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Dieser Artikel ist in der MSZ 4-1988 erschienen.


WER WAR KURT GEORG KIESINGER?

Den Nachrufen ist zu entnehmen, daß es sich um einen jener deutschen Männer gehandelt haben muß, die sich deswegen um das Vaterland verdient gemacht haben, weil sie einmal Bundeskanzler gewesen sind. Das scheint uns zu wenig für die junge Generation, die sich ohnehin schon schwer tut, den Verblichenen mit einem US-Politiker deutscher Abstammung nicht zu verwechseln.

Kurt Georg Kiesinger unterschied sich vom amtierenden Bundeskanzler trotz gleicher Parteizugehörigkeit darin, daß er noch unter die Ungnade einer zu frühen Geburt fiel, was ihn zwangsläufig 1933 in die Reihen der NSDAP trieb. Für einen Mann seiner Pflichtauffassung war es schwer zu vermeiden, daß er bis 1945 in dieser damaligen größten deutschen Volkspartei verblieb und im Reichsaußenministerium bis zum Chef der Propagandaabteilung aufsteigen mußte.

Mit Herrn Kohl teilte Kurt Georg Kiesinger jedoch die Ehre, von einem Bundespräsidenten ernannt worden zu sein, der auch in schwerer Zeit zu seiner Verantwortung stand: Der wg. juristischer Laufbahn in die NSDAP gezwungene Karl Carstens verlieh Kohl das Kanzlerpatent, während Kurt Georg Kiesinger von Dr. h.c. Heinrich Lübke dem Bundestag vorgeschlagen wurde. Neben den damals kursierenden häßlichen Gerüchten bezüglich der architektonischen Miturheberschaft Lübkes an Besonderheiten des faschistischen Strafvollzugs, den Konzentrationslagern, fiel Kurt Georg Kiesingers bewältigte Vergangenheit nicht weiter auf. Außerdem bestand wegen der erstmaligen Regierungsbeteiligung der SPD kein Oppositionsinteresse am Aufwärmen von "Jugendsünden". So blieb es der einsamen Rächerin Beate Klarsfeld vorbehalten, dem Alt-Nazi 1968 auf dem CDU-Parteitag in Westberlin öffentlich eine zu schallern. Und noch einmal bewährte sich Kiesingers "Solidarität der Demokraten", die schon unter Hitler gedient hatten: bei der Auswahl seines Nachfolgers im Amt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten. Als Kiesinger schon längst im Ruhestand weilte, mußte sein Freund Hans Karl Filbinger vorzeitig in Pension, weil seine berufliche Tätigkeit im 45er Jahr als Scharf-Richter der Reichsmarine nachträglich ins Gerede gebracht worden war.

Beates Ohrfeige blieb das schönste Ereignis in Kurt Georg Kiesingers Amtszeit als Bundeskanzler, obwohl die aufrechte Antifaschistin mit ihrem Handstreich bloß die Vergangenheit des neudeutschen Führers gemeint hatte, die laufenden Geschäfte also für nicht so aufregend befand. Dabei waren die nicht ohne. 1966 holte er sich eigens die SPD ins Kabinett und Willy Brandt als Vizekanzler an seine Seite, um gegen Gewerkschafts- und Studentenprotest die Notstandsgesetze durchzubringen, die der Republik zur Kriegstüchtigkeit noch in der Verfassung fehlten. Dieser Fortschritt war genauso zeitgemäß wie der Einstieg in die Ära der Neuen Deutschen Ostpolitik. Um so verbitterter mußte Kiesinger am Wahlabend 1969 miterleben, wie Brandt und Scheel vor laufenden Fernsehkameras die sozialliberale Koalition eingingen und ihn mit 49% Stimmenanteil aufs Altenteil schickten.

Was sonst? Kiesinger hat mehrere Wahlen im Schwäbischen gewonnen und galt deshalb als brillianter Politiker. Weil er zehn Jahre lang außenpolitischer Sprecher der CDU im Bundestag gewesen ist, genoß er den Ruf eines erfolgreichen Redners ("König Silberzunge"). Weil er einen unwiderstehlich tiefsinnigen Tonfall pflegte, wurde er zum Schwarm aller Altphilologen. Weil er auch im Alter noch volles und schlohweißes Haar trug, wirkte er vergleichsweise fast schon intellektuell und fand einen Verleger für seine Memoiren, über denen er schließlich einem Herzversagen erlag.

Das war Kurt Georg Kiesinger.