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Dieser Artikel ist in der MSZ 4-1988 erschienen.

Sowjetunion
EIN PAAR BEMERKUNGEN ZUM NATIONALITÄTENSTREIT IM KAUKASUS

Laut Feindbild von vorgestern hätte es das eigentlich gar nicht geben dürfen, daß sich Sowjetbürger wegen nationaler Unterschiede die Köpfe einschlagen. Man hat doch jahrelang versichert bekommen, daß der Totalitarismus diese zutiefst menschlichen Gefühle ausrottet. Laut Feindbild von gestern hat der Sozialismus aber keine Chance gegen den Nationalismus. Demokratische Bescheidwisser verpflichtet ja nichts zur Konsequenz in ihrem Feindbild. So brauchen sie kein bißchen den Genuß zu kaschieren, den ihnen die neulich vorgekommene Metzelei im Süden der Sowjetunion bereitet. Unverhohlene, reine Schadenfreude, das ist der kultivierte demokratische Gesichtspunkt in diesem Fall.

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Wenn die Sowjetunion wenigstens soviel Totalitarismus gepflogen und Nationalismus und Religion so ausgerottet hätte, wie es ihr immer angekreidet worden ist! Das ist offensichtlich gar nicht der Fall gewesen. Und weil es jetzt Mode wird, in der Vergangenheit der kaukasischen Völker herumzustöbern, über nicht eingelöste Versprechungen aus den Gründerjahren der Sowjetunion oder eine "grobe Stalin'sche Nationalitätenpolitik" herumzuräsonieren, eine kleine Richtigstellung aus marxistischer Sicht: Die armenisch-aserbeidschanischen Freundlichkeiten sind nicht aus Fehlern in der sowjetischen Nationalitätenpolitik zu erklären, die Nationalitätenpolitik ist der Fehler.

Eine Partei, die einerseits im Namen von Arbeitern und Bauern eine Revolution angeführt hat und andererseits meint, Nationalitäten seien irgendwie zu schützende Subjekte, hat den entscheidenden Fehler immer schon gemacht. Entweder die vom Kapitalismus bzw. dessen Vorformen Geschädigten schaffen sich ihre Ausbeuter und die dazugehörige politische Gewalt vom Hals und richten sich die Lebensverhältnisse nach ihren Bedürfnissen ein. Dann entfällt auch jeglicher Grund, eine Herrschaft über sich in ihren jeweiligen nationalen und religiösen Einkleidungen zu verhimmeln. Wenn die Beteiligten ihren Verstand auf die zweckmäßige Planung der Produktion oder Herstellung erfreulicher Lebensbedingungen verwenden, entfällt das ebenso verrückte wie sehr elementare staatsbürgerliche Bedürfnis, das lebenslange Mißverhältnis von braver Pflichterfüllung und ausbleibendem privaten Erfolg durch das Bewußtsein zu kompensieren, als Mitglied in einem höheren Verein letztlich doch gut bedient zu sein. Und auch die patriotische Unsitte erledigt sich, ausgerechnet, was die Rechte und die Geltung der "eigenen" Herrschaft angeht, ein Anspruchsdenken zu pflegen, demgemäß die Welt in "eigene" und "fremde" zu sortieren, sich um Grenzfragen wie um eine Lebensfrage zu kümmern und bei Gelegenheit zur Tat zu schreiten.

Oder es geht eben doch bloß um eine alternative Staatsmacherei im Namen von Fortschritt, Gerechtigkeit und Sozialem. Dann erscheint die Tatsache, daß ein Staatsvolk auf seine Staatsgewalt und deren Zuständigkeitsbereich einiges hält, als etwas völlig Unanstößiges und Wertvolles. Der Sozialismus sowjetischer Machart hat sich sogar das aparte Ziel zugelegt, die bürgerliche Herrschaft auf dem Feld der gerechten Bedienung nationaler Bedürfnisse zu übertreffen - auch so ein Leistungsvergleich, an dem die bürgerliche Herrschaft gar nicht teilnimmt. Unter Anleitung des Sozialismus sollen die Nationalitäten sowohl den berechtigten Stolz auf ihre Vorzüge pflegen dürfen als auch die anderen Nationalitäten lieben lernen, das nennt sich dann "proletarischer Internationalismus". Die KPdSU pflegt allen Ernstes den Glauben, daß Nationalismus durch sein moralisches Gegenstück Völkerfreundschaft bekämpft gehört, daß diese moralische Erfindung 1. ein Erziehungsziel zu sein hätte, das sich 2. durch "Einsichten" in die kulturellen Leistungen und liebenswerten Sitten der verschiedenen Sippschaften herstellen ließe. Und wenn sie immer wieder darauf gestoßen wird, daß sich ein Nationalgefühl gar nicht so einfach mit einem "Liebe deine nächste Nation" verträgt, weil das staatsbürgerliche Auf-Sich-Halten ohne das Bewußtsein der gemeinschaftlichen Exklusivität gegen andere nicht geht, dann regt sie das immer nur zu neuerlichen Propagandaaktionen an. Beziehungsweise zu der unendlichen und unlösbaren Aufgabe, immer genau unterscheiden zu wollen, wo ein berechtigter Nationalstolz etwas verlangen darf und wo die Forderung in einen gefährlichen -ismus übergeht, der gebremst werden muß. Auf dem Weg hat es die KPdSU zu einem ganzen Apparat von Rechten und Verboten gebracht, was die staatlichen Untereinteilungen, Sprache, Rundfunk, Kultur, Postenverteilungen etc. betrifft, zu einem Nationalitätenproporz bis ins ZK hinein, so daß westliche Beobachter den immer genau nachrechnen und zum x-tenmal "großrussische Ungerechtigkeiten" entdecken können. Sowjetrepubliken konkurrieren um mehr Berücksichtigung; eine kommunistische Partei Kasachstans findet sich nur mühsam mit einem russischen Republikchef ab. Wenn dennoch im großen und ganzen die "enge Verbundenheit" der vielen Völker praktisch gilt, dann nicht wegen der moralischen Bildungsveranstaltungen, sondern weil die Massen in ihrem normalen Leben eben doch etwas anderes zu tun haben, als sich um ihr Verhältnis als Völker zu kümmern. Und weil sie ihre praktischen Lebensverhältnisse auch gar nicht groß als Anlaß zur Unzufriedenheit begreifen. Außerdem wissen sie, daß gegen gelegentliche "nationalistische Vorfälle" die Behörden einschreiten.

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Im übrigen ist die KPdSU auf das Erfordernis einer "Nationalitätenpolitik" deswegen gestoßen, weil sie ein paar Eroberungen des Zarismus geerbt bzw. in den ihr aufgezwungenen Kriegen Territorien mit Nationalitäten darauf erobert hat. Manchmal mit freundlichen Gefühlen gegenüber den Russen und häßlichen gegen ihre Nachbarn, manchmal mit häßlichen Gefühlen gegenüber den Russen. Gegen die Idee, auch denen die Vorzüge des Sozialismus beizubringen, ist gar nichts einzuwenden. Wohl aber gegen die Idee, daß die sich mit einem Sozialismus um so leichter anfreunden, je mehr der vor ihren "Eigenarten" Respekt bezeugt und sie ihren alten Stiefel weitermachen läßt mit Religion, einer orientalischen Sippenwirtschaft oder was auch immer.

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Ein paar Intellektuelle aus den gerade in der Sowjetunion überreichlich besetzten Abteilungen Moral, Kultur, Volkstum usw. gibt es dann immer, die finden, daß ihre Nationalität irgendwie zu kurz kommt. Und die die von Moskau ausgerufene Perestrojka als die Gelegenheit verstehen, das einmal mit Nachdruck vorzubringen. Wenn sie Glück haben, bringen sie auch die Volksmassen damit auf die Straße und in Schwung wie in den guten alten vorrevolutionären Zeiten. Und wenn sie genügend westlichen Unsinn mitbekommen haben, definieren sie ihr bescheuertes Anliegen als Prüfstein dafür, ob sich die in Moskau wirklich in Richtung Demokratie bewegen oder nicht.

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Mit Demokratie haben solche Fragen, wo welche Grenze verläuft und ob sie mit den sprachlichen Gewohnheiten harmoniert, allerdings gar nichts zu tun - auch wenn schreibende Demokraten, etwa in der "Süddeutschen Zeitung" vom 11.3., die Unschönheiten des transkaukasischen Völkerstreits aus "zu wenig Demokratie" erklären, so als wären ihnen die demokratischen Gemetzel aus ähnlichem Anlaß, z.B. in Nordirland, ganz unbekannt. Gerade die vorbildlichen westlichen Demokratien sehen doch überhaupt nie einen guten Grund, ihre Machtvollkommenheit um ein paar Quadratkilometer zu reduzieren, nur weil sich darauf eine unzufriedene völkische Besonderheit regt. Deren Propagandisten stürzen sich allerdings mit Begeisterung auf die armenisch-aserbeidschanischen Querelen. Sie sind dabei sogar so ehrlich, nicht einmal besonders Partei für irgendeine Seite zu ergreifen - ein irgendwie westlich brauchbares Interesse ist dabei ja auch nicht auszumachen; Freude stiftet einzig die Tatsache, daß sie der Regierung in Moskau Probleme bereiten, und zwar Probleme - so die hoffnungsvolie Spekulation -, die vielleicht auf andere Nationalitäten übergreifen könnten. Es dreht sich wieder einmal um die uralte Hoffnung, daß seine Nationalitäten den Hauptfeind von innen schwächen. Auch eine ehrliche Art, die Komplimente an den Erfinder der Perestrojka auf ihren Begriff zu bringen.

Daneben erfährt man zum x-tenmal, daß die Sowjetunion ein Haupterfordernis und einen Hauptvorzug der Demokratie immer noch nicht akzeptiert hat: die freiheitliche Information über die genaue Anzahl der Toten und die Details der Todesart. Ohne Fotomaterial von aufgeschlitzten Bäuchen läßt sich der Fortschritt ja nun wirklich nicht voranbringen.