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Dieser Artikel ist in der MSZ 4-1988 erschienen.


DER ANSCHLUSS ÖSTERREICHS - IDEOLOGIE UND WIRKLICHKEIT

Daß die größten Siege eines Österreichers in diesem Jahrhundert in ausländischen Diensten stattgefunden haben und die 7-jährige Auslöschung der alten Heimat miteinschlossen, können Österreichs Politiker und Intellektuelle Hitler nicht verzeihen. Ebensowenig den Führern der ersten Republik, daß sie die Heimat vergeigt haben; und auch die Väter- und Großvätergeneration steht gar nicht gut da, weil sie ihr Bestes, die staatsbürgerliche Pflichterfüllung, für etliche Jahre an die falschen Herren vermietet hat. Das würde natürlich alles genau andersrum gesehen, wenn Hitlers Weltherrschaftsanspruch nicht in einer endgültigen Niederlage geendet hätte. So aber wittern österreichische Vergangenheitsbewältiger bei den damaligen Politikern Vaterlandsverrat. Und bei der Staatsbürgermasse hochgradige Bestechlichkeit, weil sie sich zu Hitler genauso verhielten, wie sie es als brave Untertanen in der 1. Republik gelernt hatten und in der 2. munter beibehalten: den Staat als Lebensmittel zu betrachten, sich seiner Erfolge zu erfreuen und zünftig an dem teilzuhaben, was dabei für sie abfällt.

I.

Die politischen Parteien der 1. Republik sollen das Vaterland verraten haben, weil sie den Anschluß an das Deutsche Reich wollten. Der Austrofaschist Schuschnigg hätte sich unverzeihlicher Führungsschwäche schuldig gemacht, weil er am Tag der Hitlerschen Usurpation zwar "rot-weiß-rot bis in den Tod" bleiben, andererseits aber "kein deutsches Blut" für Österreichs Unabhängigkeit vergießen wollte.

Der Anschlußwille einer Nation an einen größeren Staat(enverband) ist kein Verrat am Nationalismus, sondern dessen Fortsetzung. Auf Anschluß verfallen Politiker, weil sie in ihrer staatlichen Verfügung über Personen und Reichtum das entscheidende Mittel zur Durchsetzung gegen staatliche Konkurrenten vermissen. Als nationalistischer Widerspruch wird solche Politik empfunden, wenn der Anschluß nicht klappt und man sich daher in seinem Traditionsbewußtsein auf die Heimat vor dem Anschluß positiv bezieht.

1918 hat sich "L'Autriche, c'est le reste" (Clemenceau) als Deutschösterreich ausgerufen und mit seiner Anschlußwilligkeit den Anspruch auf Revision der Kriegsniederlage angemeldet. Das "Friedensdiktat" von Saint-Germain, die Zurückweisung des österreichischen Gebietsanspruchs auf Südtirol und der geforderten Grenzkorrekturen gegenüber Jugoslawien, der Tschechoslowakei und Ungarn hat bei den österreichischen Politikern die "Lehre" reifen lassen, für die eigenen politischen Ambitionen zu schwach zu sein. Abstand nehmen wollte deswegen weder der sozialistische Bundeskanzler Renner noch sein christlich-sozialer Widerpart und Nachfolger Seipel. Im Unterschied zu WK II, wo das eindeutige Kriegsresultat den Verlierernationen Wiederaufbau und Wiederaufstieg nur als souveräne Vasallen des 'amerikanischen Friedens' realistisch erscheinen ließ, wollten nach dem 1. Weltkrieg weder Deutschland noch Restösterreich schamhaft die Vergangenheit 'bewältigen', sondern die unbefriedigende Gegenwart umgestalten.

Unter den konkurrierenden Bündniskonzepten: Donaukonföderation, Zollunion Österreich-Tschechei, Zollunion mit Deutschland, Schutzbündnis mit Mussolinis Italien, erwies sich der Anschuß an Deutschland sehr rasch als die zukunftsweisende Option. Schließlich war die Weimarer Republik schon vor Hitler in ihrem Bestreben, die Mittel zur Revision des Versailler "Schandfriedens" anzuschaffen, der interessanteste Anschlußpartner, um die Karten zur Aufteilung Europas neu zu mischen.

Daß sich die sozialistische Führung, mit Ausnahme Renners, durch die Hitlersche Machtergreifung in ihrem Anschlußwillen gestört sah, liegt nicht an etwaigen Zweifeln bezüglich ihrer Großmachtbestrebungen, sondern ausschließlich an dem Umstand, daß Hitler im Umgang mit der deutschen Schwesterpartei jede Hoffnung auf Parteienpluralismus, Anerkennung und Mitregentschaft erstickt hatte. Hitlers Idee, daß sich die Volksgemeinschaft in einer Einheitspartei vergegenständlichen soll, schloß konkurrierende Staatsparteien radikal aus.

Der Austrofaschist Schuschnigg hatte gegenüber einem Anschluß an Deutschland wesentlich größere Vorbehalte. Er huldigte gemäß seiner Weltanschauung, wonach die "Österreicher die besseren Deutschen" seien, dem imperialistischen Idealismus, die politische Vereinigung mit der deutschen Nation für die Aufwertung Österreichs "im Konzert der deutschen Völker" benutzen zu können. In seiner Regierungszeit brachte ihm Hitler die politische Wahrheit mit unzähligen Ultimaten bei, daß Anschluß an eine stärkere politische Gewalt bedingungslose Liquidierung der schwächeren Nation und nicht Aufwertung bedeutet. Schuschnigg hat, entgegen heutigen Vorwürfen, bis zum Schluß für sein blödes Ideal eines "gefestigten", "starken", von allen "Fremdeinflüssen befreiten Deutschösterreich im deutschen Staatenverband" gekämpft. Als Hitler endgültig die Gewaltfrage stellte, entschied sich der letzte österreichische Bundeskanzler sehr konsequent dafür, seinem Volk eine schmachvolle Heimat ohne österreichische Besonderheiten zu ersparen.

II.

Die Parteien der 1. Republik sollen ihre Parteiinteressen vor die Staatsverantwortung gestellt haben. Als Standesparteien hätten sie sich von den jeweiligen Partialinteressen ihrer Wähler zu abhängig gemacht. Der darüber initiierte Parteienstreit hätte die Einheit der Nation in Frage gestellt und Hitler ein krisengeschütteltes, tief gespaltenes Österreich in die Hände gespielt.

Die offizielle Verurteilung der damaligen Parteienlandschaft konstatiert einen Streit, ohne auch nur im geringsten wissen zu wollen, warum und worüber die Parteien miteinander ins Gericht gegangen sind. Alles, was an "historischen Fakten" in die Diskussion eingebracht wird, dient nur als Beleg dafür, daß gestritten wurde. Weil die Stärke und Konsolidiertheit der Nation das einzige Qualitätskriterium ist, wird ein Plädoyer für einen Einheitspatriotismus losgelassen. Die damalige Demokratie beziehungsweise ihre austrofaschistische Weiterentwicklung wird vom Standpunkt der faschistischen Ansprüche an eine starke Herrschaft gemessen und für zu leicht befunden. Diese 'Lehre' wird heute nicht von Faschisten gezogen, sondern von demokratischen Vergangenheitsbewältigern, die offensichtlich an ihrem Dreiparteiensystem mit grüner Fußnote das demokratische Ideal eines gefestigten, gleichgeschalteten Nationalismus schätzen, der einem Hitler von vornherein keine Chance ließe. Dabei scheint es niemand zu stören, daß diese Betrachtungsweise den Erfolg Hitlers aus einem Einheitsidealismus erklärt, den gut funktionierende Demokraten heute für bestens bedient halten - mit Recht: Im einigen Österreich von heute findet kein Hitler-Enkel einen Ansatzpunkt.

Daß die 1. Republik an ihrer "Uneinigkeit" zugrundegegangen ist, ist ein Unsinn, der nur jemand einleuchtet, der noch bei jedem Streit sein Ideal eines Einheitspatriotismus hochhält. Der Streit zwischen den Sozialisten und den Christlichsozialen der 1. Republik war weder Ausdruck ihrer "Abhängigkeit vom Wähler" auch das ein bezeichnender Vorwurf für Parteigänger der Volksherrschaft! -, noch handelte es sich um Klassenkampf. Es war ein Streit unter Staatsmännern darum, was alles zu einer ordentlichen, funktionsfähigen Demokratie gehört.

Die Sozialisten vertraten den Standpunkt, daß Arbeiterinteressen und Staatsinteresse miteinander vereinbar seien. Mehr noch: Als Fanatiker der Arbeit leiteten sie nicht nur ein Recht des produktivsten Teils des Volksganzen auf politische Anerkennung und Verantwortung im Staate ab. An der Tatsache, daß die politische Macht unter den bürgerlichen Parteien aufgeteilt wurde, sowie aus dem Umstand, daß sich wenige "erfolgreiche Kapitalisten" ("Großkapitalisten", "ausländisches Geldkapital") das Privateigentum an den Produktionsmitteln aufteilten, entdeckten sie eine schädliche Abhängigkeit der Nation und ihrer fleißigen Hände von Privatinteressen. Ihr Anspruch auf politische Mitverantwortung und ihre wirtschaftspolitischen Vorschläge zur Verstaatlichung und Einführung des Genossenschaftswesens dienten der "1918 begonnenen nationalen Revolution". Soll heißen: dem Ideal, daß sich Österreich endlich aus dem Würgegriff privater Geschäftemacher befreien, zu seiner wahren Größe gesunden und als eine wirklich ganz souveräne Staatsgewalt den Bürgern Rechte und Pflichten gemäß ihrem Beitrag zum Staatsganzen zukommen lassen sollte. Mit einem Programm zur Abschaffung des Kapitalismus ist das nicht zu verwechseln. Das bewiesen sie mit ihren sozialstaatlichen Ambitionen, die erklärtermaßen die Befriedung der Arbeiter zum Zweck hatten und ihre staatliche Betreuung als nützliche Klasse festschreiben wollten.

Die Sozialisten wollten mit der Eingliederung der Arbeiterklasse in den Staat die Nation groß machen, mit der sie außenpolitisch einiges vorhatten. Deswegen mutete Otto Bauer den von ihm zu Befreienden ohne weiteres zu, sich zur Herstellung eines "revolutionären Großdeutschlands" in die sozialistische Pflicht nehmen zu lassen. Die Probe aufs Exempel, ob er außer Großdeutschland und Schulspeisung noch etwas anderes Revolutionäres gemeint hat, ist ihm erspart geblieben.

Die Christlich - Sozialen und späteren Austrofaschisten haben gegen die sozialistische Konkurrenz daran festgehalten, daß Arbeiterinteressen einen Gegensatz zu Staats- und Wirtschaftswohl bilden. Weil sie auch eingesehen haben, daß ein benutzbarer Prolet ein Dach über den Kopf haben muß, haben sie den Austromarxisten in ihren Sozialstaatsambitionen prinzipiell recht gegeben; beim Streit um die Kosten waren sie freilich schon viel weniger großzügig.

Für eine endgültige politische Gleichstellung und Machtaufteilung gemäß den Spielregeln demokratischer Parteienkonkurrenz sahen sie bei all diesen nützlichen Dienstleistungen keinen Grund. Daß das kapitalistische Privateigentum durch die Ausschaltung der Privateigentümer und die Verstaatlichung wichtiger Geschäftszweige erst seine segensreiche Wirkung für den Reichtum der Nation entfalten sollte, leuchtete ihnen ebensowenig ein.

Während ihre sozialistischen Gegner vor allem in der Raffgier des Großkapitals die Gefährdung der Nation sahen, hielten die Austrofaschisten vor allem die politische Opposition durch die Arbeiterpartei und deren agitatorische Benutzung der "sozialen Frage" für die wesentliche Störung der Einheit der Nation. Daher verboten sie diese Sorte Opposition, ließen auf Arbeiter schießen und kriminalisierten ihre Führer. Letztere wollten durch betontes Stillhalten den politischen Beweis antreten, daß bei ihnen jedenfalls nicht die Schuld zu suchen ist, wenn "die Demokratie zu Grabe getragen" wird (Renner). Dafür nahmen sie auch in Kauf, daß sich ihre Parteigänger großteils unbewaffnet der austrofaschistischen Militanz ausgeliefert sahen.

Diesen Vereinen 50 Jahre danach vorzuwerfen, sie hätten damals nicht genug patriotische Einheit bewiesen, ist nicht aus der 'leidvollen Erfahrung des Faschismus' geboren. Sondern aus der haltlosen Begeisterung für gefestigte demokratische Herrschaftsverhältnisse, wo jede politische Leistung nur mehr daraufhin begutachtet wird, wie sehr sie die Einheit der Regenten beim Umgang mit den jeweiligen wirtschaftlichen und politischen "Sachzwängen" widerspiegelt. Und wo 200.000 Arbeitslose zur koketten Sorge anregen, ob sie über ihrem materiellen Schaden nicht ihren "Lebenssinn", vor allem aber den "Glauben" an die Demokratie verlieren könnten. Den Beweis ihrer "Kooperationsfähigkeit" haben Sozialisten und Christen 10 Jahre später angetreten, indem sie gemeinsam "die Verstaatlichte" zur Grundlage des österreichischen Kapitalismus gemacht haben; und am Faschismus, aber auch ohne ihn, "gelernt" haben, daß alles Denken und Tun sein Recht daraus bezieht, inwiefern es Österreich befördert und ehrt.

Klar, daß in solcher geistigen Atmosphäre die wirklichen Leistungen der beiden Parteien völlig untergehen, mit denen sie sich ungewollt zu "Steigbügelhaltern" Hitlers gemacht haben.

Schließlich waren es Renner, Dollfuß und Schuschnigg, die den patriotischen Grundkonsens durchgesetzt haben, daß Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und Armut eine Stärkung der Nation verlangen, die Bekämpfung in- und ausländischer Parasiten notwendig machen und jede oppositionelle Regung zum Vaterlandsverrat stempeln, sofern sie nicht zur Stärkung der Nation antritt.

Die Sozialisten können sich das Verdienst auf ihre Fahnen schreiben, die Politisierung der Arbeiter in der Hauptsache vorangetrieben zu haben, ohne die das Hitlersche Staatsprogramm auf ziemliches Unverständnis gestoßen wäre. Man muß als ausgebeutete Klasse den Staat schon sehr gründlich mit einer Instanz verwechseln, die für das Recht auf Arbeit und Auskommen sorgt, um in der Schwäche der Nation den Grund des eigenen Schadens zu entdecken. Dann allerdings hat man ein offenes Ohr für das Programm, daß diesem Staat auch jedes Recht und jeder Erfolg zusteht und jedes Opfer dafür ein Ehrendienst ist.

III.

1938 sollen österreichische Staatsbürger einen unverzeihlichen, wenn auch verständlichen Fehler begangen haben. Sie sollen sich durch Hitlers materielle Bestechung mit Arbeit, Brot und Autobahnen von ihrer Heimat Österreich haben abwerben lassen.

Damit wird Hitler ein ebenso falsches wie dickes Kompliment ausgesprochen. Dem Führer wird eine Beförderung des Materialismus der Untertanen zugesprochen und ihm damit 1988 noch nachträglich bestätigt, daß er mit seinem nationalen Schulterschluß, die Nation durch Arbeitsprogramme zu stärken und den Millionen Arbeitslosen durch staatlich angekurbelte Produktion wieder Arbeit und Brot zu geben, irgendwie richtig gelegen ist. Das Kompliment geht inzwischen so weit, daß den Schuschniggs vorgeworfen wird, sie hätten Staatskredit und Wirtschaftshoheit im Vergleich zu Hitlers Großtaten zuwenig effektiv zur Stärkung der Nation benutzt. Falsch ist daran, daß Hitler überhaupt nie den Materialismus der Leute angesprochen hat, sondern ausschließlich ihren Staatsidealismus. Als Fanatiker der Arbeit als Reichtumsquelle der Nation hat er in kürzester Zeit die Arbeitslosen, die die freie Marktwirtschaft unter demokratischer Regie angeschafft hatte, von der Straße geholt. Gegen den Kapitalismus als Geschäftsgrundlage der Nation hat er natürlich nichts gehabt. Aber dagegen, daß für die Profitkalkulation "Millionen deutsche Arbeitsstunden" brachgelegt wurden. Insofern hat er die Gleichung Arbeit = Dienst an der Nation dahingehend ernst genommen, daß er die vom Geschäft Aussortierten in den "Arbeitsdienst" für die Nation nahm. Demokratische Vergangenheitsbewältiger können diese Leistungen Hitlers nicht kritisieren. Im Gegenteil: Wo Hitler die Forderung "Arbeit und Brot!" in ihrer nacktesten antimaterialistischen Wahrheit eingelöst hat, ereilt ihn der Ruf eines großzügigen Arbeitsplatzspenders und Armutsbekämpfers. Wenn Demokraten die Parteigängerschaft mit Hitler als ein Hereinfallen auf materielle Verlockungen geißeln, dann buchstabieren sie Ausbeutung als Materialismus. Dieser Standpunkt ist in der österreichischen Marktwirtschaft 1988 offenbar noch so lebendig wie unter den Vätern und Großvätern, die vor 50 Jahren zu Parteigängern Hitlers wurden.

"Natürlich" ist der Übergang von der spürbaren Not des "Ausgesteuerten", ohne Geld leben zu müssen, zum untertänigen Dank für das Glück, überhaupt arbeiten zu dürfen, ganz und gar nicht. Und angesichts des kärglichen Lebensunterhalts durch die Hitlersche "Wohlfahrt" ist eine Verwechslung mit Materialismus auszuschließen. Daß sich Österreicher 1938 zum Mitmachen bei Hitler entschieden haben, das basiert auf demselben nationalistischen Fehlschluß, mit dem sie zuvor der ersten Republik als emsige Untertanen gedient hatten.

Patrioten erklären sich ihre nichtbenutzte Dienstbarkeit, wie auch alle anderen entdeckten Mängel in einer Nation, mit einer Schwäche ebendieser. Das hat bei der Mehrheit der Österreicher bis zum Anschluß den Wunsch nach einem starken österreichischen Staat keimen lassen. Als Hitler einmarschiert war und damit das Volk von seiner Pflicht gegenüber den alten Herren entbunden hatte - da hat den nunmehrigen Ostmärkern sehr rasch und ohne jegliche Umerziehung die machtvolle Ordnung der neuen Heimat imponiert.