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Dieser Artikel ist in der MSZ 4-1988 erschienen.


GIBT ES DENN NICHTS MEHR ZU TUN FÜR DIE FRIEDENSBEWEGUNG?

Vor ein paar Jahren waren sie zu Hunderttausenden auf den Straßen und demonstrierten ihre Angst vor der "Kriegsgefahr". Dann wurden die Raketen, die ihnen als besonders gefährlich galten, aufgestellt. Als sie standen, wurde es schon bedeutend ruhiger. Die "Katastrophe", vor der die Friedensfreunde die Herren in Bonn für den Fall der Stationierung gewarnt hatten, war ausgeblieben. Übrigblieben ein paar Unentwegte, die in Mutlangen Mahnwache schoben. Schließlich entschlossen sich die beargwöhnten Supermächte, die Mittelstreckenraketen per Vertrag aus der Welt zu schaffen. Und seitdem kommt sich die Friedensbewegung ziemlich "entwaffnet" vor.

Die "Kriegsgefahr", die sie auf die Beine gebracht hat, kann in ihren Reihen endgültig niemand mehr entdecken. Friedensdemonstrationen heute stehen unter dem Motto "Die neuen Chancen nutzen!" und rufen den Rüstungspolitikern in aller Welt ein herzliches "Weiter so!" zu, so als ob in der Politik endlich jene "Vernunft" eingekehrt sei, die ihr der Friedensprotest von unten immer nahebringen wollte. Wie sich die Zeiten ändern: Gorbatschow, Kohl (auch der!) und sogar "Cowboy" Reagan sind heute Hoffnungsträger, die in ihrem angeblichen "Abrüstungswillen" von der gesamten Menschheit zu unterstützen sind. Gegner kennt diese Bewegung schon längst nicht mehr, höchstens noch "Bremser", die aus Böswilligkeit oder Verbohrtheit dem unaufhaltsamen Fortschritt hin zu einer "neuen Ordnung politischer Friedenssicherung" im Wege stehen.

Da sei schon mal die Frage erlaubt: Was hat sich denn eigentlich verändert? Ist denn der Weltfrieden weniger kriegsträchtig geworden, bloß weil die USA und die SU wechselseitig auf eine Waffengattung verzichtet haben? Oder täuscht sich nicht vielmehr die Bewegung ziemlich gründlich, wenn sie sich durch den INF-Vertrag und die darum herum veranstaltete Stimmungsmache ent-warnen und mit Hoffnung erfüllen läßt?

Ein allgemeiner Abrüstungswille soll ausgebrochen sein?

Der einfachste Einwand gegen die eingetretene Beruhigung ist der Hinweis darauf, daß die Aufrüstung auch nach dem glorreichen Abkommen über die Mittelstreckenraketen unvermindert weitergeht. Nicht nur, daß der Vertrag überhaupt "bloß 3%" der Atomwaffen erfaßt, wie die Friedensfreunde selbst ausgerechnet haben. Die Modernisierung und der Ausbau der "übrigen" konventionellen und atomaren Arsenale zu Lande, zu Wasser und in der Luft gehen weiterhin ihren Gang. SDI, immerhin das Rüstungsprojekt, das den USA endgültige Überlegenheit über den Feind verschaffen soll, wird forciert wie nie zuvor, und die SU hat sich ihrerseits darauf längst eingestellt und hält rüstungsmäßig dagegen. Die Herren in Bonn bringen nach der "Null-Lösung" gezielt ihre Schreckensvision von einer drohenden "Denuklearisierung Europas" ins Spiel, worauf die NATO mit der ungemein beruhigenden Klarstellung "antwortet", daß solche "Ängste" jeder Grundlage entbehren. Usw. usf.

Bloß: Das weiß die Friedensbewegung selbst - ein Grund zum "Aufstehn" ist das alles freilich nicht. Höchstens zur Skepsis, ob der "Abrüstungswille", den man den Strategen diesseits und jenseits des Atlantiks gerne bescheinigt, auch ernst genug verfolgt wird. Da mögen die Supermächte und ihre europäischen Bündnispartner noch so sehr rüsten und an den Strategien zur Austragung ihrer Feindschaft feilen - die Bewegung will die Sache so sehen, daß ausgerechnet von den auf beiden Seiten aufgehäuften Waffen ein Zwang ausgehe, welcher die Kontrahenten zu Frieden und Abrüstung nötige, ob sie wollen oder nicht. Der Vertrag soll der Beweis sein - nicht unbedingt dafür, daß sie sich jetzt endlich vertragen, aber dafür, daß sie sich vertragen müssen. Und genau das hätten Reagan und Gorbatschow nun auch eingesehen. Zwar bloß, aber doch immerhin zu 3%...

Das absehbare Ergebnis der bisherigen Rüstungsdiplomatie: Keine Abrüstung, daFür lauter falsche Hoffnungen

"Der Weg der Vernunft ist klar erkennbar: Das erfolgreich erprobte Experiment der Verständigung mit dem Mittelstreckenraketenabkommen muß als gelungen angesehen werden, es kommt jetzt darauf an, über das Experimentierstadium hinaus die Fortsetzung der Abrüstung auf alle Bereiche der Waffentechnik und alle Nationen auszudehnen." (Aufruf zum hessischen Ostermarsch '88)

O heilige Einfalt! Die Supermächte hätten mal so zur Probe ein paar Raketen verschrottet, um dann ermutigt durch den überraschenden Ausgang ihres eigenen "Experiments" - siehe da: es geht! - weitere Abrüstung zu riskieren, wie rührend!

Die Diplomatie mit den Waffen und ihr jüngstes Kind scheinen die friedensbewegte Menschheit endgültig verwirrt zu haben:

- Ist denn der Gedanke so schwer, daß Waffen, also die Erpressungsmittel von Staaten gegen ihresgleichen, mit denen nichts Geringeres als die Vernichtung des feindlichen Souveräns in Aussicht gestellt ist, ein denkbar ungeeigneter Vertragsgegenstand sind? Und daß es schon eine besondere Bewandtnis damit haben muß, wenn Staaten über die Gewaltmittel, die sie gegen den Feind angesammelt haben, mit eben diesem Feind in ein Gespräch eintreten? Worüber werden sie denn in solchen Verhandlungen sprechen - wenn nicht über das Gewicht, das ihnen ihr Vernichtungsarsenal gegenüber der anderen Seite verleiht: Was werden sie dabei wohl "erproben" - wenn nicht die Wirkung, die die eigene Aufrüstung auf den Willen des Gegners hervorruft? Spricht das Interesse an dessen Berechnung und "Kontrolle" für etwas anderes als für das Bewußtsein der Konkurrenten über die Fortexistenz eines unerbittlichen Gegensatzes, der ständig neue Kriegsanlässe produziert: Meint jemand wirklich im Ernst, daß in diesem "Dialog" die Gegner den Standpunkt eines übergeordneten Gemeinschaftsinteresses einnehmen und von da aus die "Möglichkeiten weiterer Abrüstung" ventilieren? Wenn es so wäre, wäre wirklich nicht abzusehen, wieso diesem Unternehmen überhaupt "Schwierigkeiten" im Wege stehen sollen! Oder ist es nicht vielmehr so, daß unter Berufung auf so eingebildete übergreifende Zielsetzungen wie "Gleichgewicht" der jeweils anderen Seite ihre Rüstung vorgeworfen wird, was ja immerhin heißt, daß sich da ein Kontrahent zum Richter darüber aufschwingt, was dem anderen auf diesem Felde zusteht? So hat die NATO z.B. auf ihrem jüngsten Gipfel der Sowjetunion rundheraus deren "militärische Präsenz in Europa" vorgeworfen (und daß diese deren "Verteidigungserfordernisse bei weitem überschreitet") - und damit unmißverständlich angegeben, wo und bei wem eine "Fortsetzung der Abrüstung" stattfinden soll. Von wegen, in der Welt sei ein allgemeiner Abrüstungswille ausgebrochen! Der einzige "Fortschritt" besteht darin, daß die politische Feindschaftserklärung seit geraumer Zeit rüstungsdiplomatisch ausgedrückt wird und damit der Schein erzeugt wird, über die Feindschaft ließe sich verhandeln. Das ist dann auch schon die ganze Technik der Rüstungsdiplomatie, auf die man lieber nicht reinfallen sollte: die bestimmten Waffen und Waffensysteme, die da als Verhandlungsmaterie ins Spiel gebracht werden, sind gar nicht das eigentliche Thema. An ihnen (genauer: an der Beanstandung von Verstößen des Gegners gegen angebliche "Paritäten", "Gleichgewichte" und dergleichen) wird vielmehr der prinzipielle Anspruch an den Feind zur Sprache gebracht, er solle seine störende Souveränität aufgeben. Und dieser Anspruch steht eben gar nicht zur Verhandlung, wenn "Verhandlungsangebote" gemacht und über "Rüstungsungleichgewichte" gestritten wird.

- Daß zwei Staaten(-Blöcke) über Jahre hinweg miteinander über die Mittel, sich gegenseitig fertigzumachen, ein Gespräch führen, sogar Verträge schließen, ist in der Tat eine weltpolitische Neuheit. Aber keine, die Anlaß zur Hoffnung gibt - nach dem Motto: Na bitte, sie kommen gar nicht darum herum, aufeinander einzugehen! Oder gar: Sie sind "vernünftig" geworden und sehen ein, daß Krieg heutzutage nicht mehr geht und statt dessen "Verständigung" angesagt ist. Ein Riesenirrtum!

Es mag zwar sein, daß sich die Weltmacht Nr. 1 ohnmächtig vorkommt, wenn sie bemerkt, daß mit all ihrem schönen akkumulierten Kriegsgerät ihrem Feind nicht beizukommen ist, weil der sich auf diesem Feld keine "sozialistische Mißwirtschaft" geleistet hat - aber verwegen ist der Schluß, daß sie deshalb von ihrem politischen Willen, das "System der Unfreiheit" aus der Welt zu schaffen, Abstand nimmt oder zu nehmen hätte. Die Wahrheit ist vielmehr, daß die maßgeblichen Rüstungspolitiker und Strategen im Westen genau den gegenteiligen Schluß gezogen haben. Sie haben die "Lage", daß die seit 45 erklärte und mit einer noch nie dagewesenen Rüstungskonkurrenz betriebene Feindschaft gegen den Osten immer wieder zu einem "Patt" geführt hat, keineswegs als friedenserhaltendes Gleichgewicht begrüßt, sondern stets als ein einziges "Dilemma" beklagt , aus dem immer nur eine einzige Konsequenz zu ziehen ist: daß dann die Rüstungskonkurrenz eben um so entschiedener vorangetrieben werden muß, um das Ärgernis der Unentschiedenheit endlich aus der Welt zu schaffen! Und als Zusatz dazu ist ihnen eingefallen, daß es gerade wegen der (atomaren und sonstigen) Kriegsfähigkeit des Feindes ganz nützlich ist, sich mit dem Feind über die Rüstung zu unterhalten, während man an der eigenen strategischen Siegfähigkeit gegen ihn arbeitet. Gewissermaßen als andauernde diplomatische Vergewisserung, wie der Feind die "Lage" sieht und welche "Schlüsse" er aus den eigenen Anstrengungen zieht, das leidige "Patt" zu beenden. Genau diesem andauernd in die Tat umgesetzten und rüstungsdiplomatisch begleiteten Beschluß verdanken "wir" ja die ungeheure Waffenansammlung und die vielfältigen Kriegsszenarios, die von friedensbewegten Menschen mal als "Kriegsgefahr" und dann wieder als heilsamer Zwang zum Friedenhalten interpretiert werden - so als wäre die Lüge von der kriegsverhindernden Wirkung der Abschreckung am Ende doch wahrgeworden! Dabei ist allzu klar, wovon diese friedensbewegte Konjunktur, der flotte Wechsel von Warnung und Entwarnung, abhängt. Von einer Änderung der tatsächlich betriebenen Strategie des "Wettrüstens" zwischen 1980 und 1988 ist jedenfalls nichts bekannt geworden. Von einer Resignation der maßgeblichen Weltpolitiker in Kriegsdingen, also einem Verzicht auf Krieg als Mittel der Politik, ist nichts zu spüren - im Gegenteil. Aber daß überhaupt und heute wieder verstärkt mit den Waffen Diplomatie betrieben wird, beruhigt die Gemüter ungemein und läßt das Kriegsgerät schon weit weniger furchterregend erscheinen.

Weil darüber "geredet statt geschossen " wird - ein Gemeinspruch, der selber noch anzeigt, womit beim Reden kalkuliert wird -, kehrt Erleichterung ein. Und dabei ist das Reden nur deshalb so wichtig, weil getrennt davon gerüstet wird, daß es kracht! Man sollte also aufhören, immerzu Strategie und Diplomatie, Diplomatie und Frieden miteinander zu verwechseln.

Die "Null-Lösung": Die Rüstungskonkurrenz wird immer entscheidungsträchtiger - dafür werden sogar richtige Waffen zur diplomatischen Münze

Auch der INF-Vertrag hat das Verhältnis von Strategie und Diplomatie nicht auf den Kopf gestellt, auch wenn es manchem so scheinen mag, weil mit diesem Stück Rüstungsdiplomatie in der Tat erstmals auf beiden Seiten wiikliche Waffen verschrottet werden. Der Witz an diesem Vertrag sind nicht die abgeschafften Pershings und SS 20 - da kann man sich getrost darauf verlassen, daß die beiden Weltmächte schon nichts wegschmeißen, was sie für ihre anspruchsvollen Sicherheitsbedürfnisse für unentbehrlich halten. Zumal ja die NATO-Machthaber für nationalistische Zweifler gleich dazu gesagt haben, daß dafür "Ersatz" zu besorgen ist. Der Witz besteht vielmehr darin, wofür dieser Vertrag steht: daß sich die beiden Weltmächte - von sehr verschiedenen Ausgangspunkten aus - damit auf nichts anderes geeinigt haben als auf die Fortsetzung der Rüstungskonkurrenz und der sie begleitenden diplomatischen Prozeduren.

- Die SU hatte ja immerhin zuvor dem Westen klargemacht, daß sie bei Rüstungskontrollverhandlungen, die bloß immer das erreichte militärische Kräfteverhältnis kodifizieren, nicht länger mitmachen will, und statt dessen vorgeschlagen, das erreichte "Patt" endlich einmal zu akzeptieren und mittels Verhandlungen auf immer niedrigerer Ebene anzusiedeln. Ihre unüberhörbare Bedingung für solche "ernsthaften" Abrüstungsverhandlungen: Die Amis sollen auf SDI verzichten, also den Versuch unterlassen, mit diesem qualitativen Rüstungsfortschritt das erreichte "Gleichgewicht" auszuhebeln. Gorbatschows schlagkräftiges Argument für dieses Ultimatum, das er nicht extra betont, aber sehr wohl in Anschlag gebracht hat: die ansehnliche Abschreckungsmacht, die die Russen auf jeder Stufenleiter mitverbrochen haben, um sich der Feindschaft des Westens zu erwehren und mit diesem erfolgreich um weltpolitischen Einfluß konkurrieren zu können.

- Die Antwort der Amis darauf: ein Verzicht auf SDI kommt nicht in die Tüte - aber jenseits von SDI kann man mit uns über alles reden. Sie haben also das klare Nein zu einem Ende ihrer Bemühungen um Überlegenheit mit dem interessanten Angebot verbunden, daß deshalb die Kunst der Rüstungsdiplomatie keinesfalls abgebrochen werden muß.

- Also standen die Russen vor der Frage, ob sie die von ihnen eröffnete Alternative - entweder eine wirkliche Abrüstung, natürlich ohne SDI, oder Abbruch des Verhandlungstheaters - selber wahrmachen wollten. Sie haben sich dafür entschieden, bei ihrem Versuch, die Amis mit einem Abrüstungsangebot von SDI abzubringen, vorerst Abstriche zu machen - zugunsten einer leidlichen Fortführung der Diplomatie mit "konkreten Teilerfolgen".

- Diese "konkreten Teilerfolge" bestehen darin, daß beide Seiten ihre diplomatische Einigkeit auf ein Feld verlagert haben, von dem beide Seiten wissen, daß diese Waffen keine Entscheidung im Streben nach Überlegenheit gebracht haben: "Null-Lösung" bei den Mittelstreckenraketen. So sind diese wirklichen Waffen zu einer Verhandlungsposition geworden: Die USA setzen mehr denn je auf die Rüstungsbemühungen, auf die es ankommt, und wollen dabei auf den diplomatischen "Flankenschutz", der im nicht abreißenden Gespräch mit dem Feind steckt, nicht verzichten. Die Russen ihrerseits haben sich - jenseits aller Rhetorik vom "historischen Durchbruch" - auf dieses Ergebnis der doppelten Null längst eingestellt und erkunden nach Kräften ihre militärischen Optionen im erdnahen Raum.

Es ist also ein bodenloser Irrtum, ausgerechnet in dieser Abmachung ein Einschwenken der Weltmächte auf jene friedenspolitische Vernunft zu erblicken, welche die Bewegung den Veranstaltern des "Wettrüstens" stets hat nahebringen wollen. Und sie gar noch zu ermutigen, diesem "ersten Schritt" weitere folgen zu lassen - als ob die "Null-Lösung" der Auftakt zur allmählichen, allseitigen Räumung der Waffenarsenale gewesen wäre. Diese Verwechslung von einer Kalkulation mit verschiedenen Optionen auf dem Feld der Waffen mit Frieden und Abrüstung lassen sich die demokratischen Herren über Krieg und Frieden allemal gefallen - und machen glatt weiter so: Sie posaunen Tag für Tag in die Welt hinaus, daß das eigentliche "Problem" gar nicht in den Waffen, sondern in der "unnatürlichen Teilung des europäischen Kontinents" liegt, die der Feind zu verantworten hat; daß die Sowjetunion auch mit Glasnost immer noch ein einziger Verstoß ist - gegen Freiheit und Menschenrechte, die Prinzipien westlicher Weltherrschaft; daß deshalb die Waffen der Russen stören, so daß die NATO ihre eigenen Rüstungsanstrengungen zu verstärken hat, um diese "Herausforderung für unsere Sicherheit" aus der Welt zu schaffen, weil sich die Russen am Verhandlungstisch einfach nicht entwaffnen lassen; in der Zwischenzeit schließen sie vielleicht ein paar Abkommen - an lauter Nebenfronten, damit die Hauptsache diplomatisch kontrolliert vorangetrieben werden kann. Und: All das trägt seit der "Null-Lösung" bei den Pershings und SS 20 den verlogenen Ehrentitel "weltweite Abrüstung"! Das und sonst nichts ist der "Erfolg", der die Welt seit dem letzten Dezember aufatmen läßt.

Die "Krise" bundesdeutscher Sicherheitspolitik nach der doppelten Null und ihre produktive "Lösung": Von deutschem Boden aus die "Invasionsfähigkeit" des Warschauer Pakts abbauen

Seit der Abschaffung der Mittelstreckenraketen gibt es in der Tat auch eine Debatte in der NATO über die "Strategie", die das Bündnis jetzt einzuschlagen hätte. Aber auch die gibt in keinem Punkt zu der Hoffnung Anlaß, hier werde angesichts der militärischen Lage in Europa über eine Strategie für Frieden und Abrüstung nachgedacht. Man braucht sich nur die Schlagworte anzusehen, unter denen allen voran die bundesdeutschen Friedenspolitiker ihr Problem mit den abgeräumten Pershings diskutieren.

- Da erklingt zuallererst die Warnung vor einer "Denuklearisierung Europas". Diese "Gefahr" ist zwar so absurd wie nur was, weil niemand im Bündnis an so etwas auch nur denkt. Aber immerhin teilen die deutschen Träger aller Friedenshoffnungen damit unverblümt mit, daß sie von weiteren "Null-Lösungen", wie sie der Chef im Kreml vorschlägt, überhaupt nichts halten. Ohne einen weiteren Ausbau ihrer konventionellen und atomaren Fähigkeiten zur Eskalation - mit den entsprechenden "Optionen in die Tiefe des Warschauer Pakts hinein unter Einschluß der Gebiete der SU" (Wörner) - kommen sie sich schutzlos vor. Auch wenn die Russen ca. 1800 Raketen kürzerer Reichweite gegen die wenigen, die der Westen in solche Verhandlungen einbringt, abzuräumen bereit sind. Eine eindeutige Klarstellung, daß bundesdeutsche Sicherheitspolitik sich gar nicht an den Raketen bemißt, die der Feind hat - sonst wären 1800 gegen 100 doch ein gutes "Geschäft" -, sondern einen ganz und gar eigenständigen Bedarf anmeldet.

- Dem scheint zunächst einmal zu widersprechen, daß sich Kohl und Co gegen eine "Modernisierung" der Kurzstreckenraketen gewendet haben, wie sie von den NATO-Partnern geplant ist. Bloß sollte man genau zuhören, warum. Sie haben dabei ein "Gesamtkonzept" für die NATO-Strategie in Europa vermißt, für die "Abrüstung" versteht sich, und wieder einmal das Märchen von einer drohenden "Singularisierung" Deutschlands aufgewärmt, das die Risiken in einem Atomkrieg in Europa allein zu tragen hätte, wenn bloß eine Renovierung der Kurzen vorgenommen würde. Im Klartext: Das wäre den deutschen Frontstaatstrategen entschieden zu wenig und würde ihnen gar keine entscheidende Rolle in einem atomaren europäischen Kriegszenario verschaffen. Um diesen Anspruch zu unterstreichen, stellt man sich von Dregger bis Bahr die BRD mal eben völlig abgekoppelt von der NATO vor (also getrennt von dem amerikanischen, britischen, französischen Raketenarsenal) - und siehe da, die BRD steht ziemlich hilflos da: so allein gegen die Russen! Womit dann allerdings sehr eindeutig der Maßstab bekannt gegeben ist, an dem sich der "Nach"rüstungsbedarf dieser armen, kleinen Nation zu bemessen hat!

- Schließlich wird dann auf die "konventionelle Überlegenheit" der Russen gedeutet und eine angebliche "Invasionsfähigkeit" des östlichen Bündnisses entdeckt. Getrennt von jeder Reflexion auf das Kriegszeug, das hierzulande steht und zielstrebig ausgebaut wird, getrennt überhaupt von einer Reflexion auf die ausgebaute und einsatzbereite militärische Schlagkraft des gesamten NATO-Bündnisses wird an die absurde Vorstellung appelliert, vom Warschauer Pakt drohe allzeit eine Invasion vom Schlage des US-Überfalls auf Grenada. Und man soll gar nichts dabei finden, daß unter diesen Parolen der angeblich so machtlose Zwergstaat BRD gegenüber der Weltmacht Nr. 2 mit der unverschämten Forderung auftritt, sie habe sich gefälligst zu entwaffnen und aus Europa zurückzuziehen! Das ist nun wirklich nicht mehr zu verwechseln mit einem Waffennachzählen und dem Ausrechnen eines wie ungerecht auch immer ausfallenden militärischen Kräfteverhältnisses. Daß Gorbatschow übrigens selber zugestanden hat, daß es bei den Panzern und Panzerabwehrwaffen "asymmetrische Strukturen" zugunsten seines Vereins gibt und daß man darüber verhandeln könne, hat im Westen keine Beifallsstürme ausgelöst: Ein Gleichgewicht auf niedrigerem Niveau - das ist es gerade nicht, was die westlichen Kriegsherrn anstreben, weil dann die Russen immer noch zuviel hätten!

Es ist - aus deutschem Munde - die "Rückkehr" zum politischen Ausgangspunkt der ganzen Rüstungskonkurrenz: dem Osten wird seine Fähigkeit zur Selbstbehauptung einfach nicht zugestanden. Die Deutung der "Präsenz der SU in Osteuropa" - immerhin ein Ergebnis von Weltkrieg Nr. 2 - als "sowjetisches Hegemoniestreben" ist nichts anderes als die neuerliche Betonung des nie aufgegebenen Anspruchs des Westens auf Korrektur des letzten Kriegsresultats. Auch das läßt sich natürlich weiterhin rüstungsdiplomatisch produktiv machen: als einseitiges Abrüstungsangebot an die Adresse der Sowjetunion, gemäß der berühmten Doppelbeschluß-Vorrüstungslogik, wonach die Sowjetunion einiges abzubauen und der Westen einiges aufzuholen hat, damit er die Russen wieder an den Verhandlungstisch "zwingen" kann...

Und Friedensbewegung und Grüne können darauf dann wieder hereinfallen, selber Abrüstungskonzepte für "strukturelle Nichtangriffsfähigkeiten" vorschlagen, die NATO-Querelen um das größte nationale Gewicht beim Fertigmachen der Russen interessiert beobachten und womöglich sich sogar mit Wörner und Bahr zusammen Gedanken machen, welche "Reichweiten" und Waffen nötig sind, um die "Wirkung" im Ernstfall so wenig "deutsch" wie nur möglich ausfallen zu lassen!

Kleiner Nachtrag, die Konjunktur der Friedensbewegung betreffend

Der ungemütliche Zustand namens Weltfrieden hat sich also nicht geändert. Geändert hat sich die Bewegung - genauer: ihre Stimmungslage. Diese hat sich geändert bzw. ändern lassen. Von der Politik, die überhaupt nichts wegen der Bewegung gemacht und sie dennoch erfolgreich abbestellt hat. Das liegt an der Optik, mit der die Friedensbewegung die Weltlage von Anfang an betrachtet hat.

- Bestellt war die Bewegung nicht, ein Anhängsel schon immer. Wodurch haben sie sich denn warnen lassen? Von Reagans Manier, den NATO-Willen zur Beseitigung des Hindernisses SU auszudrücken und die endgültige Erledigung des "Reichs des Bösen" zu dem Ziel zu erklären, dem alle Anstrengungen der Weltmacht Nr. 1 zu gelten hätten. Diese Selbstdarstellung, die den imperialistischen Hauptund Oberzweck als Tagesordnung der 80er Jahre ausrief, hat Friedensbewegten aber kein Aha-Erlebnis verschafft bezüglich des Imperialismus, sondern ein gläubiges "Das darf doch nicht wahr sein" entlockt. Die eigene Illusion in die Güte freiheitlich-demokratischer Politik wurde gepflegt, indem man den bemerkten Kriegswillen auf eine anonyme Kriegsgefahr herunterbrachte und die Veranstalter von Krieg und Frieden zu welchen ernannte, die dieser Gefahr eigentlich Herr werden sollten. Hinsichtlich zuviel und an verkehrter Stelle aufgestellten Waffen mochte man Bonn und Washington manchen Vorwurf nicht ersparen, und wegen Zahl und Ort regte sich sogar mal der Verdacht, es gebe auch kriegerische Absichten - nicht in den weltpolitischen Anliegen, denen sich die Nationen verschrieben haben, sondern in einigen Herren, die durchgedreht hätten. Da ist die Entwaffnung der Bewegung durch Verschrottung einiger strategisch für nicht ausschlaggebend erachteter Waffen nur folgerichtig. Wenn nicht bloß hingestellt, sondern auch was weggetan wird, ist der Verdacht zerstreut, die Vernunft bewiesen, und Leute, die einen Kriegswillen der NATO nie ernsthaft erwägen wollten, entdecken angesichts des nach kurzer "Eiszeit" wie deraufgenommenen diplomatischen Sich-Dreinredens in das jeweils andere Waffenarsenal einen "Abrüstungswillen", den man verstärken möchte. Und im Nachhinein erscheint es manchem ziemlich übertrieben, das Vertrauen in die Politik jemals in Frage gestellt zu haben.

- Mit Katastrophengemälden bis hin zu einem "nuklearen Winter" hat man die politischen Subjekte der Kriegsvorbereitung an ihre Verantwortung für Menschheit, Leben künftiger Generationen und andere hohe gemeinsame Werte erinnert und sie angebettelt, von gewissen Rüstungsvorhaben abzulassen. Jetzt kann man das Wegnehmen der "Nachrüstungs"-Kaliber hoffnungsvoll zur Kenntnis nehmen und sodann die Durchführung alternativer Rüstungsvorhaben beobachten, und die erscheint im Vergleich zur angeblichen Katastrophe logischerweise als harmlos. Und weil die Durchführung technisch erst realisiert sein will, also ein paar Jahre dauert, und die feindlichen "Supermächte" sie rüstungsdiplomatisch "absichern", hält man die Vorhaben für nicht so ernst gemeint oder gar für faktisch schon ziemlich gestorben. So taugen die Katastrophengemälde von gestern noch heute, und zwar dazu, die Entwarnung von oben durch eine von unten zu ergänzen.

- Alles läuft darauf hinaus, daß ausgerechnet die Realisierung der einst mißtrauisch registrierten Programme jedes Mißtrauen ausräumt und die entsprechende Rüstungsdiplomatie als Indiz firmiert, daß die Politiker die gute Meinung der Bewegung über die eigentlichen Zwecke der Politik als Notwendigkeit anerkennen: Krieg soll ausgeschlossen sein - der große wohlgemerkt: an etliche kleinere Scharmützel hat man sich ja gewöhnt, an die Opfer, die durch die ökonomische Weltmacht des freien Westens geschaffen werden, sowieso; und wenn die "Regionalkonflikte" und die sog. ungerechten "Auswüchse" der Weltwirtschaftsordnung von der Friedensbewegung zur Sprache gebracht werden, wird ausgerechnet an die Verantwortung der Maßgeblichen für "Frieden" und"Gerechtigkeit" in der Welt appelliert. Vor ein paar Jahren waren Hunderttausende auf der Straße, um der Politik zu demonstrieren, daß sie einiges unterlassen muß, um sich das Vertrauen besorgter Bürger wieder zu verdienen. Der Einwand hieß: 'Unsere Obrigkeit verstößt gegen den Frieden', womit schon die Zustimmung zu allem, was im Frieden läuft, ausgedrückt war. Jetzt läuft eine neue Runde Rüstungswettlauf, und der Kinderwagen bleibt in der Garage oder wird in bester Stimmung - Optimismus ist angesagt wie alle Jahre wieder zu Ostern spazierengefahren. Das ist auch eine Demo: Aufgeweckte Demokraten sind unmöglich von der Politik zu enttäuschen - sie kann machen, was sie will.

War das der Sinn der Friedensbewegung? Hatte sie keine andere Absicht, als staatsfromme Zweifel zerstreut zu kriegen?