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Dieser Artikel ist in der MSZ 11-1988 erschienen.

Ärger im Bundestag:
EINE GROSSE STUNDE DER HEUCHELEI - VERPATZT!

Alle hatten sich so darauf gefreut. Bundestagsabgeordnete und Zahnärzte, Sozis und Grüne, Christen und Juden, Steuerzahler und Arbeitslose harrten der Gedenkstunde zum Jubiläum des Tages, für den dem Fernsehpublikum in einer kurzen, energischen Anstrengung aller Moderatoren das schwierige Wort "Pogrom " beigebracht worden ist. Es hätte so erbaulich werden können: ein bißchen Schauder vor "dem Unbegreiflichen"; ein bißchen Metaphysik der "unauslöschlichen Schuld"; ein fettes Selbstlob der neuen Republik dafür, daß sie keine Juden vergast; ein bißchen heuchlerisches Bedauern, daß sie keine mehr hat; ein paar Glückwünsche an Israel; ein paar Fingerzeige auf den "wahrhaft Schuldigen", "den Totalitarismus", den man noch heute kennt, im Osten nämlich; eine dezente Erinnerung an die eigentlichen Leidtragenden, nämlich die "deutsche Nation" in ihrer heutigen "unfertigen" Gestalt, das "deutsche Geschichtsbewußtsein" mit jenem Unaussprechlichen usw.; ein Rückblick im Zeichen der Lüge, Hitlers Volk hätte im wesentlichen aus verhinderten Widerständlern bestanden. Es hätte so nationalfeiertäglich werden können. Statt dessen das:

Der protokollarisch zweithöchste Mann der Republik, Kohl-Freund Jenninger, CDU, hat auf eigene Faust über die 12 Nazi-Jahre und die Folgen nachgedacht. Und weil er eine ehrliche, gut deutsch-katholische Haut ist, ist ihm unterm Nachdenken aufgefallen, wie leicht er sich in die Hitler-Begeisterung des '38er Jahrs und in den gedemütigten Nachkriegs-Nationalismus des Wirtschaftswundeirvolkes hineinversetzen konnte. Nichts war ihm fremd: nicht der nationale Ärger über Versailles - siehe heute "deutsche Teilung" -, nicht die Freude am starken Mann - siehe heute den Ruf nach "Führung" -, nicht der Fingerzeig auf Schmarotzer und Volksfeinde - siehe heute die Arbeitslosen - und Asylanten-Polemik. Und so weiter. Auf einmal hat er verstanden, wie blöd die Pseudofrage der "Vergangenheitsbewältigung" - "Wie konnte es nur dazu kommen?" im Grunde ist. Ihm ist aufgefallen, wie prächtig die Nazi-Propaganda ihm eingeleuchtet hätte, und daß ihm keine Widerlegung eingefallen wäre. Und genauso hat er geredet.

Damit war die Stimmung im Eimer. "Die Rede" - ein Skandal, ein Rücktrittsgrund. Denn ihr.hat, meinen die Parteien und eine aufgeregte Öffentlichkeit, das Entscheidende gefehlt: die Distanzierung.

Nun kan wirklich an einem kein Zweifel bestehen: Natürlich hat Jenninger gemeint, zwischen ihm als heutigem Oberdeutschen und den guten deutschen Gründen für Hitler damals läge ein Riesenabgrund, an den er gar nicht ausdrücklich zu erinnern bräuchte, und er hat es auch gesagt, bloß nicht in jedem Satz. Und man fragt sich angesichts der gekünstelten Empörung in Bonn, ob die abgeordneten Häupter der Nation selber zu doof waren, diese Distanzierung mitzuhören; oder ob sie ihr Wahlvolk für so beschränkt halten, daß ihm die fromme Absicht des Bundestagspräsidenten hätte entgehen können. Die Antwort ist aber auch wieder sehr einfach: beides! Wer heutzutage Abitur hat - oder auch nicht -, der will nicht unterscheiden zwischen Gründen und guten Gründen, zwischen Verständnis im theoretischen und Einverständnis im moralischen Sinn; und der kann das dann auch gar nicht mehr auseinanderhalten. Ein mündiger Bürger von heute findet irgendwie alles verständlich; und deswegen muß man ihm mit faustdicken Verurteilungen kommen, wenn er irgendetwas davon nicht billigen sollte.

Das hat Jenninger vergeigt. Er hatte die Sache einfach so auf den Punkt gebracht: Nichts von dem, was einst in deutschen Augen für Hitler sprach, ist heute außer Kurs gesetzt. Für gute Demokraten ist die ganze Hitlerei letztlich sehr, sehr verständlich; ohne moralische Menetekel fällt ihnen nichts dagegen ein. Jenninger hat auf den Punkt gebracht, daß Demokraten Faschisten gut verstehen, noch besser verurteilen, aber nicht kritisieren können - da müßten sie ja ihre eigenen heiligsten Kühe von nationaler Größe und Ehre, von politischer Führung, von sauberer Gerechtigkeit und einem fraglos einigen Volk antasten.

Der Riesenunterschied zwischen Faschisten und Demokraten ist eben eine Heuchelei. Diese Heuchelei hat Jenninger verpatzt. Deswegen muß er gehen.

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Sehr hübsch übrigens, was dem intellektuellen Ehrenmann der Republik, dem Rhetorik-Professor Walter Jens, im ZDF zu "Der Rede" eingefallen ist. Erstens: "mißglückte Rollenprosa" - Jenninger ab in den Rhetorik-Grundkurs. Zweitens: Der Verweis auf die starke Minderheit guter, nichtnazistischer Deutscher hätte gefehlt - dieses rückblickende Selbstlob hätte wirklich gerade noch gefehlt! Drittens: Die ganze Gegenüberstellung "Deutsche-Juden" sei falsch, weil die Juden geradezu die besten, begeistertsten Deutschen gewesen wären, "Leistungsträger" der Nation und keineswegs bloß eine "graue Masse von Dahingeschlachteten" - ein Hitler-Argument für die Hitler-Opfer, das sitzt!