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Dieser Artikel ist in der MSZ 4-1988 erschienen.

Systematik


LINKER VERANTWORTUNGSETHIKER ÜBERFLIEGT GRINSENDE WENDE-REGIERUNG, GRÜNE KRISENBESCHWÖRER DABEI EINSACKEND

Wo die Mannschaft der Christen und Liberalen sich mit ihren Erfolgen brüstet, erntet sie bei L. nur eine gehörige Portion Verachtung. Die mögen sich einbilden, mit ihrem täglichen Kleinkram den Staat in ihrem Sinne zu lenken - dabei ist ihnen das Politikmachen schon längst entglitten:

"Die herrschende Politik dreht sich im Kreis. Und immer dann, wenn sie einen Zustand zu konservieren sucht, den sie unbedingt ändern müßte, nimmt sie Zuflucht zur Beschönigung. 'Ästhetisierung' der Politik lautet hierfür das Fachwort... Die Ästhetik der 'Wende' ist so trivial wie ihre Politik mittelmäßig. Nicht 'Ästhetisierung', sondern Verkitschung der Politik ist das richtige Wort. Wo das ernste Bemühen um die Veränderung einer ernstgewordenen Lage angebracht wäre, setzt die Regierung nur ihr verharmlosendes Lächeln auf. Während in Moskau ein neues Denken angesagt ist, propagiert man in Bonn ein 'neues Grinsen'. Die Verkitschung der Politik treibt seltsame Blüten." (113)

Dem bedenklichen Zustand der staatstragenden Politik steht ein mindest ebenso bedenklicher Zustand des Wahlvolkes gegenüber. Wie zur Strafe für ihre Tatenlosigkeit, mit der die Politiker eine ernstgewordene Lage grinsend immer ernster werden lassen, sind sie in Wirklichkeit - selbstgefällig in ihrem Bonner Sumpf sitzend - nur Hampelmänner eines mißgelaunten, fehlgeleiteten Wählerpacks. Dieses legt sich nämlich Politiker einzig um einer mentalen Bequemlichkeit willen zu: Selber wollen die Kreuzchenmaler nie was machen - aber immer wenn was schiefgeht, wollen sie auf jemanden schimpfen können. So mißbrauchen und pervertieren sie die Institution der Wahl dazu, sich institutionalisierte Blitzableiter zu bestellen:

"Die überall vorhandene Tendenz, das eigene Versagen auf Sündenböcke abzuwälzen... Wo Sündenböcke gebraucht werden, muß etwas falsch sein am gesellschaftlichen Verantwortungsbewußtsein... zu viele, so hat es den Anschein, verstehen die repräsentative Staatsverfassung als ein System der repräsentierten Verantwortlichkeit: Sie werfen mit ihrer Stimme auch ihre gesellschaftliche Verantwortlichkeit in die Wahlurnen. Dieses groteske Mißverständnis setzt den Politiker, ob er will oder nicht, einem enormen Erwartungsdruck aus." (17 f.)

Keine Sorge - diese Spielerei mit dem "gesellschaftlichen Verantwortungsbewußtsein", die so ein bißchen radikal-, ja rätedemokratische Vorstellungen antippt, ist nur die Masche des linken L., ist seine Sorte des vertrauenerweckenden Grinsens. Sie ist ihm sehr nützlich, um ganz unschuldig auf ziemlich harte Staatsknaller hinsteuern zu können.

In diesem Fall will die Enttäuschung über den Wähler, der an der Urne seine Verantwortlichkeit abgibt, auf einen diabolischen "Teufelskreis gegenseitigen Bedingens" (20) hinaus, in dem verantwortungslose Wähler und luschige (Wende-)Politiker sich wechselseitig immer tiefer in die Scheiße reiten:

"Mag auch kollektives Verdrängen eine Schutzreaktion sein, die uns das Leben erleichtert, es hilft uns nicht weiter. Im Gegenteil. Wir verdrängen mit Vorliebe das, was uns bedrückt und wofür wir uns nicht verantwortlich fühlen wollen. In dem allgemeinen Verdrängen offenbart sich ein allgemeiner Mangel an Verantwortungsbewußtsein (12)... Die Tendenz geht dahin, den Verursacher vom Verantwortungsnehmer zu trennen (14).. wird der Politiker - freiwillig oder unfreiwillig - zu einer Art universeller 'Verantwortungsnehmer', gar häufig auch 'professioneller Watschenmann' wider Willen." (16)

Abgetreten ist abgetreten oder: Wir hier oben - ihr da unten

So tischt L. seinen Konkurrenten im rechten Lager ein schweres Versäumnis auf, das sie mit ihrer Schein-Wende richtiggehend herbeigerufen haben: Politik schlechthin ist im Arsch, weil sich Politiker der mißratenen Menschennatur, die Verantwortung immer nur wegverdrängen will, als Watschenmänner zur Verfügung stellen - und sie merken es nicht einmal! Statt dessen sonnen sie sich, eitel -

"Der Politiker wird zum Opfer der von ihm selbst geweckten Erwartungen, gerät unter Rechtfertigungsdruck und flüchtet, mangels wirklicher Erfolge in ein Ritual der ständigen Selbstbeweihräucherung" (20) -

oder überfordert -

"Den verantwortlichen Politikern widerfährt täglich, was Niklas Luhmann 'die Überforderung des Machthabers in Organisationen' nennt." (15) -

in ihren Schein-Erfolgen und kommen vor lauter Reagiere n nicht mehr zu ihrer eigentlichen Profession, dem Regieren. Am deutlichsten und schlimmsten wird dieser "dialektische Zusammenhang" zweier immer nur Minus ergebenden Minuspole, wenn der "verantwortungsnehmende" Politiker zum letztendlichen "Verursacher" verdreht wird - wo er es doch gar nicht ist! Der auf vordergründiges Funktionieren und Stimmenfang bedachte Erwartungserweckungstrieb der Politiker entbehrt des Gütesiegels des politischen Handelns. Er macht sich, "ob er will oder nicht", von einer launischen Haltung des Wählers abhängig. Das Resultat ist unausweichlich: Alles geht den Bach hinunter:

"Der Unfall wird nicht zu vermeiden sein, wenn wir weiter so handeln, als nähmen wir die Warnzeichen nicht wahr. Sehenden Auges reagieren wir blind wie die Lemminge. Das ist doch zum Verzweifeln absurd." (12)

Das Bild mit den Lemmingen ist sattsam bekannt. Gerade die Grünen, diese Mutter/Kind/Naturretter, haben es sehr populär gemacht als Notruf nach einer allerverantwortlichsten Politik, die keine Interessen, dafür um so mehr moralische Güte als Stellvertreter der Menschheit auf ihrer Seite haben will. Diese bis auf die Knochen positive Krisenbeschwörung, diese an Uneingeschränktheit kaum mehr zu überbietende Parteinahme für das Bestehende ("Überleben!") sticht L. ins Auge. Während sich aber die Grünen über die scheußliche Vergewaltigung der Natur erregen und mit diesem so unverdächtigen und erdballumspannenden Titel möglichst viele "Menschen guten Willens" zur Stimmabgabe zu bewegen suchen, bedient sich L. dieses Bildes einer kopflos dahinrasenden Masse, um auf eine sehr viel demokratischere Katastrophe hinzusteuern: Das Verhältnis von Herrschaft und Beherrschten sei n Unordnung geraten.

Seine linke Tour besteht darin, den Grünen ihr Katastrophenszenario zu entwinden und gegen sie in Anschlag zu bringen. Was ist denn "wirklich" nicht in Ordnung? Daß die Beherrschten sich einbilden können, sie könnten die Politiker unter einen "Erwartungsdruck" setzen, den die Politiker wiederum "sehenden Auges" selbst erzeugen. Daß sich das "groteske Mißverständnis" eingeschlichen hat, mit der Wahl eines Politikers könne man ihn dann auch verantwortlich machen. Daß die Politiker, indem sie sich verantwortlich machen lassen, sich in die Rolle des "Verursachers" haben drängen lassen. Falls es noch eines Beweises für die Perversion des rechten Verhältnisses von oben und unten bedarf: Was haben sich denn diese grünen Gestalten mit ihren Schuldzuweisungen an die Politiker in den Parlamenten herumzutreiben (und der SPD Stimmen wegzunehmen)?!

Die perfide Wucht des L'schen Gegenangriffes auf die Grünen ergibt sich daraus, daß er den stinkenden Kern ihrer Verantwortlichkeitstour herausarbeitet und ihnen auf die Füße fallen läßt. Wer nämlich unter dem Motto antritt: Ich kenne keine Interessen mehr, ich kenne nur noch Menschen - der appelliert an eine Führung, die doch endlich jenseits allen kleinkarierten Parteiengerangels die "Menschheitsprobleme" anpacken soll. Da macht L. gerne den Wald, aus dem es wieder herausschallt. Er plädiert für eine "neue Freiheit" der Politik, für einen Ausbruch aus dem "Teufelskreis gegenseitigen Bedingens": Die Illusion muß weggeräumt werden, in der Demokratie, näher: im Wahlakt, geschehe eine Übertragung der Verantwortlichkeit an Politiker, die man daraufhin dann auch befragen kann - nein: wahre Demokratie ist die illusionslose Einsicht (igkeit) in die angebliche Ohnmacht der Politik, um deren Handlungsfreiheit sich die Untertanen mehr kümmern müssen. Mit der Wahl tritt der Untertan seinen Willen zur Regelung der gesellschaftlichen Verhältnisse an die Befugten ab und behält seine Verantwortlichkeit.

"Gesellschaft der Zukunft" - Weiter so! aber mit reformierten Menschen...

Die besteht darin - und das muß jetzt endlich einmal klargestellt werden, nachdem das durcheinandergekommene Verhältnis von oben und unten zurechtgerückt worden ist -, daß "die Menschen" die wahren Verursacher aller gesellschaftlichen Übel sind. Ihr lemminghaftes Verhalten, garniert mit Verdrängungswünschen und Sündenbocksuche, läßt gar nichts anderes erwarten; doch L. wird "konkreter", und zwar indem er sich begeistert der grünen Ideologie bedient:

"Bezeichnend für den Mangel an gesellschaftlichem Verantwortungsbewußtsein ist die vorherrschende doppelte ökologische Moral. Zwar beklagen wir alle die übermäßige Belastung der Umwelt, doch kaum einer tut wirklich alles, was er tun könnte, um die Umwelt zu entlasten. Viele sind es ja nicht, die auf den Komfort des eigenen Autos verzichten wollen. Keiner kommt ohne chemische Stoffe aus. Selbstverständlich müssen wir gegen die Vergiftung unserer Umwelt protestieren, wenn erforderlich, auch demonstrieren. Nur dürfen wir dabei nicht vergessen, daß wir uns selber keineswegs exkulpieren können, indem wir andere demonstrativ anprangern. s ist nicht möglich, die Gesellschaft n Täter und Opfer u trennen. Zu den Müllbergen der Wohlstandsgesellschaft trägt jeder bei. Die Bewältigung der damit verbundenen Probleme ist nur durch gemeinsames gesellschaftliches Handeln auf der Grundlage einer verallgemeinerten Verantwortlichkeit vorstellbar." (20 f.)

Dieses klassenneutrale Etikett des Kaugummipapierchenwegschmeißers heftet sich L. gar zu gern an. Freilich nur unter der Voraussetzung, daß alle anderen mit- und sich daraus ein Gewissen machen. Dieses dicke "Wir alle" - in diesem Buch eh bis zum Erbrechen ausgewalzt - ist ja eine prima Methode, den Politiker kurzzeitig als ebenso fehlerhaften Menschen zwischen allen anderen Menschen anzusiedeln, um ihn dann aber in seinem Berufeben so von allen Menschen zu separieren. Dort ist er beauftragt, die Umweltschänder Mores zu lehren. Und nicht nur die - noch jede von L. bienenfleißig aufgelistete "Ungerechtigkeit" und erst recht alles, was hierzulande als Skandal gilt, mündet in immer dieselbe Aufforderung: Die Volksgenossen sind verpflichtet, sich um die Verwirklichung politischer Ideale zu bemühen.

"Hier ist verantwortliches Handeln, verantwortliches Gestalten der Menschen gefordert. Der steuernde Eingriff menschlicher Vernunft..." (87)

Arbeitslose - die "Arbeitsplatzbesitzer" haben mit ihrer "Solidarität" diesen untragbaren Zustand aus der Welt zu schaffen.

"Die gegenwärtige Arbeitslosigkeit hatja keineswegs ihre tieferern Ursachen in den wirtschaftlichen Gründen... Kurt Biedenkopf sieht richtig, daß die Arbeitslosigkeit heute in erster Linie Ausdruck einer unzureichend intelligenten Organisation der Arbeit und des Arbeitsmarktes ist... Diese Formulierung verharmlost die Tatsache, daß wir verlernt haben, zu teilen und solidarisch miteinander zu leben." (124)

Frau - Ehemänner und der sonstige "Familienzusammenhang" dürfen der "Doppelrolle" nicht länger tatenlos zuschauen. Verseuchung von Fluß und Wiese - Bauern und alle Naturliebhaber schließen sich "regional" zusammen und tun alles, "was in ihren Kräften steht". Usw. usf. Zwischen Tätern und Opfern kann, ja darf man nicht trennen, sagt er, mehr noch: Wer das versucht, macht sich selber hochgradig schuldig. L. will darauf hinaus, daß niemand sich anmaßen kann, einen Grund ausfindig machen zu wollen und womöglich zu verlangen, daß gewissen Tätern das Handwerk gelegt und gegen ihre Interessen aufgetreten wird. "Verallgemeinerte Verantwortlichkeit" heißt: Der Grund sind "wir alle", und jeder hat n seinem Platz für Abhilfe zu sorgen. Wenn und soweit da was geht, ist es recht und erwünscht, doch soll sich keiner einbilden, er könne sich aus seiner Verantwortlichkeit stehlen und Taten von anderen verlangen - die verheerenden Folgen: siehe oben...

Wenn aber jeder an seinem Platz sein Bestes tut, dann eben auch der Politiker an seinem. Dort freilich will er unbehelligt sein, ist er doch fürs "Gesamte" zuständig; und diese saubere Arbeitsteilung sieht nach L's Auffassung folgendermaßen aus:

"Umdenken ist ein Gebot der Stunde... mehr Demokratie wagen, das heißt, jeder muß mehr Verantwortung übernehmen.

Die Verantwortung zu demokratisieren heißt nicht, den Handlungsspielraum der Politik einzuengen, sondern ist heute die einzige Möglichkeit, ihn zu erweitern. Letztlich ist es diese faktische Allverantwortlichkeit der Politik, die den Politiker handlungsunfähig macht, die ihn aus der gestaltenden in eine bloß legitimatorische Rolle drängt. Die Politik begibt sich ihrer Entscheidungs- und Geltungsmacht... (21 f.)

Global denken, lokal handeln - das ist der kategorische Imperativ der Ökologiebewegung. (25)"

Raus aus der Allverantwortlichkeit und mehr Demokratie gewagt! Da staunt man schon ein bißchen über die Taschenspielertricks des linken L. In Berufung auf die Herrlichkeit alter Zeiten, als noch ein Willi B. das deutsche Volk unterhalten und regieren durfte, macht der Enkel seinen Führungsanspruch geltend: Mit dem Angebot, sich mehr in die Politik einzumischen und Berücksichtigung fordern zu können - was ja damals der Trick der SPD-Machtübernahme war -, ist die Parole "Mehr Demokratie wagen!" wirklich bei L. nicht mehr zu verwechseln. Er bringt gleich die praktische und unter Willi B. und Helmut S. erprobte Wahrheit dieser Parole umstandslos zur Anwendung: Mehr Demokratie ist, wenn das Staatsinteresse von mündigen Bürgern voll eingesehen ist und ihnen bei der Verfolgung ihrer Privatinteressen ein schlechtes Gewissen macht; wenn die Bürger keine Ansprüche stellen, sondern sich ganz demokratisch mitten in ihrer Privatsphäre um die Lösung aller "Probleme" kümmern und tun, was ihnen angeschafft wird; wenn sie sich darauf verpflichten lassen, aus jedem Übel der Gesellschaft nur den Schluß zu ziehen, sich immer strebend zu bemühen, dem Staat aber keinen Vorwurf oder Antrag zu machen. Kurz: Wenn der Bürger "handelt (lokal)" und der Staat "denkt (global)".

Nahtlos schließt L. an das von Helmut S. versinnbildlichte einzige Versprechen der Sozialdemokratie an, nämlich sich um eine besonders raffinierte Führung der Staatsgeschäfte zu bemühen, wobei die besondere Raffinesse darin besteht, dem Bürger jeden bescheidenen Wunsch nach Wohlergehen als ein einziges "egoistisches" Hindernis für die dringend erforderliche "Reform des Kapitalismus" aufs Auge zu drücken.

Die Sozialdemokratie wäre ja die Letzte, die sich mit den "selbstzufriedenen Phrasen" des rechten Lagers über den durchaus bedenklichen Zustand der Gesellschaft hinwegtäuschen wollte. Auch zögert sie nicht, das Wort 'Kapitalismus' in den Mund zu nehmen. Was aber ist - abgesehen davon, daß die SPD schon unzählige Verbesserungen an ihm angebracht hat das tatsächlich Bedenkliche am Kapitalismus? Da wird L. wieder mal sehr dialektisch: Er läßt es den Menschen zu gut ergehen, deswegen wird es ihnen schlecht gehen. Die um Fortschritt, Freiheit und Emanzipation kreisende Phraseologie eines Sozialdemokraten darf nun voll zuschlagen. Sagte Helmut S. noch recht simpel "Das deutsche Volk ist verwöhnt!", so weiß sein Sohn mittlerweile, daß der deutsche Mensch sich in eine "selbstverschuldete Unmündigkeit" begeben hat, die da heißt: Er hat sich verwöhnen lassen. Sehr philosophisch - immerhin hat er einen umfangreichen Zettelkasten - beschwört L. eine "verdinglichte Welt": 'Kapitalismus' heißt bei ihm ein Zustand - und wieder merkt man, wie "grüne Inhalte" einer "etablierten Altpartei" zupaßkommen -, in dem sich "Megamaschine" und "Produktwelt" verselbständigt haben. Allen Ernstes behauptet er - aber da hat er mit seiner Ununterscheidbarkeit von Opfern und Tätern ja schon vorgearbeitet -, der Kapitalismus sei ein quasi von allen Interessen losgelöster Apparat, der einerseits die Menschen materiell ganz gut bedient und einlullt, andererseits zu einem zerstörerischen Selbstlauf angesetzt hat - Stichworte: "Großtechnologie", "AKWs", "computergesteuerte Atomwaffen". Den zu stoppen, wäre die "Reform des Kapitalismus", die sich die SPD neuerdings auf die Fahnen geschrieben hat. Sie besteht schlicht und ergreifend darin, das Menschengeschlecht dahingehend zu "emanzipieren", daß es sich am Riemen reißt, denn:

"Der Überfluß birgt die Gefahr" (106) und wenn es das nicht tut, ist ein allumfassender Krieg unvermeidlich, wie schon Platon lehrt:

"...die erste Analyse der Dienstleistungsgesellschaft: die von Platon beschriebene Tendenz, daß mit der Güterproduktion einer komplexeren Gesellschaft auch das Bedürfnis nach Dienstleistungen wächst... Freilich sieht Platon nicht weniger klar, daß mit der Komplexität und dem Reichtum der Gesellschaft auch die Risiken für die Menschen zunehmen: ... 'Also werden wir von den Nachbarn Land abschneiden müssen, wenn wir genug haben wollen zur Viehweide und Ackerbau, und sie auch wieder von unserem, wenn sie sich gehenlassen und die Grenzen des Notwendigen überschreitend nach ungemessenenem Besitz streben... Von nun an werden wir also Krieg zu führen haben!' - Krieg nicht nur gegen andere Völker, sondern auch Krieg gegen die Natur, so müßten wir heute hinzufügen." (Ebd.)

Seichbeutel L. hat dafür auch noch Jesus auf Lager:

"Platons Allegorie läßt sich durchaus übertragen auf die gegenwärtige Risikogesellschaft, deren Prinzip das Ankaufen, nicht das Teilen ist. (107) Werden wir je eine Gesellschaft erleben, die demokratisch und solidarisch genug ist, um nicht mehr obrigkeitsstaatlich von Verteilen zu reden, sondern schlicht mit-menschlich vom Teilen?" (29)

Gut, gell? Der sozialdemokratische Reformidealismus ganz schön weit in die Zuckerbäckergefilde der Metaphysik vorangetrieben und zugleich waschecht wie selten: Mit den Phrasen und Idealen der Demokratie ist die Sozialdemokratie scharf und stolz darauf, die gelungene Kontrolle des Individuums als dessen eigenverantwortliche Leistung und Einsicht zu betreiben. Der immaterielle Lohn ist riesig, denn geschenkt kriegt man erstens eine "Utopie", zweitens ein "Projekt Moderne", drittens "Fortschritt", viertens eine nicht endenwollende Ansammlung von Kalauern von Max Weber -

"Kein Zweifel also, daß es an der Zeit ist, eine neue aufklärerische Verantwortungsethik aus den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen zu entwickeln. Eine solche Verantwortungsethik muß universalistisch sein - ein System von Normen sozusagen, das von allen akzeptiert wird. Das setzt voraus, daß sich die Gesellschaft auf ein Wertesystem einigt." (236)

bis Ernst Bloch:

"Ohne Hoffnung wäre das Leben unerträglich. Was nämlich sagt uns, was es zu verantworten lohnt, wenn nicht das 'Prinzip Hoffnung'? Die Linke kann das Prinzip Hoffnung nicht aufgeben, ohne das 'Projekt Moderne' seines progressiven Kerns zu berauben." (263)

...und der Reformpartei an der Macht

Das "Projekt Moderne" ist L's Konter gegen das mögliche Mißverständnis, er wolle nun irgendeines der aufgezählten "Risiken" bleiben lassen: Atom-, Gen- und Großtechnologie, Bundeswehr... bleiben natürlich. Sie müssen bloß in seine verantwortungsbewußten Hände gelegt werden. Nicht nur ist die SPD immer schon die "Partei des Fortschritts" gewesen, sie verspricht auch, endlich der Politik die Geltung zu verschaffen, die ihr zusteht. Der Gedankengang ist wieder so einfach wie dialektisch:

Die "Risiken der modernen Gesellschaft" zeugen von Ohnmacht der Politik. Abgehalten und behindert vom verantwortungslosen Wähler, hat sie die gesellschaftlichen Entwicklungen geschehen lassen müssen; schlimmer noch: Oft genug ist sie als Geldgeber und Förderer herangezogen worden, ohne aber bestimmend eingreifen zu können (- von ferne läutet der Stamokap). So bleibt ihr nicht erspart, in einen Zusammenhang mit "Megamaschine" und "Produktwelt" gebracht zu werden, obwohl sie an deren Wirkungen unschuldig ist. Fazit: Sie ist von lauter "Sachzwängen" umstellt:

"Das häufig beklagte politische Versagen des Staates resultiert aus der Nachträglichkeit staatlicher Maßnahmen. Die Politik ist ständig im Verzug, reagiert auf Probleme; sie bekämpft Symptome statt Ursachen. (245) Die Menschen haben die Produkte ihrer Arbeit, das von ihnen 'Gemachte' aus den Augen verloren, sie sind zu blinden, Sachzwängen gehorchenden 'Machern' geworden. 'Machern' mangelt es an Visionen. Auch die Politik hat sich - visionslos - den Sachzwängen gebeugt." (266)

Die "Vision" (= Umkehrung): Politik muß den "Sachzwängen vorgreifen", sie braucht Macht:

"Wenn die Politik das Prinzip der Vorsorge als Maxime ihres Handelns nimmt, kann sie verlorenen Handlungsspielraum gegen die Sachzwänge zurückgewinnen." (24)

Dieser Mensch lügt unverschämt, wenn er den Imperialismus und seine Folgen zu einem Werk der Untätigkeit von Politik erklärt. Es kommt einem das Grausen, wenn man diese schamlos in sämtliche schönen Werte der bürgerlichen Gesellschaft verpackte Machtgeilheit betrachtet. Es ist einigermaßen lächerlich, wie er sich verbissen bemüht, der Wende-Regierung mit ihren Erfolgen ihre Erfolge streitig zu machen. Und es ist eine plumpe Parteinahme für den status quo, wenn sein ganzes Genörgele sich in dem dummen Spruch zusammenfaßt, für den dieser "linke Verantwortungsethiker" sich auch noch auf eine Ami-Autorität berufen muß:

"'In der gegenwärtigen Krise'- sagt Lewis Mumford - 'müßten wir, um das Wesen des Menschen zu bewahren und wieder zu erneuern, die Demokratie erfinden, wenn wir sie nicht schon hätten!' Ja, wir müssen mehr Demokratie wagen!"

*

So äußert sich L. eigentlich zu allem, was hierzulande auf dem Gebiet der "politischen Kultur" vorgebracht werden muß, um sich als mit Geist begabter Machtmensch darzustellen. Sein Ghost-Writer und sein Zettelkasten sind wahrhaft "universalistisch", was die Aufzählung von "Herausforderungen unserer Zeit" angeht, die dringend nach politischer Gestaltung verlangen. Die moderne Sportart des Begriffebesetzens, den Parforce-Ritt durch die Landschaft der Schlagwörter, beherrscht L. bestens und muß offenkundig nicht die geringste Sorge haben, daß ihm irgend jemand diese offenkundige Aufzählungsmanie ankreidet: Es handelt sich ja um einen Kanzlerkandidaten in spe, der jetzt schon ein hohes Amt innehat. Und aus diesem Munde können nur bedeutsame Worte kommen.

Zu allem Überfluß hat der älteste Einfall bürgerlichen Verstandes - Lohnverzicht -, den L. als Ergebnis heftigen Nachdenkens über die "Erwerbsgesellschaft" präsentiert, unvermutet den Anschein des Praktischen bekommen. Das lag nicht an ihm, sondern daran, daß sich die Gewerk-schaft bereitgefunden hat, auf diese "Provokation" beleidigt zu reagieren. Während jeder andere an L.'s Ergüssen bestenfalls interessant findet, daß es sie gibt und zu Recht davon ausgeht, daß daraus keine praktischen Folgen erwachsen, fühlt sich die Gewerkschaft hinterrücks erdolcht. Da kommt nämlich einer daher, der die Gewerkschaft mit ihrem volkswirtschaftlichen Ideal einer Umverteilung der Arbeit zugunsten der Arbeitslosen beim Wort nimmt und ihr den Vorwurf macht, sie hätte es in Wirklichkeit gar nicht ernstgenommen; denn wenn schon Umverteilung der Lohnarbeit, dann auch Umverteilung des Lohns. L. hat nicht nur ausgesprochen, daß das gewerkschaftliche Programm gegen Arbeitslosigkeit ein Verzichtsprogramm ist; er hat der Gewerkschaft den Vorwurf gemacht, daß sie immerzu auf dem Schein besteht, es wäre eben das nicht. Als ertappte Heuchler haben sie sich aufgeführt und damit dem linken L. einen seiner schönsten Punkterfolge beschert. Selbst ein Bangemann tut jetzt so, als ob sich zwischen L.'s Buchdeckeln "Antworten auf die Fragen unserer Zeit" finden lassen. Was will ein Autor mehr?

Dieser Lohnversenkungsplan

hat's dem Oskar angetan,

und mit Werten öd und schal

meld't er sich zur Kanzlerwahl.

Vogel wundert sich und Glotz(t),

was der L. da hingerotzt,

Vetter, Breit und jenem Stein-

kühler leucht' die Sache ein.

Und mit vielem Weh und Ach

schlagen sie ein bißchen Krach.

Gott wie liegt uns Deutschen nur

die politische Kultur.

Lange schallt's im Walde noch:

Unser Oskar lebe hoch!

Literatur:

Oskar Lafontaine, Die Gesellschaft der Zukunft