hohes Gut für den einzelnen, dem er einiges zu opfern hat, wenn sie und weil sie ein Verschleißartikel für die herrschenden, anerkannten Anliegen der Gesellschaft ist. Der volkstümliche Moralismus und die öffentliche Sittenwacht folgern aus diesem Zusammenhang natürlich keine Kritik, sondern einen Grundsatz des bürgerlichen Lebens, der von allen bürgerlichen Prinzipien den Faschisten immer am besten gefallen hat: Ein nützliches Glied der Gesellschaft ist nicht krank!
Grundlage der Sozialpolitik in einem modernen Kapitalismus ist dieser nette Grundsatz freilich nicht. Dazu wissen die Zuständigen denn doch zu gut zu unterscheiden zwischen der gesellschaftlichen Realität und einem faschistischen Ideal, das dazu paßt.
Krankheit wissenschaftlich
Wer heute krank ist, der ist nicht einfach der unbegriffenen und nicht beherrschten Natur seines Körpers ausgeliefert. Theoretisch nicht: Wie Krankheiten ablaufen, woher sie kommen, woran Zellen, Organe und der ganze Organismus leiden und ggf. zugrundegehen, ist im großen und ganzen Wissensbestand der Medizin. Und praktisch auch nicht: Wem heutzutage medizinische Hilfe oder Erleichterung abgeht, der ist nicht bloß von den Errungenschaften der medizinischen Technik noch nicht erreicht worden, sondern der ist nach den Regeln der weltweiten gesellschaftlichen Verteilung von Reichtum davon ausgeschlossen. Deswegen bleibt ja tatsächlich kaum noch ein Erdenbürger gänzlich außerhalb jeder medizinischen Versorgung: Kaum geboren, wird der Mensch geimpft, damit er wenigstens die eine oder andere ansteckende Krankheit übersteht und nicht weiterträgt. Auf wieviel Medizin er im weiteren Verlauf seines Lebens Anspruch erheben kann, ist dann eine Frage der jeweiligen staatlich organisierten Armut.
Das Gesundheitswesen der BRD gibt ein Beispiel dafür, vor wievielen Todesursachen und Seuchen man die Masse der Leute durchaus bewahren kann. An Blinddarmentzündung oder Lungenentzündung wird zwar durchaus noch gestorben, aber doch mehr ausnahmsweise, und an Pest und Pocken so gut wie gar nicht mehr. Von Parasiten läßt sich ein moderner Staat sein Volk nicht dezimieren. Andererseits bieten eben diese gut betreuten Massen keineswegs ein Bild strotzender Gesundheit:
"Nach einem Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes von 1970 ist nahezu jeder 4. Bundesbürger gesundheitlich beeinträchtigt und jeder siebte chronisch krank. ... In den jungen Altersklassen sind nur 10 bis 15% und vom 45. Lebensjahr an nur 1% ideal gesund." (H. Hamm, Allgemeinmedizin, Stuttgart 1979, S. 1 )
Im Unterschied zu den alten, inzwischen historischen Volksseuchen gelten die Gebrechen, die heute die Szene beherrschen, als "Zivilisationskrankheiten". Und nicht bloß alte Faschisten wollen mit dieser Diagnose ausgedrückt haben, daß durch mehr Abhärtung statt "zivilisatorischer Verweichlichung" den meisten dieser Leiden beizukommen wäre, wofür das Idealbild vom kerngesunden "Naturburschen" einsteht. Der "Rückschluß" auf eine verfehlte Lebensweise, die den Menschen für Krankheiten der zivilisierten Art zumindest "anfällig" macht, läßt sich genausogut hochwissenschaftlich als Problematisierung des "Krankheitsbegriffs" anmelden:
"Wenn Krankheit als ein Naturereignis definiert ist", also als "etwas Willensunabhängiges", so ist der Patient durch die Krankheit von der Verantwortung für die Krankheit entlastet." (W. Schoene, Krankheit und Verantwortung - gesellschaftlich definiert; nach: A. Mitscherlich (Hg.), Der Kranke in der modernen Gesellschaft, Köln 1970, S. 44 f.)
Ein "Naturereignis" sind Krankheiten allemal: Sie "ereignen" sich an der Physis des Lebewesens Mensch, an seinen Zellen, Knochen, Nerven, Organen. Ein Definitionsproblem liegt auch dann nicht vor, wenn diese erste Feststellung um die zweite, genauso langweilige ergänzt wird, daß man sich seine Krankheiten allemal im Rahmen eines Lebenswandels zuzieht, für den man irgendwie natürlich immer die "Verantwortung" trägt. Dieser ungesunde Wandel ist allerdings ganz gewiß nicht richtig bestimmt, wenn er mit dem Ideal einer Lebensweise, die jeden Schaden vermeidet, konfrontiert und im Lichte dieses Vergleichs als "unvernünftig", "unvorsichtig", "verweichlicht" oder wie auch immer "ungesund" gegeißelt wird. Solche erhabenen moralischen Tautologien verdecken nur die schlichte physiologische Wahrheit, daß es sich bei den "Zivilisationskrankheiten" nicht um das Ergebnis von Charakterfehlern, Versäumnissen oder überhaupt Unterlassungen handelt, sondern um die medizinisch leicht absehbaren und erklärlichen Folgen von Leistungen, die die Betroffenen meist schon gewohnheitsmäßig, deswegen aber doch noch lange nicht aus freier Wahl - ihrer Physis, also sich abverlangen.
Welche Leistungen das sind und ob sie zu den Notwendigkeiten oder den kompensatorischen Vergnügungen eines bürgerlichen Lebens zählen, ist an den pathologischen Folgen manchmal noch deutlich zu sehen und manchmal auch nicht. Insgesamt sprechen die "Volksseuchen" deutlich genug für sich - sollte man meinen.
Moderne Krankheitsbilder...
Einen Spitzenplatz unter den modernen Todesursachen halten die Herz- und Kreislauferkrankungen. Und das, obwohl die Medizin hier viel im Griff hat, Infarkte nicht mehr tödlich verlaufen müssen, Herzrhythmusstörungen durch massenhaft eingepflanzte Herzschrittmacher bewältigt werden, einschlägige Arzneien zu pharmazeutischen Verkaufsschlagern geworden sind. Es liegt hier ein massenhafter, fast schon normal zu nennender Fall von chronischer Überanspannung des Organismus vor. Anstrengung läßt nämlich durch eine Verengung der Arterien den Blutdruck steigen; zugleich erweitern sich die Gefäße dort, wo vermehrt Energie gebraucht wird; die Herzschlagzahl wird erhöht, ebenfalls die gepumpte Blutmenge. Wenn diese Drucksteigerung nicht nur vorübergehend ist bzw. keine ausreichende Entspannung folgt, treten Veränderungen im Gefäßsystem auf, die schließlich den hohen Blutdruck "fixieren", d.h. irreversibel machen, unabhängig von der tatsächlichen Belastung:
"Mit Hilfe des Laplaceschen Gesetzes kann man die schädliche Wirkung einer langdauernden Blutdrucksteigerung auf die Gefäße richtig erfassen. Einmal wird die Gefäßwand schon durch die Druckerhöhung stärker gespannt, andererseits wird, da es sich um eine elastische Wandstruktur handelt, auch der Radius größer. Dadurch wird die Gefäßspannung zunächst zunehmen. Jede Druckerhöhung im Gefäß führt also zu einer potenzierten Erhöhung der Gefäßwandspannung. Wie jedes Gewebe, das chronisch überbeansprucht wird, hypertrophiert auch die Gefäßwand - und zwar um so mehr, je größer ihre transversale Wandspannung ist. Durch die mit der Wandhypertrophie verbundene Vergrößerung der Wanddicke wird die Wandspannung zunächst weitgehend auch bei erhöhtem Innendruck kompensiert; dies wird jedoch mit einer Einschränkung des Innendurchmessers und der Dehnbarkeit erkauft. Die Abnahme des Innendurchmessers führt besonders in den kleinsten Arterien zu einer Erhöhung des peripheren Widerstandes, da ihre normale Wanddicke klein gegenüber dem Durchmesser ist. Die Widerstandserhöhung wird... besonders zur Erhöhung des diastolischen Druckes, damit aber auch zur Erhöhung des mittleren Blutdruckes führen. Diese Blutdrucksteigerung wirkt dann verstärkend über denselben Mechanismus auf die weitere Verengung der peripheren Blutbahn. Unterstützt wird dieser Circulus vitiosus durch die Abnahme der Dehnbarkeit der großen Gefäße. Es entwickelt sich auf diese Weise ein konstant erhöhter Blutdruck (Hypertonie). Solange die Gefäßwandhypertrophie einen gewissen Wert nicht überschritten hat, ist sie reversibel." (J. Stegemann, Leistungsphysiologie. Physiologische Grundlagen der Arbeit und des Sports, Stuttgart 1984, S. 136)
Wenn sie diesen Wert überschreitet, wird der Betroffene zum Herz-Kreislauf-Patienten, der ständig behandelt werden muß, da sonst sehr rasch kardiale (Herzinsuffizienz und Herzinfarkt), zerebrovaskuläre (Schlaganfall) und renale (Nierenversagen) Komplikationen auftreten.
An demselben Ergebnis wirkt gewohnheitsmäßige Anspannung auch noch auf anderen physiologischen Wegen mit: Da der Zuckerspiegel im Blut steigt, muß mehr Insulin gebildet werden, das für den Transport dieses Energiestoffs in die Zellen sorgt - wenn insulinproduzierende Zellen"verbraucht" werden, weil es zur vermehrten Produktion dieses Hormons kommt, bedeutet dies die Zuckerkrankheit, Diabetes mellitus; der Blutfettspiegel steigt was zu Arteriosklerose beiträgt; in der Niere wird vermehrt Natrium und Wasser im Körper zurückgehalten, so daß bei normaler Kochsalzzufuhr mehr davon im Blut vorhanden ist - das trägt zum Bluthochdruck bei.
Die I n- und Affektionen der Atemwege verlaufen weniger tödlich, sind dafür um so häufiger und verraten gleichfalls einiges über ihre Herkunft. Zum einen lassen sie auf einigermaßen erschöpfte Abwehrkräfte bei sehr vielen Leuten schließen. Zum andern leiden die Atemwege mitsamt ihren Abwehrmechanismen ohnehin unter den Stäuben, Schad- und Reizstoffen, die eine moderne Atemluft reichlich enthält. Wer die nachfolgenden Entzündungen unterschiedlichen Schweregrads oft und lange genug aushält, hat gute Aussichten auf eine chronische, nicht mehr ausheilbare Bronchitis, die am Ende zu irreversiblen Lungenschäden führt:
"Die bei der akuten Bronchitis erwähnten Inhalationsnoxen rufen auch eine chronische Bronchitis hervor oder verursachen einen akuten Schub dieser Krankheit. Der Verlust an funktionstüchtigem Flimmerepithel durch Plattenepithelmetaplasien und die Zunahme der Schleimproduktion führen zu Dyskrinie und Sekretstau. Die Folge davon sind längere Verweildauer von Inhalationsnoxen im Bronchialbaum, erhöhte Infektanfälligkeit und Vermehrung der Entzündungszellen mit Obstruktion der Bronchien und Destruktion von Lungengewebe (zentroazinäres Emphysem). Das Abhusten von muskösem oder eitrigem Bronchialsekret stört den Patienten über Jahre hinweg kaum, solange die Entzündung keine wesentliche Bronchialobstruktion mit Dyspnoe hervorruft. Erst die Ruhedyspnoe oder der hartnäckige, schlafstörende Husten (Infekt) führt den Patienten erstmals zum Arzt." (W. Siegenthaler, Lehrbuch der inneren Medizin, Stuttgart 1984, S. 312)
Dann ist eine Heilung natürlich kaum mehr drin.
Daß Aufregung "auf den Magen schlägt", gehört zu den Volksweisheiten, und zwar zu denen, die medizinisch-wissenschaftlicher Überprüfung standhalten. Wenn Magenschleimhautentzündungen chronisch werden und Magengeschwüre hervorrufen, dann liegt das an den physiologischen Folgen bestimmter Formen von Anspannung: Die führen dazu, daß im Magen-Darm-Trakt die Salzsäure- und Pepsinproduktion gesteigert und die Schutzwirkung des Magensaftes für die Schleimhaut "ungünstig beeinflußt" wird (W. Siegenthaler, Klinische Pathosphysiologie, Stuttgart 1987, S. 387).
Die vierte Gruppe moderner Volkskrankheiten betrifft den gesamten Bewegungsapparat. Dazu gehören die Erkrankungen aus dem "rheumatischen Formenkreis", die sich auf eine Überbelastung der Gelenkknorpel zurückführen lassen: Der Knorpel wird - egal ob beim Skifahren oder Fliesenlegen - abgerieben und aufgefasert; die Abriebteile machen eine Gelenkentzündung. Wenn diese nicht ausgeheilt wird - was bei diesem Gewebe lange dauert -, wird die Entzündung chronisch:
"Eine angelaufene Arthrose führt zu Veränderungen, die schließlich selbst Ursache für eine Arthrose sind, daß sich also schließlich die Arthrose selbst unterhält." (H. Mathies, Ärztliche Ratschläge. Ein Lehrbuch für den Patienten, Stuttgart 1979, S. 41)
Eine Form dieser "Selbstzerstörung" ist die Autoimmunreaktion, die Empfindlichkeit von Abwehrzellen gegen körpereigenes Gewebe, hier Knorpelzellen, so daß die körpereigene Abwehr die Gelenke zerstört - der chronische Gelenkrheumatismus.
"Die Störung liegt also im Patienten selbst, da das 'Immunsystem' eine Fehlleistung vollbringt, indem auf sehr kompliziertem Wege, den die Forscher annähernd genau kennen, letztlich Antikörper gegen körpereigenes Gewebe, in diesem Fall gegen Gelenkgewebe gebildet werden. ... da Antikörper immer mit dem Stoff, gegen den sie gebildet werden, reagieren und ihn vernichten wollen, geschieht das auch mit dem körpereigenen Gewebe, in diesem Fall mit den Gelenken." (ebd., S. 21)
Wie mit den Gelenken geht es mit der Muskulatur - immerhin leiden 6 Millionen Bundesbürger an Rückenschmerzen (lt. "Der Spiegel" 32/87):
"Eine Überdehnung bestimmter Muskeln oder Muskelgruppen infolge Überbeanspruchung kann Muskelschmerzen machen und sogar auf dem Weg über Reflexe zu einer dauernden schmerzhaften Muskelverkrampfung führen, die schließlich unabhängig von einer momentanen Überbeanspruchung der Muskulatur ist und sich selbst unterhält." (ebd., S. 58)
An der Wirbelsäule zeigt sich solche Belastung im Röntgenbild als Zacken, Abplattungen, Querstellungen und Vorfälle der Bandscheiben - bekannte Folge ist der "Hexenschuß".
Alle genannten Leistungen und Belastungen des Organismus machen sich in der Regel nicht als akute Überanstrengung geltend, sondern zeigen erst nach längerer Zeit ihre Wirkung - pathologische Wirkungen, die dann selber, losgelöst von ihrem Entstehungsgrund, weitere Schäden verursachen. Zu eigentlichen Krankheiten werden die allmählich auftretenden "Verschleißerscheinungen" dadurch, daß man sie aushält - eine Leistung, für die die moderne ärztliche und pharmazeutische Kunst jede Menge Hilfsmittel bereitstellt. Kaum jemand läuft ohne Beschwerden herum, die alle ein "Vorstadium" einer der modernen "Volksseuchen" darstellen:
"Beschwerden von 100 gesunden Angestellten (nach Häufigkeit):
Verstimmungen
Magenbeschwerden
Angstzustände
Häufige Halsentzündungen
Schwindel, Ohnmacht
Schlaflosigkeit
Dysmenorrhoe
Obstipation
Schweißausbrüche
Herzschmerzen, Herzklopfen
Ekzeme
Globusgefühl
Rheumatische Beschwerden." (H. Hamm, Allgemeinmedizin, Stuttgart 1979, S. 149)
Solche Symptome - über die, wohlgemerkt, "gesunde Angestellte" klagen - hat jedermann mit seinen Hausmitteln wie Aspirin, Halswehtabletten, Mobilat etc. im Griff; und zwar genau so lange, bis sie sich zu nicht mehr kurierbaren Beschwerden ausgewachsen haben. Bis dahin bekommt der Mensch, falls er überhaupt zum Arzt geht, die Auskunft, eine eigentliche irreversible - Erkrankung läge (noch) nicht vor - was stimmt: Alle diese "funktionellen Beschwerden" wären durch Auskurieren zu beseitigen. Wenn sie dann wirklich behandlungsbedürftig geworden sind, dann sind sie auch schon nicht mehr zu beseitigen. Der Schaden ist da - und die Medizin bewährt sich darin, zu lindern, zu dämpfen und Fortschritte des Leidens aufzuhalten, bei dessen Entstehung sie durchs Lindern und Dämpfen jedermann zur Hand gegangen ist.
Ähnliches ist über die vielfältigen Formen langsamer Vergiftung zu sagen, die zu einem modernen Leben dazugehören, nachdem Pest und Cholera "besiegt" sind. Wo sich die schädliche Wirkung etwa von Lösungsmitteln oder Fungiziden als Unwohlsein bemerkbar macht, helfen dämpfende Mittel bis zu dem Punkt weiter, wo irreversible Organsehäden eingetreten sind - am Gehirn, der Leber usw. Vergiftungen führt sich mancher auch durch seine Arzneimittel zu, weil die Medizin allemal erst ihre Erfahrungen machen muß, bis sie zwischen "Nebenwirkungen" und "Medikamentenmißbrauch" eine Grenze ziehen kann, die dann vom Patienten nie eingehalten wird... Einfach ist es beim Alkohol: Der ist immer Gift - gerade weil es sich bei Bier, Schnaps und verwandtem Getränk um das Dämpfungs-, Narkose- und Arzneimittel des modernen Alltags handelt, das sich die Leute selbst verordnen.
Krebse und Allergien gelten nicht als Vergiftungen; aber so sehr verschieden sind sie davon nicht. Von radioaktiver Strahlung, von einer ganzen Latte von Stoffen, von etlichen physiologischen Reizen ist bekannt, daß sie bestimmte Zellen in der Weise schädigen, daß diese wuchern und den Organismus allmählich zerstören; dies das Gemeinsame an den Krebskrankheiten. Allergisch heißen Immunreaktionen auf Stoffe, die "normalerweise" den menschlichen Stoffwechsel gar nicht oder jedenfalls nicht sofort und nicht bedeutend durcheinanderbringen; die Freisetzung verschiedener "Mediatoren" - wie Histamin - aus der Zelle verursacht da die bekannten Erscheinungen.
"Im Gegensatz zu den geläufigen Modi einer 'Aggression von außen' durch akute und chronische Einatmung toxischer Substanzen sind die durch exogene inhalative Allergene hervorgerufenen Krankheitserscheinungen der Atemwege vorwiegend Folgen einer Einwirkung von nicht-aggressiven, primär a-pathogenen Stoffen unseres 'natürlichen' Lebensraumes. Diese primär a-pathogenen Stoffe werden erst aggressiv; wenn nach Ablauf einer 'Umstimmung' des Organismus (Sensibilisierungsperiode) eine spezifische Antikörperbildung erfolgt ist, und sie hierdurch Antigen- bzw. Allergenfunktion entwickeln. Im allgemeinen ist die durch Sensibilisierung erlangte Allergenpotenz eines Stoffes nur für solche Individuen pathogen, die genotypisch durch eine diesbezügliche Konstitution (Atopie) ausgezeichnet sind. Diese Regel wird nur überspielt, wenn unter besonderen Bedingungen die Allergenanflutung und damit die 'natürliche' Exposition nicht mehr der des normalen Lebensraumes entspricht, z.B. bei außergewöhnlicher Exposition an speziellen Arbeitsplätzen ('aufgezwungene' Sensibilisierung). Der Massivität wie auch der Kontinuität der Exposition erliegt dann auch der 'Normale'." (Der Internist, 1986/27, S. 344)
Selbst einmal angenommen, hinter den Gänsefüßchen wäre tatsächlich ein objektiver Unterschied zwischen 'gezwungenermaßen' umgestimmten 'Normalen' und "genotypisch ausgezeichneten" Allergikern auszumachen, bleibt die Krankheitsursache immer noch die, daß die "Anflutung" aller möglichen Stoffe dem Organismus spezielle Leistungen abverlangt, nämlich die, das Einatmen, Berühren, Verzehren usw. von allerlei Exkrementen der zivilisierten Welt ohne "Entgleisungen" in der Immunantwort auszuhalten - eben bis zur Erschöpfung dieses seltsamen, durch immer mehr neue Substanzen geforderten und belasteten "Vermögens".
Schließlich bevölkern massenhaft Patienten mit "Leiden ohne faßbare organische Ursache" die Arztpraxen. Sie klagen über vielfältige Mißempfindungen, die
"typischen vegetativen Beschwerden... körperliche Unruhe, allgemeine Anspannung, Ruhelosigkeit, Gespanntheit, Erschöpfung" sowie "Herz- und Magenbeschwerden, Atemnot, Aufstoßen, Sodbrennen, Verstopfung, Kopfschmerzen" (W. Bräutigam, Psychosomatische Medizin, Stuttgart 1981, S. 30),
die sich auch zu handfesten Krankheiten auswachsen können, wie
"peptische Geschwüre, Kolitis, Bronchialasthma, essentielle Hypertonie, Ekzem, Thyreotoxikose, rheumatische Arthritis" (ebd., S. 3).
Diese "psychovegetativen Störungen" mit ihren organischen Folgeschäden sind keine eingebildeten Leiden - auch wenn mancher, vor allem mancher Arzt, sie dafür hält -, sondern, wie das "psycho" schon andeutet, ein Leiden an wirklichen oder eingebildeten Sorgen, deren Grund und Gegenstand der Betroffene nicht ausräumen kann; sei es, weil er tatsächlich gar nicht Herr darüber ist, sei es, weil er seine Unzufriedenheit von vornherein gar nicht auf die Dinge und Verhältnisse richtet, die ihn stören, sondern gegen sich selbst. Die Anspannung, die sich aus solchen unauflösbaren Sorgen ergibt, ist nicht mehr und nicht weniger "somatisch" als die, mit der einer beispielsweise die Belastungen einer Schwerarbeit bewältigt, zu der er sich täglich hinkommandiert; jedenfalls hat sie dieselben Folgen für den Blutdruck, die Pepsin-Produktion usw. Und in der Masse der Fälle ist sie eben auch dauerhaft genug, um zur Schädigung des so fruchtlos angestrengten Organismus zu führen. '
...und ihr Grund: Die moderne Klassengesellschaft
Wenn man es so begriffslos betrachten will, dann kann man leicht feststellen, daß die modernen "Volksseuchen" vor - wie auch immer ausgetüftelten - Klassenschranken nicht Halt machen. Es soll aber doch keiner so tun, als wären die Sachen so gänzlich unbekannt oder zweifelhaft, an denen die zivilisierte Menschheit in so phantasielos stereotyper Weise herumlaboriert, bis sie an dem einen oder anderen Gebrechen und letztlich allemal an Herzversagen krepiert.
Krankheitsursache Lohnarbeit
Beim Arzt stellen sich - spätestens als Rentner - die Opfer einer Arbeit ein, die fortwährende Verausgabung der einseitigsten Art erfordert und den Leuten Nerven, Muskeln, Knochengestell usw. verbiegt. Natürlich weiß jeder Patient für sein Leiden ganz spezielle Arbeitsbelastungen anzugeben - sofern er die nicht überhaupt als selbstverständlichen Daseinsumstand vergißt -, die ihn treffen wie ein Zufall. Die gleichförmigen Ergebnisse sind jedoch alles andere als eine zufällige Häufung von Zufällen.
- Die gesamte Konstitution eines Menschen und insbesondere die seiner Nerven leidet unter der Arbeit in wechselnden Schichten, was mit dem wirtschaftlichen Aufstieg der BRD gerade in den letzten Jahren fast schon zur regulären Anforderung geworden ist. Mediziner wissen aus diesem reichen Erfahrungsschatz, daß Nachtarbeit
"immer ein pathogener Faktor bleibt, da es eine Umstellung des Organismus auf die veränderte Lebensweise unter diesen Bedingungen nicht gibt" (H. Valentin, Arbeitsmedizin, Stuttgart 1971, S. 81).
- die Betroffenen erfahren das sowieso.
- Akkordarbeit ist auf eine "Normalleistung" bezogen, deren Überbietung der wirkliche Normalfall der so bezahlten Arbeit ist. Diese "Normalleistung" ist manteltarifvertraglich durch ihre Beziehung zur Gesundheit definiert: als die Arbeitsleistung, die von durchschnittlichen Arbeitskräften "ohne Gesundheitsschädigung auf die Dauer erreicht werden kann". Dieses Maß hat keine Medizinerkommission ermittelt. Seine Wahrheit zeigt sich an den Schäden, die das dauerhafte Arbeiten über die festgelegten 100% "Normalleistung" hinaus mit sich bringt.
- Arbeit in einem individuell abgerechneten Akkord ist seltener geworden in der modernen Fabrik. Sie paßt nicht zu einem Betriebsablauf, in dem das Arbeitstempo "durch die Maschinerie" diktiert ist - genauer: durch die Zusammenfassung verschiedener Bedienungstätigkeiten an Maschinen zu einem Arbeitsplatz. Dieser ist eine haargenau definierte Summe von Leistungsanforderungen, die in den gesamten Betriebsablauf eingepaßt sind. Diesen Anforderungen zu entsprechen, ist für den allemal unterstellten "durchschnittlichen Arbeiter" kein Problem - und auf die Dauer mindestens so ruinös wie eilige Arbeit im Akkord. Diese Formen der Arbeitsorganisation folgen einem eindeutigen Prinzip: Die Arbeitskräfte werden mit Arbeitsgerät und Maschinerie versehen, so daß der Arbeitsaufwand im Verhältnis zum materiellen Arbeitsertrag sehr klein wird und manchmal gegen Null geht; das aber nicht, um die Arbeitskräfte zu entlasten und ihnen Aufwand zu ersparen, sondern mit dem Nebenzweck oder gelegentlich sogar in der Hauptabsicht, möglichst viel von dem so ertragreich gemachten Arbeitsaufwand aus ihnen herauszuholen. Der erbrachte Arbeitsaufwand der Arbeitskräfte zählt gar nicht einfach als Aufwand, den diese sich nach Moglichkeit ersparen, indem sie ihn produktiver machen; er wird selber als ein Ertrag gerechnet, von dem eine entsprechende Arbeitsorganisation möglichst viel herzubringen hat. Als der eigentliche Aufwand gilt nicht der des Arbeiters, sondern der für die angewandten Arbeitskräfte. A n denen wird ein Verhältnis zwischen Aufwand - in Form von Lohn bzw. Gehalt - und Ertrag - in der doppelten Gestalt maximaler Produktivität und maximaler Verausgabung ihrer Arbeitsleistungen - aufgemacht und "optimiert".
Diese eigentümliche Aufwands- und Ertragsrechnung ist das allgemeine Gesetz sämtlicher Formen betrieblicher Leistungsorganisation, die die Arbeitskräfte auf die Dauer in so stereotyper Weise ruinieren. Und sie ist die Rechnungsart, die das Arbeitsleben der mit modernen Zivilisationskrankheiten gesegneten Gesellschaften allgemein beherrscht. Ihr ökonomischer Name ist "Lohn-Stück-Kosten"; daß von deren Senkung, und zwar vor allem durch Steigerung der erbrachten Leistung und ihres Ertrags, der "Industriestandort BRD" abhängt, wird von allen Zuständigen täglich beschworen. Auf jeden Fall entscheidet sich auch und wesentlich an ihnen, inwieweit das Interesse derer Erfolg hat, die Arbeitskräfte bezahlen, sie als Produktionsmittel anwenden und deswegen nicht bloß Arbeit, sondern Arbeit pro bezahlter Zeit, also Leistung sehen möchten. Und da dieses Interesse das beherrschende ist und an den Arbeitsplätzen der Nation die Gestalt eines ökonomisch-technischen Sachzwangs zur vorgeschriebenen Leistung angenommen hat, muß Lohnarbeit gesundheitsschädlich sein für die, die sie erbringen.
Es gibt daneben Umstände der modernen Lohnarbeit, die die Gesundheit der Arbeiter direkt angreifen und in unserer zivilisierten Gesellschaft zum Gegenstand eines Geschäfts eigener Art geworden sind: Für das Erdulden von Hitze, Staub, Gift, Lärm u.a. gibt es, tarifvertraglich festgelegt, ein bißchen Geld zusätzlich. Mit diesem Tausch von Gesundheit gegen ein Stück Lohn wird den Arbeitern eine Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst zugemutet, die auch noch in anderer Weise ihre Wirkung tut. Ziemlich durchgängig werden Schutzvorschriften und -einrichtungen als das Stück Arbeitsaufwand dingfest gemacht, das man sich sparen muß, um mit den Leistungsanforderungen zurechtzukommen. Unfallmediziner betreuen die Folgen und entnehmen ihren Erfahrungen leicht die Lehre, daß Lohnarbeiter ziemlich "unvernünftige" Geschöpfe sind. Dabei ist hier keineswegs ein Mangel am Werk, sondern die höchst systemkonforme Anstrengung, die Lohnarbeit als Mittel für den eigenen Lebensunterhalt auszuschöpfen, Leistungsaufwand und Lohnertrag in ein annehmbares Verhältnis zu bringen. Daß dieses Bemühen sich in der Praxis blamiert, eben z.B. an den Unfallrisiken, die dafür eingegangen werden müssen, oder an den Schäden durch extra vergütete Extra-Bedingungen am Arbeitsplatz, das liegt nicht an den Lohnarbeitern, sondern an ihrer Einkommensquelle, der Lohnarbeit, die eine lohnende Kalkulation für sie nicht zuläßt. Auch in der "freiwilligen" Selbstruinierung von Arbeitern herrscht also eine erzkapitalistische Notwendigkeit.
Krankheitsursache Rentabilität
Dem instrumentellen Umgang von Lohnarbeitern mit ihrer Physis liegt eine glücklich aufgehende Kalkulation der anderen Seite zugrunde. Die Unternehmer ordnen sämtliche gesundheitsschädlichen Folgen ihrer Produktion als externe Effekte ein, die sie nichts angehen und die vor allem keinen Einwand gegen ihr Hauptinteresse an Rentabilität hergeben. Das rechnen sie zu ihrer bürgerlichen Handlungsfreiheit. Und darin gibt der moderne Sozialstaat ihnen Recht, und zwar so gründlich, daß er anschließend auch noch selber darauf achten muß, daß die angerichteten Gesundheitsschäden den Charakter von Nebenwirkungen behalten oder kriegen, die vom Standpunkt des ökonomischen Hauptzwecks aus wirklich unvermeidlich sind. Die Kriterien dafür sind notwendigerweise immer strittig.
- Für die Arbeitswelt macht der Sozialstaat mit Arbeitsschutzvorschriften, mit seinen berühmten "MAK"-Werten - über deren Ermittlung später -, mit seiner Gewerbeaufsicht usw. den wenig eindeutigen Standpunkt geltend, daß der Durchschnitt aller Schädigungen im Durchschnitt auszuhalten sein muß. Ihm liegt daran, schädliche Arbeitsverhältnisse so in die Schranken zu weisen, daß ihre schädigende Wirkung als bloße Möglichkeit angesehen wer den kann: als Gesundheitsgefahr, die unter öffentlicher Kontrolle steht. Damit hat er grundsätzlich seinen Beitrag geleistet; ob das im Einzelfall reicht, ermittelt der Meinungsstreit der Interessengruppen, die natürlich alle auf demselben sozialpolitischen Grundsatz stehen müssen.
- Wo das Dienstverhältnis endet und "die Umwelt" anfängt, hilft dem Sozialstaat bei der Begrenzung von Gesundheitsschäden durch die produktive Nutzung des Eigentums ein Paragraph des bürgerlichen Gesetzbuches weiter, der den Fall regelt, daß zwei Eigentümer sich mit der geschäftlichen Nutzung ihrer benachbarten Grundstücke in die Quere kommen. Aus diesem schönen Rechtssatz sind in der BRD alle staatlichen "Umweltschutz"-Vorschriften deduziert worden; daneben kann natürlich jeder auf Schmerzensgeld und Entschädigung klagen, wenn er Beweise für die Verursachung seiner Leiden durch einen bestimmten Kapitalisten hat. So sind die Grenzen abgesteckt, bis zu denen Atemluft, Wasser und Boden erst einmal gebührenfrei und dann zweitens darüber hinaus gebührenpflichtig als Müllkippe benutzt werden dürfen - logischerweise im Interesse eines allseitig munter voranschreitenden Geschäftslebens, denn um dessen Rechte und Pflichten geht es ja dabei.
- Was für die betriebsexternen "Nebenwirkungen" des Produktionsprozesses gilt, das trifft sinngemäß genauso für die hergestellten Produkte zu. Sie müssen als Geschäftsartikel taugen; das ist das erste Interesse einer Produktion für den Markt und der oberste Sachzwang, den der Staat mit der Inszenierung einer Konkurrenz produzierender Kapitaleigentümer in Kraft setzt. Rücksichtnahme auf die Bekömmlichkeit der Produkte ist da, sofern nicht ein teures Luxusangebot, ein sachfremder Gesichtspunkt, den die Staatsgewalt deswegen als Beschränkung der unternehmerischen Freiheit - sie kennt also deren Wirkungen - geltend macht. Sie tut dies wieder nach dem systemgemäßen liberalen Grundsatz, daß ein Durchschnittsverbraucher die erlaubten Beimischungen und Begleiterscheinungen muß aushalten können, wenn er nicht stur immer dasselbe kauft. Daß die entsprechenden Verbote nur so wirksam sind wie ihre Überwachung gründlich und wie die angedrohte Buße bedrohlich; daß deswegen manche Strafe und manches Bestechungsgeld leichten Herzens bezahlt und nichts verhindert wird; daß staatliche Verbote im Gegenteil den Erfindergeist dazu anstacheln, das Verbotene durch Zeug zu ersetzen, das schwerer zu entdecken ist - Glykol im Wein statt sauberem Rübenzucker -: Dieser Dauerzirkus um Giftiges ist die notwendige Errungenschaft eines Systems, in dem die Staatsgewalt das Geschäftsinteresse, für das sich außer seinem Erfolg nichts von selbst versteht, zum Prinzip erhebt.
Mediziner bekommen so in ihren Praxen und Krankenhäusern die Ergebnisse eines alltäglichen biologischen Massenexperiments geboten. Die Versuchsanordnung - klassenneutral, aber mit berufs-, wohnort- und einkommensspezifischen "Expositionsbedingungen" -: Bis zu welcher Grenze ist die Spezies Mensch gegen Gift immun und mit ihrem Stoffwechsel als Müllverarbeiter tauglich? Und siehe da: Die Spezies reagiert mit Bronchitis, Krebs und AIlergien und ist, dank einer fortschrittlichen Medizin, härter im Nehmen als die meiste sonstige Fauna und Flora.
Krankheitsursache Konkurrenz
Eine Anzahl der Belastungssymptome, die als "Streß" bekannt sind, hat die Volksweisheit unter dem Namen "Managerkrankheit" zusammengefaßt. Das ist in einer Hinsicht gar nicht so verkehrt - auch wenn heutzutage gerade diese Leiden zur Massenerscheinung geworden sind. Denn auch seinen eigenen leitenden Funktionären macht der Kapitalismus das Leben nur einerseits leicht; er macht es andererseits zu einem fortwährenden Konkurrenzkampf um die Karriere i n der Firma und um den Geschäftserfolg der Firma. Immerhin winkt ein lohnender Preis für die Ungemütlichkeit des Konkurrierens.
Im Vergleich dazu nimmt es sich kleinlich und ganz unzweckmäßig aus, was das Fußvolk des Geschäftslebens an Konkurrenzbemühungen an den Tag legt. Der Verdacht gegen die Kollegen, sie wollten sich auf Kosten anderer - gemeint ist immer man selbst - angenehmere Posten ergattern, macht sich meist gar nicht an einer nennenswerten Karriere fest, sondern an unsympathischen Charakterzügen, die jeder an jedem leicht entdeckt; das Selbstbewußtsein und die Selbstdarstellung als unverzichtbares Mitglied der Betriebsfamilie, das seinen Preis wert ist und mehr als das, will gar nicht so sehr mit einer Karriere als mit ein bißchen Bewunderung honoriert werden; usw. Die Konkurrenzkämpfe die da geführt werden und alle Beteiligten über kurz oder lang psychovegetativ leiden tassen, spielen sich in einer psychomoralischen Welt für sich ab, die nichts mit den Gesichtspunkten zu tun hat, nach denen ein modernes Unternehmen seine Personalplanung betreibt.
Dennoch sind diese der Ausgangspunkt und der Grund all der "menschlichen" Ungemütlichkeiten, die die Arbeitswelt so stereotyp bereithält und nicht irgendwelche naturwüchsigen Laster wie Neid und Erbsünde. Das ist an de kleinen Widerspruch zu bemerken, den die Umgangsformen treuer Firmenangehöriger aufweisen. Da kollidieren nämlich die gleichartigen Anstrengungen aller Beteitigten, sich in "ihrem" Betrieb und an "ihrem" Arbeitsplatz einzurichten, so als wären die ein passendes Betätigungsfeld der eigenen Individualität; sich moralisch mit den Umständen zu identifizieren, unter denen man den Hauptteil seines Lebens verbringt. Für jeden so selbstbewußt engagierten "Arbeitnehmer" sieht es natürlich immer so aus, als würde diese Anstrengung an gewissen anderen scheitern, die einen nicht zum Zuge kommen lassen. Der wirkliche Haken liegt allerdings darin, daß solchem moralischen Bemühen der Arbeitskräfte auf Seiten des "Arbeitgebers" gar nichts entspricht; weder eine entsprechende Würdigung der Persönlichkeiten, die zur Arbeit antreten, noch eine Rücksichtnahme auf deren Arrangement mit den Arbeitsbedingungen, wenn Umschichtungen im Betriebsablauf oder Entlassungen anstehen. Zwar wird Arbeitsmoral gefordert; und die bringt kein Mensch zustande, ohne sich seine Arbeit irgendwie unter dem Gesichtspunkt zurechtzulegen, auf ihn und seine Moral käme es an. Letzteres ist aber einfach nicht wahr; und daran scheitert das "Arbeitnehmer"-Ideal, das unter den Theoretikern des bürgerlichen Moralismus als "Selbstverwirklichung in der Arbeit" einen so guten Ruf hat. Leider wird es deswegen noch lange nicht aufgegeben, obwohl die Einsicht ja auch nicht schwer zu haben ist, daß kapitalistische Unternehmen nur total auswechselbare Arbeitskräfte brauchen können. Diese Einsicht verträgt sich allerdings schlecht mit dem Entschluß, als Lohnarbeiter im Kapitalismus sein Glück zu versuchen. Abhängige Variable in den Rentabilitätsrechnungen der Geschäftswelt und in staatlichen Kalkulationen zu sein, das verlangt den Glauben, genau darin läge die höchstpersönliche Lebenschance.
Dieser ebenso systemkonforme wie verkehrte Glaube ist das "psycho", das am Anfang eines Großteils der psychovegetativen Störungen steht, die die Beschaffung von Gesundheit zum Massenbedürfnis gemacht haben. Mancher "Arbeitnehmer" wird sogar erst bei seiner Entlassung an diesem Glauben irre, trauert als Arbeitsloser oder Rentner seiner betrieblichen Heimat nach und hat keine Ahnung, wie er sich damit als Kunstprodukt der kapitalistischen Konkurrenz unter Lohnarbeitern erweist.
Krankheitsursache Freizeit
Angeblich ziehen sich moderne Menschen den Großteil ihrer Gebrechen ganz außerhalb des Berufslebens zu: durch die Genußmittel, vor deren Gefährlichkeit der Bundesgesundheitsminister warnt; durch Freizeitaktivitäten, die oft genug strapaziöser ausfallen als die Arbeit selber; usw. Wenn es so wäre, daß die Leute ihre Gesundheit an ein Stück Genuß verwenden, dann sollte man ihnen da allerdings auch nicht mit einem kritischen Gesundheitsbewußtsein reinreden. Schließlich hätten sie sich dann wenigstens einmal selber den Zweck gesetzt, für den sie sich ein wenig verschleißen; wenn sie das lohnend finden, dann hätte sich wenigstens dieses Stück ihres körperlichen Ruins einmal für sie gelohnt und nicht bloß für ihre Benutzer.
Allerdings ist es so um die Freizeit der meisten Leute nicht bestellt. Erst einmal kommt nach der Arbeit die Befriedigung einer Anzahl notwendiger Bedürfnisse. Dazu würde eigentlich auch, medizinisch gesehen, ein so langes Ausruhen und so viel an kompensatorischer Betätigung gehören, daß die verschlissenen Organe eine Chance zur Erholung bekämen. Bis die Selbstheilungskräfte des Organismus ihr Werk verrichtet haben, ist die Freizeit aber schon wieder vorbei und an Lebensgenuß noch gar nichts passiert. Die Notwendigkeiten der Erholung widersprechen der Freiheit, sich sein Leben nach Geschmack einzurichten. Deswegen werden sie geopfert; z.B. der "nötige Schlaf" dem Skatabend. Das läßt sich durchaus so auffassen, als ruinierte sich der Mensch um seiner frei gewählten Vergnügung willen - allerdings nur, weil man nach einer versumpften Nacht wieder aufstehen muß; also auch nur von dem Standpunkt aus, daß der Mensch erstens fürs Arbeiten und zweitens für die kompensatorischen Notwendigkeiten da ist, die sich daraus ergeben.
Das Bemühen, sich in der Freizeit das Leben schön zu machen, ist weiterhin noch vor allen anderen Entscheidungen eine Geldfrage. Für Lohn- und Gehaltsempfänger bis hinauf zum Durchschnitt ist das eine -je nach Familienverhältnissen - sehr eng gezogene Schranke, sofern überhaupt bloß das Notwendige zu finanzieren ist. Die Freizeit des größten Teils dieser Klasse geht daher dafür drauf, sich finanziell ein bißchen Luft zu verschaffen, was schon wieder auf Arbeit statt Erholung hinausläuft; sei es die berühmte "schwarze", sei es die private am eigenen Haus, das dereinst die Mietausgaben spart und vielleicht ein freieres Leben ermöglicht - wenn man überhaupt noch dazu kommt.
Dabei wird ein Familienleben abgewickelt, das erst einmal unter lauter Kompensationsansprüchen steht; logischerweise unter solchen, die es gar nicht erfüllen kann. Entgangene Lebenschancen werden nicht dadurch welche, daß man sie mit Gatten und Kindern teilt. Deswegen wird umgekehrt der Genuß des familiären Beisammenseins so stereotyp zum Betätigungsfeld und auch zum Ausgangspunkt weiterer psychovegetativer Syndrome. Sexualmediziner und Psychiater besichtigen die Folgen.
Und dann sollen Rauchen, Saufen und fettes Essen die Hauptgeißeln der Menschheit sein?! Dabei haben sogar diese Genüsse ihren schlechten Ruf gar nicht zu Recht: Sie gehören noch weit mehr zur Sphäre der unentbehrlichen Kompensationen als ins Reich der Freiheit.
Das fängt im Kapitalismus erst dort an, wo Geld keine Rolle spielt. Die Hauptrolle spielen dort dafür eingebildete und wirkliche gesellschaftliche Repräsentationspflichten; und die entsprechenden "Streßsymptome" bestätigen den Volksglauben, daß "Geld allein auch nicht glücklich macht". Moralisten mögen das als ausgleichende Gerechtigkeit verbuchen.
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Über die Ursachen der modernen"Volksseuchen" wäre damit das Wichtigste gesagt. Für den bürgerlichen Verstand und seinen medizinischen Forschungsdrang ist das allerdings das Allerunwesentlichste. Denn Kritik ist unpraktisch, weil sich i m Kapitalismus ja doch keiner danach richtet. Sie macht keinen wieder gesund - den die Klassengesellschaft kaputtgemacht hat.
Die Medizin zwar auch nicht. Aber sie kümmert sich wenigstens darum: borniert, konstruktiv und unerbittlich dem reichlich anfallenden Krankengut verpflichtet.
Gesundheit medizinisch
Wissenschaft im Dienste der Ideologie der "Risikofaktoren"
Natürlich kennt die wissenschaftliche Medizin den Verschleiß, dem die Physis zivilisierter Menschen unterliegt. Wie sie ihn zur Kenntnis nimmt, das macht ihren ideologischen Ausgangspunkt aus. Sie hat damit auf eigentümliche Weise theoretisch ihren Frieden gemacht: Wo sie einen Verbrauch des menschlichen Organismus durch die ihm abverlangten Leistungen als Krankheitsursache anerkennt, versteht sie das grundsätzlich als Zufall und individuelle Ausnahme, wenn auch u.U. als häufige; und wo sie die Notwendigkeit des Verschleißes einräumt, hält sie ihn nicht für eine Krankheit im eigentlichen Sinn, sondern rechnet ihn dem allgemeinen Schicksal des Alterns und Sterben-Müssens zu, das allenfalls mal schneller, dafür bei anderen langsamer zuschlägt.
So steht die Medizin, als Abteilung des bürgerlichen Verstandes, auf dem Standpunkt der Leistungen, die "das moderne Leben" den Leuten abfordert. Daß die Belastungen, die es "nun einmal" gibt in der von ihr betreuten Welt, ausgehalten werden, das hält sie für das Normale und für den Standard, an dem ein Organismus sich schon bewähren muß, um als Normalfall gelten zu können. Davon ist, nach medizinischem Verständnis, die Krankheit eine Abweichung. Hält einer nicht durch, dann ist demnach der betroffene Organismus als krankhaft bzw. anfällig einzustufen. Und diese - aus dem Vergleich mit den vergleichsweise Gesundgebliebenen hergeleitete - fiktive "Eigenschaft" einer irgendwie gearteten "Disposition" wird zum Leitfaden einer tiefer schürfenden Ursachenforschung.
Diese richtet sich auf jedes Stück des Organismus, das von einer Erkrankung in Mitleidenschaft gezogen wird, und auf jeden Vorgang in ihm, der am Krankheitsprozeß beteiligt ist. Denn von allem läßt sich ja mit gleichem Recht behaupten, daß die Krankheit oder zumindest ihr Vollbild nicht zustandekäme, wenn dieses Organ und jener Zellstoffwechsel "richtig" funktionieren würde. So hat sich die Medizin ein ausgedehntes Wissen über Krankheitsverläufe erarbeitet, mit dem sie sich die Kenntnis und Erklärung der Krankheitsursachen schwermacht:
"Die Ätiologie der essentiellen Hypertonie ist noch nicht eindeutig geklärt, doch kann als erwiesen gelten, daß erbliche und persönlichkeitsbedingte Faktoren eine ausschlaggebende Rolle spielen. Die Entstehung eines Hochdruckleidens als Folge von anhaltender beruflicher oder körperlicher Überbelastung oder besonderer seelischer Belastungen ist nicht anzunehmen." (H. Valentin, Arbeitsmedizin, Stuttgart 1985, S. 333)
Solche "Noch-nicht"-Erkenntnisse können überhaupt nie einer eindeutigen Klärung Platz machen, weil sie den logisch entscheidenden kleinen Unterschied zwischen allen am Krankheitsgeschehen mitbeteiligten Ausstattungsmerkmalen eines Organismus und den Leistungen, für die er so verkehrt oder unzureichend ausgestattet ist und die er trotzdem erbringen muß, gerade nicht machen wollen. Die angeblich fehlende Klärung ist gar kein Mangel an Wissen, sondern ein Fehler, der der Medizin z.B. bei Infektionskrankheiten nicht unterläuft. Die Ätiologie des Typhus ist mit der Entdeckung des Erregers geklärt, auch wenn es jede Menge "erblicher" und "persönlichkeitsbedingter Faktoren" gibt, die beim Ausbruch und für einen unauffälligen oder tödlichen Verlauf der Krankheit "eine ausschlaggebende Rolle spielen". In solchen Fällen sträubt sich der bürgerliche Verstand nicht dagegen, den Krankheits-"Keim" und die Reaktionen des Organismus sauber voneinander zu unterscheiden - das wäre auch seltsam, sich auf den Standpunkt eines Parasiten zu stellen und dem Organismus, der daran zugrundegeht, seine Anfälligkeit dafür als die einzige "als erwiesen geltende" Krankheits- und Todesursache nachzusagen, nur weil jemand anders die Infektion durchgestanden hat. Im Fall der Ruinierung von Menschen durch ihre gesellschaftlich gemachten Lebensbedingungen jedoch leuchtet dem bürgerlichen Denken das Durcheinanderwerfen von Ursache und Verlauf, von Warum und Wie eines Gesundheitsschadens schwer ein, es gilt als brauchbare Diagnose, z.B. einem Asthmatiker, dem man kein bestimmtes Allergen als Auslöser seines Leidens nachweisen kann, ein "hyperreagibles Bronchialsystem" zu bescheinigen - womit wieder einmal eine hybride Fremdwortbildung den Sieg über den logischen Unterschied zwischen Krankheitsgrund und betroffenen Organen davonträgt. So lassen sich Krankheiten "ergründen", ohne die Leistung zu kritisieren, mit der der Organismus nicht fertig wird: Man problematisiert die Eignung für Leistungen, die gar nicht weiter als solche gelten, weil sie ja nun einmal selbstverständlich gefordert sind und von verschiedenen Leuten unterschiedlich ausgehalten werden.
Dabei bleiben die gesundheitsschädlichen Existenzbedingungen eines zeitgenössischen Organismus keineswegs einfach außer Betracht. Schließlich "machen" noch so viele organismuseigene "Faktoren" noch nicht die Krankheit - außer in den wenigen Fällen wirklicher Erbkrankheiten. Es bleibt also die Frage nach "äußeren Faktoren", die geeignet sind, den Gesundheitsschaden "auszulösen"; und mit dieser Frage nimmt die Medizin die Lebensumstände der Patienten ins Visier: als lauter mögliche Krankheitsauslöser. Diese Betrachtungsweise lebt von ihrer Begriffslosigkeit. Sie zielt ja gar nicht darauf, den wirklichen Grund auf den Begriff zu bringen - die Leistung eben, die der zivilisierte Lebenskampf im Kapitalismus verla gt -, sondern sie will alles als mitwirkende Größe für möglich halten. Ob irgendein Lebensumstand wirklich eine Rolle spielt, das entscheidet der bürgerliche Verstand unter Anwendung eines Verfahrens, das sich überhaupt in den Sozialwissenschaften bewährt hat, um mit einem Schein von Objektivität total begriffslos - aber nach vorgefaßten Meinungen, den "Hypothesen" - beliebige Zusammenhänge zu behaupten: Er fahndet nach statistischen Korrelationen zwischen dem Vorhandensein "äußerer Faktoren" und den interessierenden Krankheitsbildern.
Was dabei überhaupt als "äußerer Faktor" in Betracht gezogen wird, das zeugt allemal davon, daß die wirklichen Krankheitsgründe so unbekannt und rätselhaft gar nicht sind, auch wenn sie nur unter anderen Korrelationen benannt werden. Beispielsweise treten Mediziner häufig an, um gesellschaftswidrige Verdächtigungen zu dementieren - und verraten so, daß sie es besser wissen. Ein Musterfall dafür ist der - pathophysiologisch unzweifelhafte - Zusammenhang zwischen radioaktiver Bestrahlung und bestimmten Krebskrankheiten; das Wissen, daß viel Strahlung viel und wenig Strahlung wenig schädigt, wird in ein Maß der Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Krebs als Todesursache übersetzt, und zwar hauptsächlich in verharmlosender Absicht. Die entgegengesetzte Beweisabsicht wird - genauso äußerlich und prozentmäßig - mit Vorliebe am Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs verfolgt; d a darf man sogar von Ursächlichkeit sprechen...
Der Fehler der Krankheitsursachenfahndung ist fertig, wenn am Ende die im Organismus gegebenen physiologischen Bedingungen und die statistisch halbwegs signifikanten "auslösenden Umstände" gar nicht mehr unterschieden, sondern wie Kraut und Rüben unter der übergreifenden Kategorie der "Risikofaktoren " zusammengewürfelt werden. Eine Illustrierte wie "Der Spiegel" mit seiner Vorliebe für erkünstelte Aporien des bürgerlichen Verstandes zehrt von diesem, durchaus in der medizinischen Wissenschaft beheimateten, verkehrten Gedanken, wenn er in einer aufgeregten Titelgeschichte über den Herzinfarkt auf nicht weniger als 560 angeblich herzschädliche "Risikofaktoren" kommt, von denen natürlich keiner als Ursache festgehalten werden kann, weil es ja bloß mögliche Ursachen - logisch: Bedingungen - sind: Es kann an einer Erhöhung der "Fette im Blut, ausgelöst durch falsche Ernährung mit falschen Fetten", an "Bewegungsmangel oder Streß", an "erhöhtem Blutdruck, Zucker oder Harnsäurespiegel" liegen, aber auch an "einem abnormen Gen, das offenbar die Neigung zum Herzinfarkt auslöst", oder am Kochsalz; aber andererseits - selbst "Rauch muß nicht gesundheitsschädlich sein", schließlich ist Churchill mit seiner Devise "no sports, just whisky and cigars" 90 Jahre alt geworden, und überhaupt ist "ein Herzinfarktkandidat noch lange kein Herzinfarktopfer". So können die Illustrierte und ihr Professor gemeinsam einen Fortschritt der Medizin zum Nicht-Wissen resümieren: Der Herzinfarkt wäre "dunkel in seinen Ursachen, lebensbedrohlich in seinen Folgen, durch ärztliche Kunst nicht zu beeinflussen" (Der Spiegel, 19/87). "Die Ursachen für die in diese Jahrhundert eingetretene enorme Zunahme der Erkrankung sind im einzelnen unbekannt" (Prof. Kober ebd.) - vielleicht liegt der Grund der Krankheit, dies der letzte Schrei solcher "Wissenschaft", ja einfach darin, daß die Leute früher vorher an anderen Sachen gestorben sind.
Diese seltsame Krankheitsursachenforschung gibt am Ende also selbst ihre theoretische Haltlosigkeit zu Protokoll. Dieses gewollte Unwissen stört andererseits überhaupt nicht weiter, weil es praktisch gültige Interessen gibt, die von vornherein festlegen, wo es langgeht beim Problematisieren, Ermitteln und Wieder-Problematisieren von "inneren" und "äußeren Risikofaktoren" und wo Halt gemacht gehört.
Das medizinische Ethos I: Lindern, Verzögern, Rehabilitieren - was "nun mal" nicht zu verhindern ist
Die Erforschung des Krankheitsverlaufs und der dabei mitwirkenden Eigenschaften des Organismus, also der "inneren Faktoren", folgt dem Interesse, erstens in die Entstehung, zweitens in den Ablauf, drittens in das Ende des Leidens einzugreifen, und zwar so, daß seine Entstehung womöglich unterdrückt oder wenigstens hinausgezögert, sein Fortgang ver- oder behindert oder wenigstens gelindert, sein Ende wiederum verzögert oder wenigstens erleichtert wird. Dieses Interesse verfügt über ein Ideal, nämlich das der Resistenz: Das schönste wäre es, man könnte den Organismus und seine "Bausteine", die Zellen, gegen Überbelastung und deren Folgen, gegen Gift und seelische Anspannung immunisieren wie durch Impfung gegen manche Bakterien. Daß dieses Ideal eines bleibt, liegt in der Natur der Sache: Wenn der Gebrauch eines Organs so beschaffen ist, daß er mit dessen Verbrauch, der Dienst des Körpers mit dessen Schädigung zusammenfällt, dann läßt sich der Verschleiß schwerlich als im Grunde zufällige Nebenwirkung absondern und unterdrücken. Deswegen ist die Medizin in ihrer physiologischen und technologischen Forschungs- und Entwicklungstätigkeit auch ein gutes Stück realistischer. Sie bemüht sich, und das mit viel Erfolg, um Hilfe beim Aushalten: beim Aushalten der ersten Belastungssymptome, bis die schließlich eintretende Schädigung zum irreversiblen Ausgangspunkt eines härteren Leidens wird; sodann beim Aushalten dieses Leidens - im Idealfall derart, daß dem Patienten in seinem Alltag nichts weiter anzumerken ist.
Das Ideal, alle "inneren Risikofaktoren" schon vorab in den Griff zu bekommen, überlebt in Gestalt des altehrwürdigen Grundsatzes, daß "Vorbeugen besser als Heilen" sei, dem freilich der Widerspruch anhaftet, daß erst der "Ausbruch" eines Leidens darüber aufklärt, gegen welches "Risiko" man sich besser vorher gewappnet hätte. Bis dahin sind vorbeugende Kompensationshilfen - insbesondere wenn sie etwas kosten, wie Kuren, Massagen, Krankengymnastik - medizinisch nicht indiziert, weil sie sich gegen "Beschwerden ohne Krankheitswert" richten; ist dieser gegeben, ist es auch schon zu spät.
Die schöne Idee, durch medizinische Manipulations- und Operationskunst die geschädigte Gesundheit wiederherzustellen, verwirklicht sich als das Bemühen, Symptome zu dämpfen, für ausgefallene Fähigkeiten Ersatz zu schaffen, Schäden zu kompensieren usw. Mit ihren einschlägigen Erfolgen, bis hin zur Versorgung mit lebenden Ersatzteilen, kann die Medizin sich sehen lassen; dem Ideal des rehabilitierten Krüppels kommt sie manchmal nahe. Der Fall des mikrochirurgisch wieder angenähten Pianistendaumens gilt als highlight der Medizingeschichte. In den zahllosen anspruchsloseren Fällen bekommt die Medizin es allerdings auch schon mit einem gewissen Widerspruch zu tun: Was an der einen Stelle hilft, wirkt oft genug an anderer Stelle der gewünschten Leistungsfähigkeit des Patienten entgegen. Die "angstlösende, beruhigende, sedativ-schlafanstoßende und affektiv entspannende" Wirkung von Tranquilizern z. B. wird zur unerwünschten Nebenwirkung, wenn sie den Menschen durch seinen Arbeitsalltag begleiten soll; dann stellt sich die Wohltat als "Schläfrigkeit, Konzentrationsschwäche und Einschränkung der Aufmerksamkeit" dar (H. H. Benkert, Psychiatrische Pharmakotherapie, Berlin 1986, S. 209/232), und dem Wissenschaftler im Dienst der Gesundheit stellt sich die Aufgabe, einen "Arbeitstranquilizer" mit einem "Wirkungsprofil " zurechtzuschneidern, bei dem z.B. wenigstens die "Muskelrelaxierung" vermindert ist. Und so weiter. Es gibt eben kaum einen Erfolg der Medizin, der nicht ein neues Problem aufwirft. Wo es nicht um eindeutige Mangelerscheinungen oder Bazillen geht, sondern um die Masse der "Zivilisationskrankheiten", da ist Heilung in der Regel ein Ideal, und zwar aus einem sehr einfachen Grund: Nicht wegen der Unvollkommenheit allen menschlichen Wissens und Helfens oder sonstiger metaphysischen Ursachen, sondern weil die Medizin hier gegen notwendige physiologische Folgen von Belastungen des menschlichen Organismus vorgehen will, ohne ihm die Belastungen zu ersparen, ja sogar in der Absicht, die fortführung dieser Belastungen zu erleichtern oder überhaupt zu ermöglichen. Das ist ja gerade der Witz an der medizinischen Menschenfreundlichkeit: Sie nimmt die Menschen so, wie sie sind, nämlich als Opfer all der ruinösen Leistungen, die die Mitglieder einer modernen Klassengesellschaft sich zumuten müssen, und geht ihnen dabei zur Hand. Sie wendet sich entschlossen ab von jeder Infragestellung solcher Leistungen und kümmert sich hingebungsvoll um alles Ruinierte.
Das allerdings macht die moderne Medizin mit Erfolg: Sie befähigt ihre Patienten, Belastungen und deren Wirkungen auszuhalten, die ein Mensch ohne solche Hilfen seiner Physis kaum zumuten könnte. Sie stellt die Mittel dafür bereit, daß die zivilisierte Menschheit überhaupt so, wie sie das tut, über ihre physiologischen Verhältnisse leben kann; sie ermöglicht so den produktiven Verschleiß, bis er als "Zivilisationskrankheit" zuschlägt. Insofern gehört sie mit ihren zahllosen Aushaltehilfen durchaus zur Ätiologie der "modernen Volksseuchen": Sie hilft bei der Produktion von Krüppeln, denen man wenig anmerkt, bis sie zum Pflegefall geworden sind.
Das ist das notwendige und gerechte Ergebnis des Konformismus, mit dem das medizinische als Teil des bürgerlichen Denkens auf dem Standpunkt der kapitalistischen Verhältnisse steht.
Das medizinische Ethos II: Expertenratschläge für eine etwas medizingerechtere Welt
Einen ähnlichen Beitrag zur schönen neuen Welt leistet die medizinische Wissenschaft in ihrer anderen Forschungsabteilung mit der Ermittlung "äußerer Risikofaktoren" für die Gesundheit und der Abschätzung ihres spezifischen Gewichts. Sie wird da vor allem vom Staat als Ratgeber in Anspruch genommen, und zwar für ein politisches Interesse, das diesem theoretisch bodenlosen Forschungsgeschäft seine Fragestellung liefert: Es soll fundiert abgeschätzt werden, wie gefährlich etwas ist, damit die Staatsgewalt die richtigen Grenzen ziehen kann für das offenbar prinzipiell unbekömmliche Treiben ihrer Gesellschaft.
Nun ist die Beantwortung einer Frage des Typs "Wie schlimm?" nie wissenschaftlich. Erstens gibt das Wissen, wie ein Gift, Lärm, Schichtarbeit oder Familienärger auf Menschen wirken und ihre Gesundheit schädigen, keine Prognose darüber her, bei wievielen Leuten wieviel Schaden entsteht. Zweitens gibt es keinen wissenschaftlichen Anhaltspunkt für die menschenfreundliche Ermessensfrage, wieviel Schaden für wieviel Leute eine Staatsgewalt für zumutbar erachten darf oder sollte. Genau dies beides leistet die Medizin aber mit ihrem begriffslosen, per Statistik aufgeputzten Expertentum. Da ist schon jede sachliche Notwendigkeit eines Schadens in die Möglichkeit einer Korrelation zwischen "auslösenden" Ereignissen und Krankheitsbildern verwandelt; einer Korrelation, die gar nichts anderes hergibt als eine quantitative Gewichtung.
So hat sich die Fachwelt gerne dazu hergegeben, die Krebsstatistik der nicht gleich hingerafften Hiroshima-Opfer in ein Maß der Schädlichkeit eines bestimmten Quantums Radioaktivität umzurechnen; nach Tschernobyl haben sie daraus wiederum die mutmaßliche statistische Zunahme bestimmter Krebs-Todesfälle in den nächsten Jahren herausgerechnet und vertretbare, weil unter den angesetzten Signifikanzgrenzen liegende Toleranzwerte für Radioaktivität in Lebensmitteln "abgeleitet", die seither als "Becquerel pro Kilo" durch die Nachrichtenwelt geistern. Daß man sich bei der ursprünglichen Bestimmung des Verhältnisses zwischen Strahlungsintensität und Krebsrate um den Faktor 2 verhauen hat, weil die Strahlung der Bombe zu hoch angenommen war, insofern also alle Schadensprognosen verdoppelt und alle Grenzwerte halbiert werden müßten - wie neulich bekannt geworden -, hat nicht für viel Aufregung gesorgt: Man hatte ja inzwischen schon gelernt, daß z.B. die französische Radioaktivität für Europäer sowieso viel ungefährlicher ist als die aus Rußland für deutsche Bürger.
Auf alle Fälle werden die statistischen Ergebnisse nach allen Regeln der Kunst gewichtet, dann noch mit einem Sicherheitszuschlag versehen - denn die Medizin stellt sich immer auf "die sichere Seite", auch innerhalb einer Abwägung, die von einer grundsätzlichen Rücksichtslosigkeit ausgeht - und so als "Expertenwissen" an die politischen Auftraggeber zurückgereicht. Und sonst für nichts, aber für deren Zwecke taugen sie. Sie dienen erstens dem Schein von Sachlichkeit und wissenschaftlicher Fundiertheit politischer Entscheidungen, der in der Demokratie ein wichtiges Werbeargument ist; und das, ohne die Entscheidungsfreiheit durch objektive Erkenntnisse einzuengen - der Auftraggeber braucht die Expertise nur offiziell entgegen-, er braucht sie noch nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen. Zweitens kann eine statistische Schadensabschätzung politisch eingesetzt werden, um die demokratische Öffentlichkeit - und womöglich auch die Gesundheitspolizisten, Gewerbeaufsichtsämter, Umweltschutzbeauftragten usw. - vor unzweckmäßigen Ängsten und Interventionen zu bewahren. Bei richtig gewähltem Signifikanzniveau läßt sich immer die statistische Harmlosigkeit eines Risikos beweisen, das Politiker im Interesse des nationalen Fortschritts zumuten wollen. Drittens mag auch der Fall eintreten, daß ein Ministerium auf einen Umgang mit einer Gesundheitsgefahr aufmerksam gemacht wird, der nach allen gültigen Gesichtspunkten der durchschnittlichen Harmlosigkeit zu locker ist. Dann macht sich die Medizin um die Verhängung von politischen Grenzwerten für Gifte in der Atemluft, Arbeitszeiten, Smogwarnstufen usw. verdient, die wie ein sachliches Maß der Unschädlichkeit aussehen, obwohl bloß die Experten da befunden haben, das ließe sich doch wohl mal aushalten.
Medizinischen Expertenrat können sich selbstverständlich auch andere Interessenten kaufen; nicht zuletzt, um dem Staat einen Handlungsbedarf zu ihren Gunsten ein- oder einen anderen auszureden. Eine gewisse Berühmtheit haben die Expertenstreits um die Alternative Butter - mit Herzschaden - gegen Margarine - mit Krebsrisiko - erlangt. Andere Fachleute mischen sich aus freien Stücken in die Grundfragen der Gesundheitspolitik ein: Da plädiert der eine mitten in einem Lehrbuch mit der neuen Maßeinheit für Gesundheitsgefahr, der Zigarette, gegen den Smog -
"Der Benzpyrengehalt der Luft in einem deutschen Industriegebiet entspricht einer Menge, die mit 40 Zigaretten täglich zugeführt wird" (Th. Sandritter, Makropathologie, Stuttgart 1971, S. 91) -:
ein anderer plädiert umgekehrt mit dem Gift in deutschen Fabriken gegen das Laster
"Wer schon am Arbeitsplatz mit risikoreichen Stoffen zu tun hat, sollte es sich zweimal überlegen, ob er sich gesundheitlich z.B. das Rauchen wirklich leisten kann." (J. Aumüller, Niemand soll der Nächste sein, München 1978, S. 139)
Überhaupt erwacht hier der Weltverbesserer im Mediziner: Weil für alle möglichen Lebenslagen medizinischer Rat gefragt ist, hält dieser Berufsstand seinen Standpunkt des Abschätzens von Gesundheitsrisiken und Heilungschancen für überhaupt den Gesichtspunkt zur Korrektur des gesellschaftlichen wie des privaten Lebens. Kritische Ärzte sind darüber auf die Idee gekommen, die zeitweise umlaufenden Warnungen vor einem Atomkrieg um die bizarre Botschaft zu bereichern, dann könnten sie nicht mehr helfen - als müßten Staaten im Krieg, beim technologisch perfekt vorbereiteten Massentöten, vor den gebieterischen Ansprüchen des Medizinerhandwerks klein beigeben. Solche Weltfremdheiten liegen allerdings durchaus in der Logik einer Menschlichkeit, die eben auch noch im Krieg nichts als die ehrenvolle Inanspruchnahme medizinischer Helferkompetenz entdecken kann - und die insofern prächtig in die kapitalistische Welt mit ihrer Krüppelproduktion hineinpaßt.
Dem normalen Ärzteverstand gehen solche standesbewußten Aufrufe gegen den Atomkrieg im übrigen schon viel zu weit ins Politische hinüber. Medizinisches Expertentum hält sich da lieber an die unstrittigen Abteilungen des Mahnens und Warnens, nämlich die moralischen. Da gilt in Sachen Weltverbesserung immer noch: Das Mittel der Wahl gegen das Krankwerden ist - sich zusammenreißen.
"Die Bequemlichkeit und Trägheit unserer verwöhnten Gesellschaft muß überwunden werden."
Für diese hochwissenschaftliche Diagnose, niedergelegt im "Spiegel" 19/87, hat ihr Autor, der Margarine-Professor Schettler, mit Sicherheit noch nicht einmal eine Statistik über die Korrelation zwischen Graden der Verwöhntheit und der Ausbreitung der Multimorbidität benötigt.
Die Arbeitswelt ist zum Gegenstand eines eigenen medizinischen Fachgebiets geworden. Diese Fachrichtung zeichnet sich allerdings nicht dadurch aus, daß sie an den Krankheitsbildern der modernen Menschheit Ursache und Wirkung besser zu unterscheiden wüßte. Ihr erstes Dogma ist der grundsätzliche ideologische Friedensschluß zwischen der Notwendigkeit des organischen Verschleißes und dem Standpunkt der Gesundheit:
"Wir wissen heute" - als hätten Mediziner das jemals anders gesehen! -", daß es 'die gesunde Arbeit' nicht geben kann, weil jede Arbeit ihren Mann verbraucht." (H. Valentin, Arbeitsmedizin, Stuttgart 1971, S. 6)
Diese Entdeckung, für die die Fachwelt bestimmt nicht "jede Arbeit" untersucht hat, ist ein schöner Auftakt dazu, die speziellen Arbeitsbedingungen auszusondern, die den eventuell vermeidbaren Teil des Verschleißes durch Arbeit ausmachen. Dabei stößt der Fachmann natürlich auf lauter kapitalistische Einrichtungen, die den Lohnarbeiter einem physiologisch nicht zu billigenden Leistungszwang unterwerfen. In dieser medizinisch grenzwertigen Arbeitssituation, die mit der Abstraktion "jede Arbeit" nun wirklich nichts zu tun hat, entdeckt die Arbeitsmedizin nicht die kapitalistische Notwendigkeit, sondern deutet sie als letztlich zufällige, also bloß mögliche und deswegen von ihr sorgfältig zu beobachtende Überlastungsgefahr. Bei Fließbandarbeit z.B.
"besteht die latente Gefahr, daß das durch das Band geforderte Arbeitstempo nicht mit dem sogenannten physiologischen Arbeitstempo zur Deckung gebracht werden kann. Unter diesem Arbeitstempo versteht man 'jenes, bei welchem der Arbeiter jeweils die Leistung entwickelt, die seiner physiologischen Leistungsbereitschaft entspricht, d.h. die er unter dem augenblicklichen Zustand seines Organismus ohne außerordentliche zusätzliche (?!) Willensanspannung bewältigen kann' (Graf). Jede Steigerung des Arbeitstempos über diesen Wert hinaus, muß im Extrem zur Hetzarbeit führen." (H. Valentin, Arbeitsmedizin, 1981, S. 92)
Aus dieser Diagnose kann überhaupt nie mehr eine Kritik an der Fließbandarbeit unter dem Diktat der Rentabilität, wie sie wirklich geleistet wird, folgen. Statt dessen wartet die Arbeitsmedizin mit dem Ideal auf, das Fließband - eine Methode kapitalistischer Unternehmen, sich von der subjektiven Leistungsbereitschaft seiner Arbeitskräfte gerade unabhängig zu machen! - mit den Tageskurven des "physiologischen Arbeitstempos" in Einklang zu bringen. Dafür werden dann Tabellen, Kurven und Leistungsdiagramme mit Puls- und Atemfrequenzzählung usw. aufgestellt, ungefähr so wie für das Hochleistungstraining von Sportgrößen - und wenn überhaupt, dann werden die Entdeckungen der Arbeitsmedizin auch genau so benutzt: als Hinweis auf Leistungs-, also Produktivitätsreserven. Schließlich hat das Unternehmen ja auch nichts davon, wenn bei gleichbleibendem Maschinentempo mal vermehrt Ausschuß anfällt und andererseits die Spitzenzeiten der "physiologischen Leistungsbereitschaft" unausgenutzt bleiben.
Dann ist vom arbeitsmedizinischen Expertenstandpunkt aus die Welt in Ordnung: Wenn alle überflüssigen Leistungshindernisse aus der Welt geschafft sind, dann gehört der stattfindende Verschleiß unter wissenschaftlicher Garantie zu dem Menschenverbrauch, der "jeder Arbeit" eigen ist - auch wenn solche Arbeit nie und nirgends verrichtet wird.
Wenn die Leistungen der Medizin an die leidende Menschheit verabreicht werden, braucht keiner der Beteiligten sich darüber im klaren zu sein, geschweige denn praktisch in
Gesundheit praktisch
Rechnung zu stellen, warum es da immer so viel zu heilen, zu lindern und zu Tode zu pflegen gibt und wozu die "Leistungesellschaft" und ihr Sozialstaat sich ein Gesundheitswesen leisten. Die Abstraktion von jedem gesellschaftlichen Zweck der Sache, insbesondere vom volkswirtschaftlichen Nutzen - im Unterschied zu den sorgfältig beobachteten volkswirtschaftlichen Kosten -, gibt sich bei Gelegenheit sehr idealistisch, als blinde Güte des Sozialstaats: Jeder kriegt alles Nötige; selbst die Rentner werden nicht vergessen - ein Dementi des faschistischen Euthanasiegedankens, das jedem demokratischen Sozialpolitiker, offenbar nicht von ungefähr, als Selbstlob einfällt. Abstrahiert wird damit freilich auch von der Hauptsache, daß nämlich die Zufuhr von Gesundheit der Fortführung gesellschaftlicher Lebensverhältnisse dient und nützt, deren Notwendigkeiten ohne das nicht auszuhalten und deren Leistungen ohne es nicht zu erbringen sind. Die gesamte Gesundheitsindustrie mit ihren zigtausend frei praktizierenden Handwerkern und allem drum und dran ist ein Dienstleistungsunternehmen für den Kapitalismus mit seiner ruinösen Lohnarbeit, seinen gewinnstiftenden Giftstoffen usw.; sie dient dessen erfolgreicher Fortführung; ihre medizinischen Fortschritte macht sie als treuer Diener an den Fortschritten kapitalistischer Ruinierung der Leute. Das ist Grund und Zweck der modernen Medizin und ihrer organisierten Verabreichung.
Die Abstraktion von dieser Wahrheit ist nicht bloß Medizinerideologie. Sie ist organisatorisch realisiert: Die Gesundheitsversorgung ist eine Welt für sich, die, professionell gleichgültig gegen Gründe und Zwecke, sich nur an ihren eigenen immanenten Gesichtspunkten des medizinisch Indizierten und des Geschäfts damit - orientiert und außer den Unterteilungen im Krankenhaus keine Klassen kennt. Die Mitglieder der wirklichen Klassengesellschaft werden so zur medizinischen Wiederaufarbeitung entgegengenommen, wie sie zugerichtet sind; und nur darum wird sich gekümmert. So ist das Gesundheitswesen gerade in seiner gewollten und durchorganisierten Abgetrenntheit und Eigenbrötelei total funktional für seine kapitalistischen Dienste.
Wenn also die Leistungen der Medizin verabreicht werden, dann ist die Krankheit als Privatangelegenheit des Patienten definiert, für deren Bewältigung ihm Hilfe zuteil wird. Die zugeteilte Hilfe ihrerseits ist als Geschäftsartikel eigener Art organisiert: nicht eigentlich als Ware, aber doch als Mittel eines zweckmäßigabsurden Dreiecksgeschäfts zwischen Kasse, Gesundheitsproduzenten und Krankengut.
Die vom Patienten getrennte Zahlungsfähigkeit als sichere Basis für das sozialpolitisch gewollte und kontrollierte Geschäft mit der Krankheit
Jedes Stück Kampf gegen die Krankheit muß gekauft werden; unser Sozialstaat hat entschieden, daß auch über das Gesundheitswesen grundsätzlich das Geld regiert und nicht irgendein mildtätiger oder brutaler Gesichtspunkt.
Als Käufer tritt allerdings nicht der versorgte Kunde auf sondern dessen Krankenkasse. Das ist für 95% der bundesdeutschen Bevölkerung gesetzlich so verordnet, damit per Zwangskollektivierung die nötige Zahlungsfähigkeit zustandekommt. Sozialpolitiker nennen das "Solidarität". Was die Kasse kauft vom Geld ihrer Beitragszahler, die Definition des Artikels "Kampf der Krankheit", bleibt grundsätzlich den Geschäftsleuten überlassen, die solche Leistungen anbieten. Der freiheitliche Sozialstaat macht sich nicht zum Anwalt, geschweige denn Garanten einer bestmöglichen oder auch nur wirksamen und noch nicht einmal einer preiswerten Krankenversorgung.
Was die Preise betrifft, so läßt der Sozialstaat bei den Gütern des Krankheits- und Gesundheitsbedarfs den Warenanbietern freie Hand und sorgt bloß dafür, da bei Arzneimitteln die festgelegten Preise auch respektiert und nicht durch konkurrenztüchtige Apotheken unterboten werden. Was die ärztlichen Leistungen betrifft, so handeln die Kassen mit dem Rechtsvertreter aller zugelassenen Ärzte, der Kassenärztlichen Vereinigung, Punktwerte für alle ärztlichen Handlungen und Geldbeträge für die Punkte aus - bis hin zu solch schönen Unterscheidungen, da die Versorgung einer "kleinen Wunde", definiert als unter 3cm, 4cm^2 und 1cm^3, 10 Mark bringt, die einer größeren 16 Mark. Mit den Krankenhäusern vereinbaren die Kassen jährlich einen Pflegesatz pro Bett und Belegungstag, bei dessen Ermittlung alle möglichen Gesichtspunkte Berücksichtigung finden: das Angebot an diagnostischer und therapeutischer Technologie, die Personalkosten, der durchschnittliche Auslastungsgrad der Klinikbetten - und das Verhandlungsgeschick des Budgetdirektors der Klinik.
Insoweit funktioniert das Beitragsaufkommen der Kassen als staatlich garantierter Selbstbedienungsladen für die Geldbedürfnisse aller, die in Sachen Krankheit unterwegs sind, vom Kassenarzt bis zum katholischen Pflegeschwesternorden. Weil das so ist, erläßt der Sozialstaat das einschränkend gemeinte Gebot der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit für Ärzte und Krankenhäuser und stattet die Krankenkassen mit einem Kontrollinstrument aus, das, blind und äußerlich, weniger auf eine Senkung als auf eine Nivellierung der einschlägigen Verdienste hinwirkt: Für jede Fachrichtung unter den Kassenärzten wird ein besonderer Durchschnitt der verschiedenen Arten von kostentreibenden Leistungen, von Arzneimittelverordnungen usw., sowie der Leistungen pro Krankenschein überhaupt errechnet; mit diesen Durchschnitten werden die entsprechenden Daten jedes einzelnen Kassenarztes dieser Richtung verglichen; Abweichungen nach oben, die über eine gewisse Toleranzgrenze hinausgehen, werden abgemahnt und u.U. mit Regressen "geahndet". Ob die Sachen, die da mit den Kassen abgerechnet werden, im allgemeinen und im besonderen medizinisch vernünftig sind, ist Sache der Diagnose- und Therapiefreiheit der Ärzte und geht die Kassen nichts an. Worum es geht, das ist der - vom obersten Verwaltungsgericht bestätigte - Grundsatz einer höchst relativen Sparsamkeit: daß
"die überwiegende Mehrheit der in Betracht kommenden Kassenärzte wirtschaftlich handelt und somit eine erhebliche Überschreitung des Fachgruppendurchschnitts die Vermutung der Unwirtschaftlichkeit in sich bergen muß."
Mit den Krankenhäusern rechten die Kassen nicht um einen Durchschnitt; da erkennen sie die je besondere Ausstattung als Argument für eine "individuelle" Pflegesatzregelung an. Der Gesichtspunkt der Sparsamkeit macht sich da, neben den nötigen Verhandlungen ums Klinikbudget, in der Weisung an die Kassenärzte geltend, nur im wirklichen Bedarfsfall eine Einweisung vorzunehmen, und dem Verbot für die Kliniken selbst, andere als Notfallpatienten ohne solche Einweisung aufzunehmen. Außerdem wird bislang noch unterschieden zwischen heilbaren Kranken, die der Kasse zur Last fallen, und unheilbaren Pflegefällen, für die die Sozialhilfe aufzukommen hat; eine Unterscheidung, die freilich dem behandelnden Arzt überlassen bleibt.
Den Gesundheitsproduzenten gegenüber sind die Kassen also auf die Aufgabe festgelegt, regelrechte Pfründen zu schaffen. Als Unternehmen mit eigenen Budgetgesichtspunkten dürfen sie sich dafür an ihren Klienten schadlos halten; erstens als Beitragssammler mit der (schon erklärten) Befugnis, von der Quelle weg soviel Geld einzuziehen, wie sie brauchen. Zweitens haben sie sich in sozialstaatlichem Auftrag den Patienten gegenüber wie eine Art Aufsichtsbehörde aufzuspielen, die jeder denkbaren Berechnung, im Maße der eigenen Beitragsleistung auch etwas zu bekommen, entgegenwirkt, ganz gleich ob es solche Kalkulationen praktisch überhaupt gibt oder nicht. Das Mittel dieser dezenten Kontrolle ist bislang "bloß" das Geld: Für alles, was der Doktor verschreibt, hat der Patient die eine oder andere Mark zuzuzahlen; die geplante Reform soll dieses Instrument noch schärfen. Der Patient wird so ein Stück weit für Kosten haftbar gemacht, über die er gar nicht zu bestimmen hat - es sei denn, er geht erst gar nicht zum Arzt; womöglich kommt über einen solchen Effekt ja tatsächlich ein bißchen "Kostendämpfung" zustande. Noch schöner ist die andere Reformidee einer elektronischen Buchführung über sämtliche Gesundheitsleistungen, die ein Kassenmitglied sich im Laufe seines Lebens ergattert, mit Kontroll- und Abmahnungsinstanzen für kostspielige Fälle: Offenbar schwebt den Gesundheitsfunktionären hier das Ideal vor, nicht bloß die Ärzte, sondern noch viel wirksamer die Patienten auf einen Kostendurchschnitt zu nivellieren. Was auch immer sonst dabei herauskommt: Ein Kampf gegen das Anspruchsdenken ist das schon - passenderweise bei denen, wo es höchstens ideell vorhanden ist, weil von einem Geschäft mit der Krankheit am allerwenigsten die Rede sein kann.
Das medizinische Geschäftsleben - eine harmonische Einheit von Helfen und Kassemachen
Der Doktor und sein Krankenschein
Die Hauptfigur im medizinischen Geschäftsleben ist der Kassenarzt. Mit dieser Figur hat das bundesdeutsche Gesundheitswesen einen perfekten Zwitter gezüchtet. Denn ein Kassenarzt handelt immer doppelt, nach zwei gleichrangigen, ganz heterogenen Gesichtspunkten, von denen jeder so seinen Widerspruch enthält. Zum einen behandelt er seine Patienten nach allen Regeln der medizinischen Kunst, was selbst keine glatte Sache ist. Er bringt zur Anwendung, was er gelernt und behalten hat und was es in Form von Diagnosegeräten und Therapiemitteln als vergegenständlichtes medizinisches Wissen auf dem Markt gibt. Wie gut beides ist und zusammenpaßt, geht sonst niemanden etwas an und entscheidet auch nicht darüber, wieviel Kundschaft sich regelmäßig bei ihm einstellt. Denn erstens ist sein Wissensvorsprung allemal groß genug, um ihn für gebildete Zeitgenossen zur Autorität zu machen, der man aus ganz anderen Gründen als solchen der Einsicht traut oder nicht; zweitens ist kein so durchgreifender Erfolg der ärztlichen Bemühungen zu befürchten, daß den Kassenärzten der Nachschub ausginge. Die Praktiker machen dauernd die - nur für Idealisten deprimierende - Erfahrung, daß sie mit ihren Therapien in der Regel der Verschlimmerung des Leidens hinterherlaufen. Im Normalfall macht dieser Befund die Ärzte illusionslos gegenüber ihrem Metier und kritisch - gegen ihre Patienten, in deren Lebensführung sie die unmittelbare Schranke für ihre therapeutischen Bemühungen finden. Denn soviel haben sie aus ihrem Medizinstudium über die "Risikofaktoren" allemal behalten, daß man da vor allem zwischen den vermeidbaren und den unvermeidlichen unterscheiden muß. Zur ersten Gattung gehört auf jeden Fall alles, was die kleine Freiheit des modernen Menschen ausmacht; also greift der Arzt hier auch in seiner Eigenschaft als Autorität ein und macht den Patienten mit den Pflichten bekannt, die er gegen seine Gesundheit hätte. Es gehört zum professionellen Konformismus des Berufsstandes - und nicht zur Abteilung Geschäftstüchtigkeit -, daß die Abschaffung der Lohnarbeit nicht in diesen medizinischen Pflichtenkatalog gehört. Das ist mit dem Rat", sich zu schonen", nie gemeint. Vielmehr geht es in dieser wohlwollenden Empfehlung um den Imperativ, die Freizeit auf den Dienst an der Gesundheit und auf kompensatorische Anstrengungen zu verwenden. Medizinisches Wissen geht da ganz zwanglos in den bürgerlichsten Moralismus über. Wenn so ein fertiger Arzt zu allem Überfluß auch noch politisch räsonniert, dann fände er mehr staatlichen Zwang zur "Vernunft" in Gesundheitsdingen eigentlich nötig und eine finanzielle Bestrafung des Krankwerdens durchaus wohltuend.
Gleichzeitig weiß ein praktizierender Mediziner sich allerdings unzuständig für solchen medizinischen Rigorismus; sein moralisches Verhältnis zu den Kranken wird, ebenso wie sein im engeren Sinn fachlich-medizinisches, durch seine zweite Natur als Geschäftsmann gemildert. In dieser Eigenschaft behandelt der Kassenarzt den Patienten als Abrechnungsfall. Zu jeder diagnostischen und therapeutischen Maßnahme weiß er auswendig den Punktwert, den er geltend machen kann, wie auch den, den er nicht überschreiten darf; und sein medizinisches Expertentum versorgt ihn inwendig mit lauter guten Gründen dafür, seine Patienten genau so zu behandeln, wie sie in seine Geschäftsbeziehungen mit der Kassenärztlichen Vereinigung hineinpassen, samt Überweisung an einen Spezialisten, dessen Dienste das eigene Punktekonto an einer empfindlichen Stelle entlasten können. Ganz von selbst ergibt es sich, daß die vom Arzt aufgestellte Diagnose sich - ohne medizinisch verkehrt zu werden - darin bewährt, die Leistungen zu begründen, die er auf den Krankenschein schreiben und abrechnen will. Der Übergang zum Betrug ist da naturgemäß fließend. Natürlich werden Leistungen, für die bezahlt wird, erbracht, damit bezahlt wird. Dieser Gesichtspunkt hat u.a. den technischen Fortschritt in den Arztpraxen enorm beflügelt, bis den Kassen solche technologischen Leistungen, die hoch bewertet waren, als sie noch seltener und die Apparate dafür teurer waren, zu zahlreich geworden sind und eine Umwertung aller Punktwerte zugunsten einer mehr mitmenschlich-gesprächsweisen Diagnose und Therapie ausgehandelt wurde.
Alle diese Verdienstmöglichkeiten muß der Arzt als Geschäftsmensch natürlich in ein kritisches Verhältnis zum Investitions- und Behandlungsaufwand setzen; und das ist wieder ein kleiner Widerspruch mit Folgen. So versteht sich z.B. die neueste Technologie auch wieder nicht von selbst - frühere Patienten haben die alten Apparate schließlich auch ausgehalten. Insgesamt teilt sich der Patient recht antagonistisch auf in den Krankenschein-Lieferanten, als welcher er immer gut ist, auch wenn nicht viel darauf abzurechnen ist - senkt den Durchschnitt, erlaubt höhere Abrechnungen bei anderen Patienten, die es nötig haben, und in die leidende Kreatur mit Anspruchshaltung, als welche er letztlich bloß stört, Behandlungszeit okkupiert, Personalkosten nötig macht und überhaupt den Aufwand in die Höhe treibt. Immerhin hilft dem Arzt da die Figur der schlechtbezahlten Arzthelferin recht gut weiter, die den praktischen Beweis führen darf, wieviele ärztliche Tätigkeiten keineswegs eine akademische Vorbildumg brauchen. Vor allem aber sorgt eine gut geführte Praxis dafür, daß der Gegensatz zwischen Aufwand und Ertrag am Patienten bewältigt wird, der sich vom Arzt die Ansprüche sagen lassen soll, die er sinnvollerweise zu stellen hat. Neben folgsamem Krankengut trifft der Arzt hier immer wieder auf Experten der eigenen Symptomatik, die sich nicht einmal etwas wirklich Vernünftiges einreden lassen...
Das Krankenhaus und seine Finanzreform: Mit Überschüssen zu mehr Sparsamkeit
Die Krankenhäuser sind durch das Gesetz zur Neuordnung der Krankenhausfinanzierung von 1985 auch ganz offiziell als Gewerbebetriebe zur Gewinnerzielung anerkannt worden. Bis dahin hat das Prinzip der Kostenerstattung, also der nachträglichen Abrechnung des geleisteten bzw. nachweisbaren Aufwands mit den Kassen gegolten. Das Anliegen der diversen Träger - freie und gemeinnützige Gesellschaften, Kirchen mit ihren Orden, Berufsgenossenschaften und "Öffentliche Hände" -, ein bißchen Profit herauszuholen, mußte sich in entsprechende Kostenbelege einkleiden. Nach der neuen Regelung müssen die Klinikträger jährlich im voraus ihre Kosten kalkulieren und als Pflegesatz pro Patient und Tag mit den Kassen vereinbaren;
"Überschüsse, die bei wirtschaftlicher Betriebsführung entstehen, sollen dem Krankenhaus verbleiben; vom Krankenhaus zu vertretende Verluste sind von ihm zu trgen" (Paragr. 17(1)).
Der Sozialstaat will so "verstärkte Anreize für eine sparsame und wirtschaftliche Betriebsführung schaffen" (Der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Grundzüge des Gesetzes zur Neuordnung der Krankenhausfinanzierung, S. 14), was mit einer Verbilligung des nationalen Klinikwesens zwar durchaus verwechselt werden soll, aber weder im Ergebnis - die Krankenhauskosten sind unter den Ausgabeposten der Krankenkassen weiterhin überproportional gewachsen - noch im Prinzip damit zusammenfällt. Denn das wäre ja das Allerneueste im Kapitalismus, daß die "Zulassung von Gewinnchancen und Verlustrisiken" (ebd.) automatisch die Kosten senken würde, die das Unternehmen seinen Kunden in Rechnung stellt.
So ist auch das Verfahren der Pflegesatzvereinbarung weder gemeint noch wird es so praktiziert, daß Krankenhausleistungen verbilligt oder gar gestrichen würden. Alles, was das Haus zu bieten hat, steigert den Pflegesatz. Und selbstverständlich übertreibt jeder Klinikdirektor den Umfang der gebotenen Leistungen und das Maß der anfallenden Kosten, um keine Verluste zu riskieren. Deswegen finden sich auch andauernd im Gesetzestext weitere Ermahnungen zu einem sparsamen Geschäftsgebaren und die zitierte Einschränkung, nur "Überschüsse, die bei wirtschaftlicher Betriebsführung entstehen", dürften dem Krankenhaus verbleiben. Diese Bestimmungen reflektieren darauf, schließen aber keineswegs aus - und können das auch gar nicht -, daß jeder Krankenhausträger die neuen "Anreize" zum Gewinnemachen und Verlustevermeiden natürlich zuallererst als Nötigung begreift, sich ein möglichst hohes Budget zu erstreiten.
Sparsamkeit findet dort statt, wo sie kapitalistisch hingehört, nämlich ein Mittel zur Erzielung und Vergrößerung von Überschüssen ist; also erstens in der Zahl und bei der Bezahlung des Personals. Die Tarife für Pflegekräfte sind bekanntermaßen kärglich, und es werden notorisch zu wenige eingestellt; je frömmer der Krankenhausträger, um so zynischer nutzt er die Moral seiner Dienstkräfte aus, die nun einmal nicht eher Schluß machen, als bis jeder Patient versorgt ist, und sich dafür mit einer gesunden Abneigung gegen ihre Kranken schadlos halten. Auch der Ärztenachwuchs ist mittlerweile so zahlreich, daß die Konkurrenz um Stellen für die vorgeschriebenen Ausbildungsschritte, insbesondere zum Facharzt, den Klinikträgern einige Frechheiten erlaubt: Halbe Stellen werden geboten, Vollzeitarbeit und Überstunden werden verlangt. Die Motivation bleibt hier dadurch erhalten, die die nachwachsenden Mediziner an ihren Chefärzten die Einkünfte aus privater Liquidation, die nur zu einem Bruchteil zur Finanzierung des Krankenhauses herangezogen werden, bewundern und meist auch ein wenig daran teilhaben dürfen. Daß ein paar Jahre lang an ihnen gespart wird, rüstet die Ärzte mit dem guten Gewissen aus, mit dem sie dann später an gar nichts sparen, was ihr Einkommen mehrt.
Die andere Gelegenheit zur Sparsamkeit sind die Patienten. Das betrifft in der Regel nicht ihre medizinische Verarbeitung; die bringt ja Geld von den Kassen. Die gesamte übrige Versorgung betrifft es aber durchaus; perfekte medizinische Technologie geht mit miserablem Essen einher, das jeder Mahnung zu "gesundem Leben" Hohn spricht. Ansonsten sind die Kranken Gegenstand einer hauseigenen Bettenbelegungspolitik, deren Winkelzüge sie mal in Form endloser Wartezeiten bis zur Aufnahme, mal in Form langer Aufenthaltszeiten bis zur Entlassung zu spüren kriegen.
Die Arzneimittel und ihr Markt
Die Pharma-Industrie ist einerseits ein Teil der Chemie-Branche. Ihr Geschäftsartikel sind Güter, in denen medizinisches Wissen verabreicht wird. Aus zwei Gründen gibt es da dauernd Neues: zum einen, weil die Arzneimittelfirmen mit ihren Angeboten so wie die Medizin überhaupt, deren Teil sie sind, in den allermeisten Fällen einem Verschleiß hinterherlaufen, den ihre Kunst gar nicht verhindern kann; zum andern, weil die gewünschte Beeinflussung des Krankheitsverlaufes kaum je zu haben ist, ohne daß ungewünschte - unangenehme oder schädliche oder dem Zweck des Konsumenten widersprechende - "Neben"-Wirkungen auftreten. Daß tatsächlich auch dauernd geforscht und Neues gemacht wird, liegt freilich an der Chance, aus Wissen Geld zu machen, die der Sozialstaat mit seinem Patentschutz eröffnet: Das befristete exklusive Verfügungsrecht über eine Entwicklung gestattet Monopolpreise. Dabei rechnet der Sozialstaat ganz gelassen mit der Selbstverständlichkeit, daß vom Standpunkt der engagierten Industrie aus der medizinische Nutzen der entwickelten Produkte nicht Zweck, sondern Geschäftsmittel ist; deswegen verordnet er Barrieren gegen Skrupellosigkeit, gebietet die Überprüfung neuer Stoffe auf schädliche Nebenwirkungen, neuerdings sogar einen Nachweis der therapeutischen Wirksamkeit, und verhindert mit seinen Kontrollinstanzen doch nicht die gelegentlichen Arzneimittelkatastrophen - den Opfern bietet er den Rechtsweg der Schadensersatzklage mit komplizierten Beweispflichten und unsicherem Ausgang.
Die eigentliche Besonderheit der Pharma-Industrie besteht in der eigenartigen Konstruktion ihres Absatzmarktes. Nur zum geringsten Teil geht die zahlungsfähige Nachfrage vom Endverbraucher aus; deswegen braucht der auch nicht übermäßig betört zu werden. Die Nachfrage kommt über die ärztlichen Verordnungen zustande. Um die entsprechenden Gewohnheiten der Ärzteschaft geht daher die Konkurrenz der Pharma-Firmen; und sie sieht entsprechend aus. Der Marktpreis ist erst einmal überhaupt kein Werbemittel; erst auf dem Umweg über die Wirtschaftlichkeitsgebote der Krankenkassen an die Ärzte wird ein Argument von sehr begrenzter Tragweite daraus, das die Anbieter mit der Berechnung von günstig abrechenbaren "Tagestherapiekosten" bedienen. Die Privilegierung billiger Nachahmerprodukte, wie von Blüm ursprünglich geplant, wäre ein gewisser Einschnitt in die bisherigen Konkurrenzverhältnisse; allerdings setzt die Pharma-Industrie schon bisher hauptsächlich darauf, dem Arzt die therapeutische Unvergleichlichkeit ihrer konkurrierenden Angebote zu beweisen; in Zukunft werden sie davon möglicherweise auch noch die Krankenkassen überzeugen müssen, und die Firmen wissen auch schon wie: durch leichte chemische Variationen ihrer Wirkstoffe. Werbemittel sind zum einen Forschungshonorare für Kliniken und Chefärzte, deren wissenschaftliche Befunde auch für die Zulassung eines Artikels durchs Bundesgesundheitsamt wichtig sind; denn die Klinikverordnungen und die entsprechenden Therapieempfehlungen an die weiterbehandelnden niedergelassenen Ärzte sind der entscheidende Einstieg in den Markt. Den anderen Teil der Überzeugungsarbeit leisten die Pharma-Vertreter mit ihren Musterpackungen und sonstigen Aufmerksamkeiten, die allerdings das Problem bewältigen müssen, daß ihr Besuch den Arzt Zeit kostet, für die er sonst ein Honorar berechnen würde. Die gern gewählte Lösung sind luxuriöse "Fachkongresse", auf denen die Ärzteschaft samt besserer Hälfte das neue Produkt in Muße und schöner Landschaft begutachten darf.
Der Sozialstaatsbürger zwischen Beitragspflicht und systemkonformen Anspruchsgedanken
Im Mittelpunkt des gesamten demokratischen Gesundheitswesens steht natürlich, finanzschwach und kränklich, der Mensch. Daß er und seinesgleichen den gesamten Zirkus bezahlen, braucht ihn insoweit nicht weiter zu stören, als er das Geld, das ihm fehlt, vorher ja gar nicht erst gekriegt hat. Und wenn er im Krankheitsfall noch extra zur Kasse gebeten wird, bekommt er als Gegenleistung den Trost, so würde der übermäßigen Inanspruchnahme von Kassengeldern durch solche Typen wie ihn entgegengewirkt.
Für sein unfreiwilliges Interesse an Gesundheit hat er das freie Geschäftsinteresse der Ärzte und Krankenhäuser auf seiner Seite; sonst freilich nichts. Als abhängige Variable des kassenärztlichen Punktesystems, der Pflegesatzordnung und der Bettenbelegungspolitik der Krankenhäuser kommt er zu seinem Recht. Für dessen Wahrnehmung darf er sich sogar den Doktor aussuchen, der ihm am besten gefällt.
Auf ihn: den Menschen, kommt schließlich auch die öffentlich wie privat gestellte Frage nach den Krankheitsursachen zielstrebig zurück. Denn eins ist sicher: Kein Exemplar dieser Gattung lebt so, daß es nicht noch gesünder leben könnte. Das soll jeder als Vorwurf verstehen, seine Vergnügungssucht bremsen und sich um seine Fitness kümmern, daß sich die Bänder dehnen. So bleibt er mit seinem Verschleiß der konstruktiv an sich arbeitende nützliche Idiot seiner Klassengesellschaft.
Und damit erfüllt er den Begriff der Volksgesundheit, wie der moderne Sozialstaat sie will und die er sich ein paar Gesetze, sein Volk die nötigen Milliarden kosten läßt: willig, verschlissen und leistungsfähig.