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Dieser Artikel ist in der MSZ 2-1988 erschienen.

Systematik


DAS REVIER IN DER KRISE

Kapital...

Es heißt nach einem Fluß, steht auf steinkohlehaltigem Grund und ist von vorn bis hinten ein pures Geschöpf des Kapitals, das für seine Akkumulation dort einen Standortvorteil gefunden hat: Der Kohleabbau wurde zum Geschäft, weil zur günstigen Geschäftsbedingung für die kapitalistische Produktion erstens von, zweitens mit Stahl.

An Gebrauchsgütern aus Stahl hatte nicht bloß die Geschäftswelt, sondern vor allem das Militär einen uferlosen Bedarf. So sicherte die staatliche Kaufkraft dem Stahlgeschäft einen seiner Märkte und dem Kapital an der Ruhr vor den Weltkriegen seinen Aufschwung. Hinterher, nach der Niederlage, wollte das erste Mal die französische Republik sich die einschlägigen Produktionsmittel aneignen, beim zweiten Mal die britische Besatzungsmacht sie demontieren. Doch daraus wurde nichts. Das deutsche Nationalinteresse an einer eigenständigen Produktion der industriellen "Rohstoffe" Energie - aus heimischer Kohle - und Stahl bekam in beiden Fällen recht - von den Amerikanern.

Der Wille der westlichen Siegermächte des 2. Weltkriegs, die strategischen Schlüsselindustrien des zerschlagenen deutschen Reiches dauerhaft ihrer Kontrolle zu unterstellen, schuf Anfang der 50er Jahre eine supranationale Institution, die das politische Regime gleich über das gesamte Kohle- und Stahlgeschäft der beteiligten Nationen übernehmen sollte: die "Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl" (EGKS oder "Montanunion"). Eine Freihandelszone für diese beiden Artikel wurde geschaffen, in der das Geschäft, vor allem mit dem zunehmend gefragten Werkstoff Stahl, in ungeahntem Ausmaß expandierte (in den sechs Gründerstaaten von 42 Mio. Tonnen 1952 auf 133 Mio. Tonnen 1974).

Das Ruhrgebiet war immer - und ist bis heute - für ein rundes Drittel dieses Geschäfts gut. Seine Stahlunternehmen betrieben die härteste Rationalisierungspolitik und nötigten die großen Nachbarn, ihre nationale - teilweise verstaatlichte - Stahlproduktion mit milliardenschweren Zuschüssen vor dem Ruin zu retten: Dies die Wahrheit in dem von westdeutschen Großindustriellen in Umlauf gebrachten, heute gläubiger denn je von Gewerkschaftlern und Sozialdemokraten nachgebeteten Gerücht, die rheinisch-westfälischen Hüttenkonzerne hätten, ungerechterweise, gegen ganze Staatshaushalte statt bloß gegen fremde Kapitalisten zu konkurrieren.

...Lohnarbeiter...

Es ist der Standort einer Arbeiterschaft, die durch nichts als den Kräftebedarf des akkumulierenden Kapitals aus verschiedenen Ursprungsländem dort zusammengewürfelt worden und durch nichts als ihre Benützung überwiegend in großen, seit jeher gewerkschaftlich betreuten Betrieben erzogen worden ist. In kaum 100 Jahren hat diese Mannschaft es zu einer Tradition gebracht, die das Herz aller ehrlichen und berechnenden Arbeiterfreunde höher schlagen läßt.

Dem geschichtsbewußten Linken hat das Proletariat an der Ruhr immerhin einen erfolgreichen Generalstreik zu bieten: 1920 gegen die Freikorps des Putschisten Kapp. Schon das blutige Ende dieses ersten "Aufruhrs an der Ruhr" taugt allerdings nur für die Liebhaber heroischer Niederlagen (ebenso wie die kommunistischen Aktionen nach dem 2. Weltkrieg): Die (sozial)demokratischen Nutznießer der "Unruhen" machten ihnen gewaltsam ein Ende.

Sozial und patriotisch gesinnte Demokraten können daher schon mehr Freude an den sozialen Leistungen der Industriearbeiterschaft des Ruhrgebiets haben. Dem Widerstand gegen Kapp und dem "maßvollen" Ende folgte drei Jahre später der von oben angeordnete "Ruhrkampf", die Opposition gegen die französische Besetzung; das haben auch die Nazis den "Ruhrkumpels" hoch angerechnet. Nach dem verlorenen Krieg Nr. 2 haben die Arbeiter sich wieder gegen die Demontage der Industrieanlagen gewehrt; auf deren Enteignung haben sie nicht bestanden. Statt dessen ließen sie sich von ihren neuerstandenen Gewerkschaften für Mitbestimmungsmodelle einspannen. So haben sie das "Deutschland wieder aufgebaut", auf das die regierenden Demokraten so stolz, mit dem die Manager des Kapitals so zufrieden - und über dessen schäbigen "Dank" die Ruhrpöttler im nachhinein so enttäuscht sind.

...und der ganze Rest

Es ist eine "Welt für sich", die mit der blöden Überraschung des auswärtigen Besuchers darüber kokettiert, daß es da außer Betrieben und Arbeitersiedlungen durchaus auch Grünland, Kultur und einen "Mittelstand" gibt. Dabei macht das ganze Ensemble bloß anschaulich, was im Kapitalismus überhaupt gilt: Alles, was da sonst noch sein Geld verdient - neben dem Kapital, das akkumuliert, und den Lohnarbeitem, die dafür gebraucht werden -, leistet dafür seine funktionalen Dienste; selbst die Sphäre der Unterhaltung und Erbauung, dieses Refugium der Freiheit, hat ihren Bestand und ihr Existenzrecht einzig und allein als funktionale Fußnote zu Kapital und Arbeit.

Der namensgebende Fluß heißt wie eine Krankheit, der bekannteste Konzern auch, und sogar die Berge kommen aus dem Bergwerk. Das alles sind natürlich überhaupt keine Hindernisse für das idealisierende Bekenntnis zur Abhängigkeit, das "Heimatgefühl" heißt - genausowenig wie Meer oder Gebirge gute Gründe für diese Schicksalsideologie darstellen. Daß alles, sogar die Landschaft, von vergangener und gegenwärtiger kapitalistischer Nutzung, auch als "Infrastruktur" oder Dienstleistungs-Überbau, zeugt, scheint eher ein extra guter Nährboden für die Täuschung zu sein, der ortsansässige Menschenschlag hätte sich da sein Revier geschaffen. Das ideelle Eigentumsverhältnis zu allem, wovon man sich abhängig und bestimmt weiß, gewinnt offenbar bloß an Glaubwürdigkeit, wenn die reellen kapitalistischen Eigentumsverhältnisse den ganzen Rest als ihre abhängige Variable bestimmen: wenn Wohnungen, Einzelhandel, Krankenversorgung und Schulbildung aus den sozialpolitischen Zweckmäßigkeitserwägungen einiger großer Firmen hervorgegangen sind; wenn die Industrie- und Handelskammern gemeinsam mit den Gewerkschaften das Kulturleben der Region regeln und den Universitäten den letzten Schein von "Elfenbeinturm" nehmen; wenn sogar die Pfaffen mit ihren "Kolpingsfamilien" die Figur des Arbeitsmanns verhimmeln.

Daß man lebt, um zu arbeiten: Das ist der Stolz dieser Region; und zwar so ungeschminkt, daß sich niemand übermäßig gedrängt fühlt, diese kapitalistische Gleichung zu beschönigen. Schon gar nicht die Politiker. Denen gefällt diese Elementarform des proletarischen Nationalismus - als wäre der Dienst am Reichtum, von dem alles abhängt, ein moralischer Rechtstitel auf alles - so gut, daß sie ihn einfach als Kompliment ausdrücken: "Ein starkes Stück Deutschland!"