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Dieser Artikel ist in der MSZ 2-1988 erschienen.

BRD-Rüstungsdiplomatie mit brandneuer Leitlinie
DIE "INVASIONSFÄHIGKEIT" DES WARSCHAUER PAKTS ABBAUEN!

Der Mittelstreckenvertrag ist von der bundesdeutschen Wehrpolitik abgehakt als eine gelungene politische Erpressung, bei der nicht weiter zu verweilen ist. Die Sowjetunion kann nicht mit einer veränderten Einschätzung ihres militärischen Bedrohungspotentials rechnen, nur weil sie einen Abbau ihres reichlichen Raketenarsenals vornimmt, lautet die Auskunft.

"Solange die große Wende in der sowjetischen Außen- und Sicherheitspolitik nur in Worten besteht und in Abrüstungsvereinbarungen, die - wie die beiden Null-Lösungen - die Optionen der Sowjetunion uns gegenüber nicht vermindern, sondern eher verstärken, solange ist es unsere politische, militärische und moralische Pflicht, Vorsorge zu treffen." (Dregger in: Europäische Wehrkunde, 12/87)

Bei der Betrachtung des verbleibenden Bestandes an landgestützten russischen Mittelstreckenraketen darf aus der Sicht eines deutschen Kriegsstrategen keine Zufriedenheit aufkommen.

"Allein die nahezu 600 sowjetischen 'Scud'-Raketen, denen" (wieder einmal!) "auf westlicher Seite kein Gegengewicht gegenübersteht, reichen aus, den Wegfall der SS-20 auszugleichen." (ebd.)

In der Neubestimmung der sowjetischen Bedrohung dient der Hinweis auf die fortdauernde "atomare Bedrohung der Deutschen" (Dregger) als Zwischenargument für die Herausstellung des Inbegriffs russischer Vor- und Überrüstung, der nun, neu betont, als Herausforderung und Test für den Abrüstungswillen der anderen Seite präpariert gehört:

"Es kann nicht Sinn und Zweck westlicher Sicherheitspolitik sein, Europa von Kernwaffen aller Art und Reichweiten zu entblößen und so einen denuklearisierten Konfliktschauplatz zu schaffen, auf dem der an konventionellen Angriffskräften überlegene Warschauer Pakt dominierte." (Wörner, EW 3/87)

Der Bundeswehr- und NATO-Stratege spricht sich gegen ein Senken der "Atomschwelle" für die Rote Armee aus, nimmt also Partei für die Kontinuität einer soliden Kriegsplanung mit atomaren Kampfmitteln für die Bundeswehr und ihre verbündeten Kräfte.

"Solange die Sowjetunion uns an Panzerarmeen und chemischen Waffen haushoch überlegen ist, solange fordern wir für die atomaren Kurzstreckenraketen keine Null-Lösung." (Dregger, a.a.O.)

Angesichts der überraschend kämpferisch gewordenen Abrüstungstaktik der neuen Mannschaft im Kreml ist die "Rettung" der Atomkriegskalkulation der NATO das eine Anliegen prinzipienfester bundesdeutscher Militärmacht. Dies fällt auch nicht weiter schwer, sind doch fortgesetzte Verbesserung und Verstärkung konventioneller Waffen, die Modernisierung der Mittel des taktischen Atomkrieges einschließlich der "luft- und seegestützten Systeme", welche "Optionen in die Tiefe des Warschauer Pakts hinein unter Einschluß der Gebiete der Sowjetunion aufrechterhalten" (Wörner), die Garanten für sie.

Rüstungsdiplomatisch zeichnet sich die Fortetzung des Spiels ab, das sich "Die Sowjetunion auf dem Prüfstand der Verhandlungen" (Wörner) nennt. Für "neue Verhandlungen ber konventionelle Stabilität in Europa", womit die Abrüstungsoffensive des Kreml aufgefangen werden soll, hat die deutsche Rüstungsdiplomatie ihre Grundsatzposition bereits ausgearbeitet. In schöpferischer Weiterentwicklung der betagten SS-20 Vorrüstungslogik soll der Schwerpunkt nun darauf liegen, den Warschauer Pakt mit einer "konventionellen Vorrüstung" zu konfrontieren und von ihm nichts Geringeres als die Aufgabe seiner von der NATO "negativ bewerteten" "offensiven Kriegsdoktrin" zu verlangen. Diese diplomatische Kampfparole des theoretischen Waffenganges nennt sich "grundsätzliche Umgestaltung (!) der europäischen Sicherheitslandschaft in Richtung auf dauerhafte Stabilität" (Wörner).

Nun hat der Warschauer Pakt sein Interesse an einem weiteren abrüstungspolitischen Diskussionsforum, das sich mit "konventioneller Abrüstung vom Atlantik bis zum Ural" zu befassen habe, schon mitgeteilt. Vorliegen tut aus Moskau zudem die Bereitschaft, wie die NATO-Rüstungsdiplomaten von "asymmetrischen Strukturen" im west-östlichen Rüstungsaufgebot zu reden und "historisch" gewachsene Anomalien z.B. zwischen Panzern und Panzerabwehrwaffen in gesündere Proportionen zu überführen. Gerade bei solchen Gedankenspielereien sowjetischer Militärautoritäten fällt jedoch auf, daß sie noch keine adäquate Reaktion auf den zugespitzten Standpunkt der NATO darstellen, welche bei der Rede von der Beseitigung "konventioneller Ungleichgewichte" allein das östliche Potential im Auge hat. Mit der Anklage der "Invasionsfähigkeit des Warschauer Paktes", die im unvereinbaren Gegensatz zur "Verteidigungskonzeption der NATO" stehe, hofft der Westen gerade vom jahrzehntelangen Palaver der MBFR-Verhandlungsrunde wegzukommen. Er will nun Klartext reden und nichts mehr davon wissen, daß irgendetwas in seinem Kriegsarsenal zum Ausgleich für Zugeständnisse bei der anderen Seite zur Disposition stünde.

Das Prinzip der "Stabilität": Einseitige Abrüstung

Diese MBFR-Runde, befaßt mit der Idee "eines ausgewogenen wechselseitigen begrenzten Truppenabbaus in Mitteleuropa", schleppte sich schon immer mittels des unüberbrückbaren Gegensatzes dahin, daß die NATO sich zu möglichen Reduzierungen auf ihrer Seite nur unter der Bedingung bereitgefunden hatte, daß die Sowjetunion sich zu einem wesentlich bedeutsameren Teilrückzug hinter ihre eigentlichen Grenzen bereitgefunden hätte. Das Ganze war zu keiner Zeit mehr als ein Erkundungstermin am Rande des strategischen Großdialogs und stellt sich der Form nach bis heute dar als ein erkenntnistheoretischer Streit um gemeinsam anerkannte Kriterien fürs Zählen der Truppen und andere Parameter des Militärvergleichs, mit deren Hilfe hier der Kampf um Zugeständnisse geführt wird.

Die Verhärtung der westlichen Position auf dem Feld des konventionellen Kräftevergleichs kleidet sich in eine Kritik des Begriffes "Reduzierung", der durch die Angabe eines dahinterliegenden Zieles, durch die abstraktere Vorstellung von "Stabilität", ersetzt werden müsse:

"Die westliche Seite hat aus den MBFR-Verhandlungen gelernt, daß Reduzierungen für sich genommen nicht das Ziel der westlichen Politik sein sollten. Es geht letztlich um Stabilität..."

(Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.12.87)

Das sitzt. Mit dem Verlangen nach "Stabilität" läßt sich die gemeinte Forderung einseitiger Abrüstung formvollendet ausdrücken:

"Militärische Stabilität bedeutet insbesondere: Der Warschauer Pakt muß seine Invasionsfähigkeit abbauen, wir müssen unsere konventionelle Verteidigungsfähigkeit in einem angemessenen Umfang bewahren.," (Wörner, Handelsblatt, 21.7.87)

Eine Unverschämtheit ist das schon; ein Irrtum wäre allerdings die Annahme, sie entlarve sich von selbst und sei nicht hinreichend für einen ernsthaften "substantiellen" Gesprächsansatz für ein Ost-West-Forum. Ein sowjetischer Rüstungsdiplomat versteht natürlich das großzügige Angebot nicht zu schätzen, eine gerechte "Kräftebalance" in Europa wäre denkbar beim Willen der Sowjetunion, ihre Truppe "auf die Streitkräfteumfänge der NATO zu reduzieren" (Wörner), weil das Eingehen auf dieses Friedensangebot ja "nur" die endlich fällige Anerkennung der These von der "konventionellen Überlegenheit der Roten Armee" bedeuten würde. Diese gewollte Provokation wird er sicher zurückweisen, sie aber dennoch als freilich sehr einseitige Position in den Rahmen einer fortschrittlichen Diskussion über die Natur der gegenseitigen Militärdoktrinen einordnen. Denn diese Ebene ist der letzte Schrei in der Rüstungsdebatte zwischen West und Ost.

Die aktuelle Idee, sich über die gegenseitigen Strategien zu unterhalten, mit denen man gegeneinander den Krieg vorbereitet hat, wird mit der Täuschung begründet, diese Diskussion würde endlich das vorhandene Mißtrauen abbauen helfen. In Wirklichkeit ist diese Absurdität nur die letzte Mißgeburt des rüstungsdiplomatischen Wahns, Waffenkonkurrenz und Kriegsvorbereitung in Form des theoretischen Anspruchs auf Gleichheit der Waffen und auf die Identität der feindlichen Kriegskalkulationen durchzuführen. Auf diesem inzwischen als Selbstverständlichkeit genommenen Felde der West-Ost-Auseinandersetzung herrscht die Fiktion einer Gerechtigkeit des Waffenvergleiches, die im Krieg völlig wurscht und auch vorher schon reines Theater ist. Der diplomatische Streit geht inzwischen darüber, wie defensiv eigentlich die Rüstung des Ostens gemeint ist und wie offensiv die NATO mit ihren bescheidenen Mitteln überhaupt nur sein kann:

"Die NATO hat" (im totalen Gegensatz zu den Jungs von drüben, versteht sich) "zwar eine begrenzte taktische Fähigkeit, ihre Streitkräfte um einige Kilometer vorwärtszubewegen" (immerhin!)

"oder mit selektiven Aktionen tief in das Gebiet eines Angreifers vorzudringen" (na bitte, es geht doch, weiter so!), "aber... " (Rest ist klar.) (FAZ)

Von der einfachen Waffenzählerei, mit der alles angefangen hat, hat man sich in den rüstungsdiplomatischen Händeln also verabschiedet. Sogar Verteidigungsminister Wörner hat sich zu dem theoretischen Standpunkt vorgearbeitet, es nicht einfach bei Rechnungen 1:3 zugunsten des Warschauer Paktes bei Panzern, Flugzeugen und Artillerie zu belassen, sondern die Frage der "Veränderung" "der Natur dieser Rüstungskonkurrenz" aufzuwerfen. Die Debatte zwischen den Zuständigen hüben wie drüben ist eben an dem Punkt angelangt, an dem ein westlicher Rüstungsdiplomat die Freiheit gewonnen hat, in den Verhandlungsgesprächen über die notwendige Erbsenzählerei hinaus grundsätzlich weltanschaulich zu werden und in Form einer Kritik der "Grundlinien der sowjetischen Macht- und Militärpolitik" eine Diskussion über den fälligen Rückzug der Sowjetarmee aus dem "europäischen Territorium" zu führen und den Russen als Gesprächsstoff anzubieten.

Wenn die These von der "konventionellen Überlegenheit" des Ostens über die arme NATO heutzutage als "Invasionsfähigkeit des Warschauer Pakts" ausgemalt wird, dann ist das ein guter Beleg dafür, daß dieses Dogma mit einem Faktum noch nie etwas zu tun hatte. Getrennt von jeder Reflexion auf das Kriegszeug, was bei uns so gewachsen ist, herumsteht und zielstrebig ausgebaut wird, getrennt überhaupt von einer Reflexion auf die aufgebaute und einsatzbereite militärische Schlagkraft der kriegsbereiten NATO wird an die Vorstellung appelliert, vom Warschauer Pakt drohe allzeit eine Invasion vom Schlage des amerikanischen Überfalls auf Grenada. Diese Vorstellung ist partout nicht auf Glaubwürdigkeit berechnet, hat nichts mehr mit dem Ausrechnen eines wie ungerecht auch immer ausfallenden militärischen Kräfteverhältnisses zu tun. Sie zielt auf die Grundsatzfrage, wie man das Konstrukt "europäische Sicherheit" von den Belastungen des "sowjetischen Hegemoniestrebens" befreien könne. Insofern ist die These von der "Invasionsfähigkeit des Warschauer Paktes" ein Beitrag zur Kontinuität des West-Ost-Dialogs.