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Dieser Artikel ist in der MSZ 10-1988 erschienen.

Systematik

Afghanistan
EIN HEILIGER KRIEG DES WESTENS

Diejenigen, die jahrelang 'Russen raus aus Afghanistan', oder auch bloß 'Afghanistan' getönt haben, sind keineswegs verstummt. Die Verwunderung, daß die Sowjetunion entgegen allen Verdächtigungen jetzt doch - und zwar trotz aller Beschwerden über die Umtriebe der Mudschahedin und die Machenschaften ihrer Förderer in Islamabad und Washington zügig und termingerecht - ihre Truppen abzieht, will nie zu einem Lob der Russen geraten, weil sie dem westlichen Ruf wider Erwarten Folge leisten. Eher schon hält man es mit der Wiederholung des außenpolitischen ersten Gebots der Reagan-Ära, daß hier - wie überall - allein Unnachgiebigkeit und Stärke östliche Zurückhaltung bewirkt haben. So wie ehemals 'Afghanistan' das Feindbild geradezu begrifflich bebildert hat - Russen unterdrücken ein freiheitsliebendes Volk und bedrohen die lebenswichtigen Interessen des Westens mit ihrer Aggression -, so hat jetzt die praktische Widerlegung den öffentlichen Konsens über den 'Sündenfall' der Sowjetunion auch nicht erledigt, sondern nur fortgeführt: Das Argument von der erzwungenen Vernunft kommt zu Ehren, die, weil nicht freiwillig, nie und nimmer eine sein kann. Statt die eigene Hetze von ehemals zu widerrufen, begutachtet man lieber mehr oder weniger schadenfroh die Schwierigkeiten, in die der Kreml sich bzw. das Regime in Kabul mit dem Rückzug bringt.

Auch das politische Märchen von den Freiheitskriegern, die, allein auf ihren Heldenmut gestützt, dem übermächtigen Reich des Bösen mutig Widerstand leisten, ist - obwohl durch die eigenen Berichte über Waffen und Waffengeber von Peschawar bis in die westlichen Metropolen ad absurdum geführt - nicht zurückgenommen, sondern durch Beschwerden ersetzt worden, wie wenig doch die diversen fundamentalistischen und traditionalistischen Fraktionen des 'Widerstands' mit ihren vielen internen Querelen und Konkurrenzstreitigkeiten für eine brauchbare Neuordnung Afghanistans und für solide westliche Einflußnahme taugen. Manche bedauern, daß sich die Russen nun so umstandslos aus der 'Verantwortung', d.h. aus der Schußlinie der Stinger-Raketen, Panzer-Granaten und Mörser schleichen. Andere spekulieren - mitten in ihren Berichten vom täglichen Terror mit westlichem Kriegsgerät - über eine mögliche neue und bessere Zukunft des Landes mit westlicher Wiederaufbauhilfe. Und alle wissen ganz genau, wer allein die Zerstörungen im Land und alle künftigen Kämpfe zu verantworten hat: die Sowjetunion. Die ideologischen Fronten sind also nach wie vor geklärt:

Moral und Erfolg kommen endlich wieder ins rechte Lot. Der Sündenfall der Sowjetunion hat sich gerächt, lautet die Antwort auf die Schuldfrage. Künftig sorgen westliche Waffen und Diplomaten mit dafür, daß die Einwohner Afghanistans selbst entscheiden können, was aus ihnen wird, so heißt die Perspektive, unter welcher der Krieg für demokratische Beobachter Sinn macht. Daß beidesmal das Völkchen vor Ort der Betroffene oder Nutznießer sein soll, dem die Anteilnahme gilt, gehört zu den allseits anerkannten und durchschauten Heucheleien, mit denen die wirkliche Botschaft an den Mann gebracht wird: Die Sowjetunion hat an Einfluß auf dieses Land verloren, der Westen aber gewonnen. Ob genug, darüber darf diskutiert werden, und das provoziert manches kritische Wort über das Volk in Afghanistan, das sich für den Geschmack der Freiheitsapostel mit seinen verschiedenen Fraktionen noch viel zu wenig unter diesen Anspruch sortiert, und viel öffentliches Stirnrunzel über eine Lage, die als dementsprechend problematisch, labil und unübersichtlich eingeschätzt wird.

Dabei ist die Lage im Land so klar und eindeutig wie nur was. Von wegen: durch den Abzug der Sowjetunion werde der Weg frei für eine mögliche bessere Zukunft!

I. Die Lage im Land: Afghanistan aen Afghanen?

Was wird denn eigentlich besser dadurch, daß sich die sowjetischen Truppen zurückziehen außer das militärische Kräfteverhältnis für die Rebellen und die Siegeserwartungen und Zukunftspläne, die sie daran knüpfen? Für das Land, seine Bevölkerung, die fünf Millionen Flüchtlinge überhaupt nichts. Das Land ist verwüstet, das ökonomische Leben zerstört, ein Großteil der Städte in Schutt und Asche gelegt. Und das so gründlich, wie das mit dem Einsatz und Nachschub moderner Waffen aus Ost und West geht, und so ruinös, wie das in einer ohnehin kargen und mit altertümlichsten und ärmlichsten Mitteln bewirtschafteten Gegend und bei den wenigen Verkehrsverbindungen und Städten möglich ist. Der Krieg hat alle überkommenen Verhältnisse umgestürzt und vernichtet - und zwar viel gewalttätiger und rücksichtsloser gegen die elementarsten Lebensumstände, als das die Sowjetunion und ihre Anhänger im Land mit ihren Reformprogrammen auch nach der schlimmsten Greuelpropaganda freiheitlicher Hetze je hätten erreichen können. Wenn die westlichen Fans von Freiheit und Wohlstand für das afghanische Volk das hätten verhindern wollen, sie hätten bloß die sozialistischen Landreform-, Bildungs- und Gesundheitsvorhaben unterstützen, statt die Widerstände dagegen mit Waffengewalt ausstatten müssen. Bloß, darum ist es nun wirklich dem Westen nie gegangen.

Deswegen gehen die Klagen weiter, statt der alten Blutrache regiere jetzt eine "Kalaschnikow-Kultur" (und was ist mit den feinen Feuerwaffen und Spielzeugminen aus Westbeständen?) und statt der alten Stammesoberen herrschten jetzt eine Menge junger ehrgeiziger und unberechenbarer Rebellenkommandanten. Und der Krieg hört auch nach dem Abzug der Russen nicht auf. Nur sein Charakter ändert sich mit dem freiwilligen Ausscheiden der bisher konkurrenzlos überlegenen Kriegspartei. Als Bürgerkrieg mit auswärtiger Unterstützung geht er jetzt erst recht weiter und wird mit aller Unerbittlichkeit und entsprechendem Terror geführt - jedenfalls von seiten der Rebellen.

Die Widerstandskämpfer

sind sich nämlich in einem einig, egal, ob sie sich im Heiligen Krieg gegen die Ungläubigen wähnen, Parteigänger des alten Königs oder der Stammesführer sind oder über den Umkreis der lokalen Scharmützel überhaupt nicht hinausdenken: Oberstes Ziel war und ist es, "die Russen zu töten" und zu verjagen, und zwar zuerst sie selbst, ihre Soldaten, sowie "Ärzte und Lehrer", und dann die Regierung und ihre Anhänger'in Kabul.

Die Kriegsstrategie dafür ist denkbar einfach und brutal: Gewalt, überall wo es geht, Überfälle bei jeder Gelegenheit, Verhinderung jedes normalen Lebens im Lande, Abschreckung der Bevölkerung und Sabotage. Für dieses Programm, eine Konsolidierung der Regierung mit allen Mitteln zu verhindern, sind alle weitergehenden politischen Vorstellungen sekundär. Die Siebenerkoalition von 'traditionalistischen' und 'fundamentalistischen' 'Exilparteien'in Peschawar ist erklärtermaßen eine westliche Propagandamaßnahme. Sie ist gar nicht darauf gemünzt, den Kämpfern im Land eine politische Perspektive zu geben, sondern dafür gedacht, der sowjetischen Diplomatie und den Kabuler Versöhnungsangeboten so etwas wie einen vorzeigbaren geschlossenen Herrschaftsanspruch entgegenzustellen. Um einen nationalen Befreiungskampf, womöglich mit volksdienlichen Absichten, handelt es sich bei diesem 'afghanischen Widerstand' eben gar nicht, auch wenn sich lässig lauter Repräsentanten finden lassen, die ihm eine staatliche Aufbauperspektive im Namen des 'islamischen', 'afghanischen' oder sonstigen 'Volkes' anhängen und vielleicht selber darauf spekulieren. Eine Wiederherstellung des alten Afghanistan mit seiner angeblich so idyllischen Stammesverfassung kommt dabei garantiert auch nicht heraus.

Mit Waffen versorgt werden sie - jetzt mehr denn je - wegen der negativen Absicht, die sie alle eint und die sie mit dieser Hilfe wirklich vollbringen: Kabul und seinen sowjetischen Helfern die Kontrolle im Land gewaltsam streitig zu machen. Dafür ist der kriegerische Fanatismus der Rebellen genau richtig: Er kann sich vorläufig gar nicht gegen irgendein westliches Interesse im Lande richten, sondern nur dem Interesse am Land dienlich sein.

Die Freunde der Sowjetunion an der Regierung

sehen sich mit dem Rückzug der sowjetischen Truppen aus dem Land mehr denn je auf ein militärisches Selbstbehauptungsprogramm zurückgeworfen, das all ihren politischen Absichten ins Gesicht schlägt. Sie hatten nämlich vor zehn Jahren geputscht und die Macht übernommen, um mit Reformen das Land auf den Weg des Fortschritts zu bringen, das Volk zu einer modernen, brauchbaren Staatsgrundlage zu machen und damit eine zentrale, auf dieses Volk gestützte Herrschaft überhaupt erst herzustellen. Dazu ist es bekanntlich nicht gekommen; statt dessen kämpfen die Truppen der Regierung bloß noch darum, die wichtigsten Städte irgendwie zu halten, die Verbindungswege einigermaßen zu sichern und das Land nicht vollständig den Rebellen zu überlassen. Insofern ist das nationale Aufbauprogramm politisch gescheitert. Nicht an der Rückständigkeit bzw. Eigenheit des afghanischen Volkes, seinen gewohnten Umständen oder gar seinem unbändigen Freiheitsdrang; all das hätte sich mit Gewalt, Überredung und der Überzeugungskraft von einem Stück Land für landlose Bauern und sowjetischer Hilfestellung wohl noch unter die neuen Umstände bewegen oder beugen lassen. Sondern an der militärischen Unterstützung, die den verletzten Interessen von Stammesclans, islamischen Glaubensvertretern, Landbesitzern und Regionalherren und ihrem Anhang zugekommen ist. Das ist das eine.

Das ganz andere ist, welche politischen Konsequenzen die einstmaligen nationalen Fortschrittsfreunde daraus gezogen haben. Je unerbittlicher sich der Widerstand gegen sie bemerkbar gemacht hat, um so mehr haben sie allen Interessen und Verhältnissen, aus denen sich dieser Widerstand gespeist hat und die reformiert werden sollten, das Gütesiegel 'nationale Kräfte' zugestanden. Den Rebellen wurde ein Angebot zur 'Versöhnung' nach dem anderen unterbreitet, wenn sie, wie die Regierung, zum Verzicht auf das 'Machtmonopol' bereit sind. Der Ideologie einer möglichen nationalen Befriedung durch ein politisches Arrangement der Kriegsparteien hat sie ihr komplettes Fortschrittsprogramm geopfert - außer dem einen Punkt: ihrer Beteiligung bzw. Federführung in einer friedensstiftenden Koalition. Ausgerechnet im Bürgerkrieg gegen das, was Revisionisten einmal 'reaktionäre Kreise' zu nennen gewohnt waren, wovon sie das Volk befreien wollen, fällt der regierenden Volkspartei ein, daß vor allem sie selber mit ihrem 'Dogmatismus' schuld sei, wenn im Land kein Frieden herrscht - und was für einer das dann ist, sagt sie in ihrem patriotischen Versöhnungswahn allerdings gleich mit dazu:

"Das Land hat ein feudales, traditionelles Stammessystem, und in einem rückständigen Staat ist Sozialismus ein 'Luxus'. So verfügt der Staat über weniger als 20% des Eigentums. Nur knapp ein Prozent des Bodens ist in öffentlichem Besitz. 'Wie soll man unter solchen Umständen den Sozialismus aufbauen?' Die Landreform ist ebenso gescheitert wie der Kampf gegen den Analphabetismus, und viele Reformen haben die nationalen und Stammesgefühle verletzt. In dem Versuch, die Macht zu monopolisieren, hat man ignoriert, daß andere demokratische Kräfte ihre Mitarbeit verweigert hatten und die Bedeutung der Stammeshäuptlinge unterschätzt. Ein Mehrparteiensystem und eine gemischte Wirtschaft entsprechen dem Willen des afghanischen Volkes." (Außenminister Wakil, nach "Süddeutsche Zeitung" vom 29.8.)

Der Mann beherrscht nicht nur die Logik des Kräfteverhältnisses, dem man sich anzubequemen hat, wenn man es verändern will, bis zum bitteren Ende einer offiziellen Absage an den 'Sozialismus'. Er weiß auch schon wieder, daß ein Arrangement mit feudalen Stammeshäuptlingen und Mullahs dem wahren Willen des Volkes entspricht, das jetzt plötzlich keine Bildungsprogramme und Landreform sowie möglichst viel Agitation gegen seine überkommenen Abhängigkeitsverhältnisse mehr braucht, sondern vielmehr eine "Konsolidierung aller nationalen patriotischen Kräfte" (Nadschibullah, Prawda 2.9.). Im Namen des Volkes kündigt die Regierung ihre alte idealistische Gleichung von 'Afghanistan' und 'Volksdemokratie' auf und schlägt sich auf die Seite des Staates, den es durch Verzicht auf alle volksdemokratischen Ambitionen und Reformen zu festigen gälte.

Die Weigerung der meisten Widerstandsgruppen, der 'Siebenerkoalition' und anderer Exilgruppen, diese rücksichtslose Selbstkritik zur Kenntnis und das Koalitionsangebot anzunehmen, hat die Herren in Kabul nur zu immer neuem Entgegenkommen beflügelt nach dem eigentümlichen Motto:

"Wenn man uns den Krieg aufzwingt, müssen wir ihnen unsererseits die Friedenspolitik aufzwingen."

Mit allen möglichen 'Parteilosen' haben sie eine Koalitionsregierung samt Ministerium für 'islamische Angelegenheiten' gebildet, die sich nur noch 'national' und 'islamisch' nennt, und sämtlichen Reformen, vor allem aber der Landreform, abgeschworen, ganz ohne Gewissensbisse:

"Stellt dies eine Abweichung von den Errungenschaften der Aprilrevolution dar? Keinesfalls! Wie soll man denn abweichen, wenn es nie richtig vorwärts gegangen ist? Es gab eine Bewegung seitwärts, zu künstlich erstellten theoretischen Mythen und weg von den historisch gewachsenen wirtschaftlichen Gegebenheiten des afghanischen Dorfes..." (Nadschibullah, Prawda, 24.8.)

Gegebenheiten, die der Mann im selben Zusammenhang ganz ohne Scham als das "feudale afghanische Bei-Dorf" kennzeichnet, welches "das Land nur dürftig ernährte... weit unter den physiologischen Normen".

Wie gesagt. Genutzt hat ihnen dies Entgegenkommen herzlich wenig, weil es um die Befriedung der verletzten Ansprüche von Landbesitzern oder den Fußfall gen Mekka längst nicht mehr geht; dogmatisch und keinesfalls friedenswillig gegenüber den Regierungsangeboten ist nämlich die andere Seite - solange ihre Mittel reichlich fließen. Und von großer praktischer Bedeutung ist die Rücknahme der Landreform wohl noch weniger als ihr früherer Beschluß. Denn der Krieg und die Machtverhältnisse auf dem Lande haben sowieso jede normale Produktion und erst recht die Organisation einer geregelten Umverteilung illusorisch gemacht; und die Regierung hat mehr mit Nahrungsmittelversorgung, Aufrechterhaltung von so etwas wie einem Behördenwesen und vor allem mit Verteidigungsfragen zu tun. Aber auf die Idee, daß der Krieg kein Argument gegen seine Urheber, sondern gegen die sozialistischen Staatsverbesserungs- und Volksentwicklungsprogramme ist, die durch den Krieg bekämpft und verunmöglicht werden muß man auch erst einmal kommen. Für die Friedenspolitiker aus Kabul ist das Bekenntnis zu einer ideellen Einheit der Nation, in die auch noch die feindlichsten politischen Ambitionen als Ausdruck des Volkswillens eingemeindet werden, offenbar der reformerischen Weisheit letzter Schluß. Ein politisches Arrangement mit ihren Gegnern im Interesse der "Unabhängigkeit, Freiheit, territorialen Integrität, Souveränität" des Staates ist offenkundig das oberste politische Ziel.

Genau mit diesem Anliegen aber scheitert die Regierung vollständig, weil keiner ihrer Gegner, und deren Hintermänner schon gleich nicht, das Interesse teilt, durch Entgegenkommen den Krieg zu beenden. Die versuchen ganz im Gegenteil mit militärischer Gewalt jede Versöhnung zu hintertreiben. So ist die afghanische Regierungsmannschaft immerzu auf den puren Überlebenskampf zurückgeworfen. Gelernt hat sie daraus offenbar nur, daß es dann um so mehr um politische Verständigung geht, um den Bestand einer Nation zu retten, die es überhaupt nur in ihrem politischen Willen gibt - egal, was das für das Volk bedeutet.

II. Der sowjetische Rückzug: Gescheiterte Sicherheits- und fortgesetzte Friedenspolitik

Mit diesem politischen Aufbauprogramm ist die Sowjetunion einverstanden. Auch der sowjetische Außenminister lobt die afghanische 'Bruderpartei' dafür, daß sie

"die Sache der Rettung der Heimat über dogmatisch ausgelegte Klasseninteressen" gestellt habe. "Dem ideologischen Fanatismus der unversöhnlichen Orthodoxen und dem extremistischen Fundamentalismus stellte sie den von den höchsten Interessen der Heimat beseelten gesunden Verstand entgegen..." (Nowosti 43/86)

Damit gibt er immerhin höchstoffiziell zu Protokoll, daß der sowjetische Einmarsch keineswegs Afghanistan das russische "System aufzwingen" wollte oder auch nur eine "moskauhörige" Regierung mit aller Gewalt an die Macht bringen bzw. an der Macht halten sollte. Die Alternative "Freiheit oder Kommunismus", mit der die westliche Vormacht von Vietnam bis Nicaragua zuschlägt, lautet von sowjetischer Seite her gar nicht umgekehrt, sondern ganz anders: 'Nationale Einheit und Selbständigkeit oder Streit und Einmischung'. Erst recht dort, wo die sowjetische Schutzmacht in die Selbstkritik der Kabuler Regierung einstimmt oder ihrerseits Kritik vorbringt, gibt sie ihren dogmatischen Standpunkt zum Besten: Nicht der Umsturz der sozialen und politischen Verhältnisse, nicht die Unterstützung einer revisionistischen Partei bei ihrem sozialistischen Reformprogramm steht an, sondern die Stabilität und politische Konsolidierung Afghanistans.

"Als wir die Truppen schickten, glaubten wir, ihre Anwesenheit werde den mächtigen Druck aus dem Ausland ausgleichen und die inneren Zwistigkeiten unter den Bürgern würden sich schließlich legen... Es kam nicht so." (Literaturnaja gazeta 17.2.)

Und das soll nicht am Ausland und den innenpolitischen Gegnern liegen, sondern an den Fehlern der Regierung, es überhaupt auf Reformen anzulegen und damit die entsprechenden politischen Kreise gegen sich aufzubringen:

"Fehler in der politischen Linie..., falsche Rezepte, mit denen der Sozialismus in einer 'unafghanischen', 'unislamischen' Form, die die Traditionen beleidigte, auf dem Befehlsweg aufgezwungen wurde... Verletzung der Sitten und Gebräuche... "

werden beklagt, als hätte der 'soziale Fortschritt' aus rückständigen Verhältnissen nicht deren Kritik, sondern ihre Bestätigung zu sein. Der Zweifel wird jetzt plötzlich laut:

"Ist eine solide politische Struktur des Sozialismus überhaupt möglich in einem Lande, in dem eine Unzahl von Stämmen, nomadisierender Völker und Agglomerationen, Führern und Satrapen eine ständig brodelnde Suppe, eine dickflüssige soziale Brühe bilden, die in augenblicklich zerplatzenden Blasen hochkocht? " (ebd.),

- als hätte die Festigkeit der Regierungsgewalt oberster Maßstab zu sein, weshalb sie unter Umständen lieber auf jeden störenden Eingriff verzichten sollte. Und ein General wirft der Regierung vor, statt ihre eigenen Regierungsansprüche vollständig aufzugeben, die "Aufgabe der Selbständigkeit der Widerstandsparteien im Rahmen der vaterländischen nationalen Front" (Süddeutsche Zeitung, 25.7.) verlangt und damit eine politische Lösung verhindert zu haben.

Die inneren Verhältnisse in diesem Lande, in dem die Sowjetunion mit ihrem Einmarsch faktisch die Macht übernommen hatte, sind also für sie gar keine Prinzipienfrage. Im Gegenteil: Sie macht sich zum Anwalt eines politischen Interessenausgleichs, dem alle vor Jahren einmal als Grund für die sozialistische Bruderhilfe angeführten reformerischen Ambitionen zum Opfer fallen. Und sie selbst befördert höchstoffiziell das ursprüngliche Anliegen der afghanischen Sozialisten, das Land mit sowjetischer Unterstützung gege alle Widerstände zu einer Fortschrittsnation umzuwandeln, auf den Misthaufen der Geschichte. Und zwar mit dem zentralen Argument, daß es dem Land keine Auseinandersetzungen erspart, sondern im Gegenteil bloß lauter Auseinandersetzungen beschert hat. Die sowjetischen Friedenspolitiker sind auch gar nicht zimperlich, wenn es darum geht, die Perspektiven anzugeben, die sie für dieses Land im Auge haben: ein

"traditionell islamisches, bündnisfreies Afghanistan, das die ihm zugefügten Wunden langsam auskuriert."

Wenn nur die freundschaftlichen Beziehungen zur Sowjetunion stimmen, dann ist sie also nicht kleinlich, was die inneren Verhältnisse im Lande angeht, sondern umgekehrt zufrieden, Einfluß auszuüben, ohne sich für Fortschritt und Sozialismus engagieren zu müssen.

Gebremstes Engagement für ein Arrangement mit den USA

So betreiben die Moskauer Völkerfreunde die Begrenzung des eigenen militärischen Engagements in Afghanistan mit denselben falschen Gründen, mit denen sie es für notwendig gehalten haben: zur Sicherung brauchbarer außenpolitischer Beziehungen. Sie wollen einen Schlußstrich unter den Versuch ziehen, durch die gewaltsame Unterstützung eines afghanischen Reformprogramms die Beziehungen zur Sowjetunion zu festigen, und konstatieren selbstkritisch, daß sie durch ihr Engagement gar keinen Einfluß gewonnen, sondern sich nur Feinde geschaffen haben. Jetzt liest sich die Gleichung 'sozialistischer Fortschritt = Konsolidierung eines guten Verhältnisses zur Sowjetunion' anders: Die Störung des status quo ist eine Schädigung sowjetischer Interessen. Auch dort, wo die Sowjetunion ausnahmsweise in einem Land außerhalb ihres Blocks militärisch eingegriffen hat, führt sie sich also als eine konservative Weltmacht auf, die an der Sicherung der Neutralität interessiert ist.

Die Herren im Kreml waren auch gar nicht der treibende Teil der innenpolitischen Streitigkeiten, wie westliche Beobachter ihr schon damals verständnisvoll, aber ganz und gar nicht rechtfertigend, zugestanden haben. Sie haben jahrzehntelang gute Beziehungen zu allen afghanischen Regierungen gepflegt und sie mit Entwicklungs- und Militärhilfe unterstützt. Sie haben auf Kosten von Linkskräften im Militär und politischer Elite, die sie selber herangebildet haben, eine Einmischung in die internen Auseinandersetzungen unterlassen und den Putsch von 1978 sowie die anschließenden Richtungskämpfe in der DVAP als Gelegenheit und Auftrag aufgefaßt, den Part der Ordnungsmacht zu übernehmen, 'Radikalismus' zu mäßigen und Regierung und Land zu konsolidieren. Und sie verfolgten von Anfang an das Interesse, daß der Reformeifer für ein modernes Afghanistan der Herstellung und Festigung der nationalen Einheit zu dienen und sich ihr unterzuordnen hätte.

Von daher macht die Gleichsetzung des 'Volkswillens', der den sowjetischen Eingriff als brüderliche Hilfe legitimiert, mit so gut wie allen Fraktionen im Land, gegen die sich dieses Programm ganz automatisch wendet, durchaus Sinn. Der Einmarsch rechtfertigt sich in den Augen Moskaus nämlich nur dadurch, daß er die Einigkeit stiftet, dem Widerstand das Wasser abgräbt und damit die sowjetische Präsenz überflüssig macht. Sichern wollten die Russen Afghanistan also schon, aber eben nicht bloß mit Gewalt und nicht bloß dadurch, daß sie jeden Widerstand militärisch ersticken. Deswegen hat die Sowjetunion von Anfang an einen begrenzten Krieg geführt, der dem Ideal gehorcht hat, schon durch die bloße Demonstration überlegener Gewalt die Gegner abzuschrecken und für die Ordnung zu sorgen, in der dann die sowjetfreundliche Regierung mit nationalen Reformprogrammen für sich einnehmen und die politischen Kräfte versöhnen kann. Die wachsenden Widersprüche und Kosten dieser Kriegführung, die Mißerfolge dieser Befriedigungspolitik haben sie selbstkritisch werden lassen - und zwar vom Standpunkt ihrer Sicherheitsinteressen: Statt Frieden und freundschaftliche Staatsverhältnisse mit der Sowjetunion zu stiften, kostete der Krieg nur immer neuen Aufwand, und statt für Stabilität zu sorgen, verstrickte sie die militärische Präsenz nur immer mehr in gewaltsame Auseinandersetzungen.

Deswegen hat 'das afghanische Volk' unterm Krieg mehr und mehr zu hören bekommen, daß es den Fortschritt noch gar nicht so recht will; und deswegen ist die afghanische Regierung mehr und mehr damit konfrontiert worden, daß "die Anwesenheit der sowjetischen Truppen im Lande ihren Sinn verliert", wenn die "ursprünglich von der DVAP verkündeten Ziele... nicht erreicht" wurden. Was sie daran stört, sind also nicht die Rückständigkeit der afghanischen Bauern, die Macht der Geistlichen über die Köpfe und die der Grundbesitzer über die Ländereien, sondern die Probleme, die dies im Verein mit westlichen Raketen der Festigung sowjetischen Einflusses auf die Politik des Staates bereitet. Schaden nimmt der sowjetische Staat - mit seinem weltpolitischen Programm, durch Außen- und Sicherheitspolitik seinen Bestand zu sichern.

"Die Gefahr, daß an den Grenzen der UdSSR ein extremistisch gesinntes moslemisches Regime auftritt, das gewillt ist, seine Propaganda und Praxis auf das Territorium unserer mittelasiatischen Republiken zu tragen - eine solche Gefahr wird es nicht geben. Es wird auch an der afghanisch-sowjetischen Grenze keine amerikanischen Funkaufklärungssysteme geben." (Literaturnaja gazeta, 17.2.88)

Für dieses Ziel reichen allerdings ein traditionell gemäßigter Mullahstand, ein moskaufreundlicher bzw. auf Neutralität bedachter Oberhäuptling und das Arrangement mit der feindlichen Weltmacht, Afghanistan nicht zum Kampffeld ihres globalen Gegensatzes zu machen, aus. Und dieses Ziel macht die militärische Unterstützung einer Regierungsmannschaft lohnend, die dafür sorgen soll, daß aus dem Land keine umkämpfte Sphäre wird. Vor diesem Ziel wird aber umgekehrt auch ein militärisches Engagement zum Problem, das gar keinen Frieden stiftet, sondern immerzu der anderen Weltmacht Gelegenheit zur Einmischung eröffnet.

Das Afghanistan-Abkommen: Eine diplomatische Heuchelei

Einmarschiert sind die Russen damals wegen einer Einschätzung der internationalen Lage, in der Afghanistan nur einen, für die Sowjetunion wegen ihres Einflusses auf das Land aber entscheidenden Mosaikstein einer wachsenden Bedrohung darstellte. Nach den Worten Breschnews drohte ein "Aufmarschgebiet des Imperialismus am Südrand der Sowjetunion", und die Machenschaften des CIA in Afghanistan ließen sich unschwer einreihen in ein strategisches Konzept westlicher Einkreisungspolitik: Programmatische Aufstockung des amerikanischen Verteidigungshaushalts, absehbare Nichtratifizierung des SALT II-Abkommens, der Beschluß zur Aufstellung von Raketen in Europa, der Aufmarsch der amerikanischen Flotte im Golf gegen den Iran, die amerikanisch-chinesischen Beziehungen - das machte für die Sowjetunion auch Afghanistan zu einer außenpolitischen Sicherheitsfrage. Und gescheitert ist sie mit ihrer Absicht, aus Afghanistan keine Bedrohung werden zu lassen auch nicht am 'islamischen Widerstand', sondern einzig und allein am westlichen Willen, Afghanistan haargenau zu dieser Bedrohung zu machen. Der Abzug der Sowjetunion ist also nach dieser Seite das Eingeständnis einer sicherheitspolitischen Niederlage, die mit erzwungener Vernunft genausowenig zu tun hat, wie ein schnelles Ende der Rebellenumtriebe ihrem Programm der Staatenfreundschaft Recht gegeben hätte.

Gorbatschow ist eben zu der Auffassung gelangt, daß der Krieg militärisch immer mehr Autwand kostet, aber immer weniger bringt; daß er beim Kampf um das Ansehen der Weltöffentlichkeit, die der Mann im Kreml für eine friedensbewegende Macht hält, stört; daß die opfervolle sozialistische Bruderhilfe daheim unglaubwürdig wird, wenn die damit Beglückten sie mehrheitlich gar nicht in einem befriedeten Staatswesen genießen können bzw. wollen - und vor allem: daß sich mit dem Rückzug ein neues Feld friedensstiftender Diplomatie zwischen den Weltmächten eröffnen ließe. Das entsprechende Ideal, an die Adresse der USA gerichtet, gipfelt in der Forderung, endlich einzusehen, "daß die Versuche, Konflikte auf militärischem Wege zu lösen, verderblich und fruchtlos sind" (Nowosti 34/88), und mit dafür zu sorgen, daß die "Einmischung von außen" unterbleibt. Praktisch fällt das Ansinnen, die Auseinandersetzungen in Afghanistan in den Status einer "inneren Angelegenheit" zurückzuführen und damit zu entschärfen, allerdings etwas anders aus.

Was die militärische Seite der Auseinandersetzung angeht, so beendet die Sowjetunion nicht den Krieg - das hätte sie auch gar nicht selber in der Hand -, sondern bringt sich aus der unmittelbaren Schußlinie und zieht sich auf den Status einer äußeren Schutzmacht der einen kriegführenden Partei zurück. Damit schafft sie ihren Schützlingen kein einziges Problem vom Hals, sondern wirft sie endgültig auf den Status einer Bürgerkriegsfraktion zurück, die um ihr Überleben kämpfen muß und dabei mehr denn je von Waffenlieferungen abhängig ist.

Damit haben die Russen den Versuch aufgegeben, Afghanistan gegen den westlichen Willen wie eine selbstverständliche Interessensphäre unter sowjetischem Einfluß zu behandeln, und sich statt dessen auf die Konkurrenz darum eingelassen, welche Parteien in diesem Land künftig das Sagen haben und wie es sich deshalb sortiert.

Politisch hat Grobatschow an diese Bereitschaft, Machtpositionen zu räumen, statt mit mehr militärischem Einsatz zu halten, das Ansinnen geknüpft, daß die USA und Pakistan sich als Gegenleistung zur Zurückhaltung verpflichten. Erreicht hat er mit den Afghanistan-Verträgen allerdings etwas ganz anderes, wie nicht zuletzt die laufenden Anklagen über Vetragsverletzungen beider Seiten und die ständige sowjetische Drohung, "geeignete Maßnahmen" zu ergreifen und "den Abzug auszusetzen", zeigen. Außer dem eigenen Versprechen, in bestimmter Zeit abzuziehen, hat die andere Seite ihre Mitzuständigkeit für den Krieg anerkannt und zugestanden bekommen und sich zum Prinzip der Nichteinmischung verpflichtet. Wie die aussehen soll, darüber wird gestritten - und dieser Streit ist auch schon der ganze materielle Ertrag des Abkommens. Was soll auch schon anderes dabei herauskommen, wenn das Ideal eines von den Großmächten überwachten und auf den Status eines Bürgerkriegs zurückgeführten Konflikts, den überhaupt nur sie ausstatten können und an dem sie allein ein höheres weltpolitisches Interesse haben, in Paragraphen gefaßt wird.

Eine diplomatische Heuchelei erster Güte: die sowjetische Friedenspolitik will sich ausgerechnet mit der anderen Weltmacht über eine gemeinsame Zuständigkeit für alle Streitigkeiten einigen. Sie hält also eine gemeinschaftliche Weltpolizistenrolle für das Mittel zur Entschärfung aller Konflikte, die sie mit den USA austrägt. Dabei besitzt sie in den Drohungen, den Abzug zu verzögern, nicht einmal ein Druckmittel, weil der Rückzug ihr eigenes Interesse ist und die Gegenseite den unbedingten Willen, den Krieg zurückzuschrauben oder gar zu beenden, gar nicht teilt. Im Gegenteil. Die USA, und in ihrem Interesse und mit ihrer Unterstützung erst recht Pakistan, behandeln das Vertragswerk wie eine Rückzugsverpflichtung der Sowjetunion und eine Einmischungserlaubnis für sie, über die sich mit den Russen dann prächtig und ohne jede weitere Verpflichtung streiten läßt. Die Amerikaner haben für ihre - nun nach eigener Auslegung vertragsgemäße - Unterstützung der Widerstandskämpfer den diplomatisch handlichen Begriff der "symmetrischen Ausstattung" erfunden, die Pakistani lassen sich von den USA mit Milliarden ausrüsten und auf sowjetische Beschwerden hin auch mal zur Einhaltung des Abkommens ermahnen, während sie mehr denn je Waffen und Leute über die Grenze schleusen und als logistisches Hinterland agieren. So benutzen die westlichen Frieden- und Freiheitsfreunde das Vertragswerk als diplomatische Zugabe bei ihren Anstrengungen, den Krieg erst einmal bis zu einem Sieg des Widerstands weiterzuführen und jetzt erst recht das sowjetische Ideal, das Land durch den Rückzug und entsprechende Zurückhaltung der Gegner zu befrieden, zu durchkreuzen. Das liegt ganz in der Konsequenz von acht Jahren amerikanischer Afghanistanpolitik.

III. Die Offensive des Westens: Krieg um Afghanistan und eine weltpolitische Kampfansage

Gescheitert ist die Sowjetunion mit ihrem Versuch, Afghanistan durch ihr militärisches Eingreifen zu stabilisieren und seine verläßliche Neutralität zu sichern, nämlich nicht an den Widersprüchen ihrer Unterstützung einer sowjetfreundlichen Zentralregierung samt Hinterland; auch nicht am Widerstand einschlägiger Kreise im Land. Gescheitert ist sie schon eher daran, daß sie nicht von vornherein entschieden genug durchgegriffen hat, wenn es ihr schon darum gegangen ist, westliche Einmischung dort, wo sie es kann, zu unterbinden. Gescheitert ist sie an ihrer Einschätzung, der Westen würde den russischen Einmarsch letztlich doch hinnehmen, vor einer Konfrontation im Land zurückschrecken und damit dort der Widerstand erlahmen. Gescheitert ist sie also letztlich an der Entschlossenheit der Führungsmacht des Freien Westens, der Sowjetunion in ihrem eigenen Einflußbereich außerhalb ihrer Blockgrenzen keinesfalls das zu erlauben, was die USA in Grenada und anderswo gegen unliebsame Regierüngen beanspruchen: die Sicherung ihrer 'Hemisphäre'. Von Beginn an haben die USA ganz anders, als sich Breschnew das gedacht und gewünscht hat, den Russen mit ihren Vorwürfen recht gegeben, sie hätten sich eines "unerklärten imperialistischen Krieges" und einer "bewaffneten Intervention" zu erwehren: Sie haben dafür gesorgt, daß aus dem Widerstand wirklich ein Krieg, und daß er für Moskau so teuer wie möglich wird. Und gedacht haben sie dabei nicht an Frieden, Freiheit oder Wohlstand, aber auch nicht andersherum so kleinkariert, sie müßten unbedingt die paar zivilisatorischen Anstrengungen der Russen in dieser entlegenen Gegend untergraben oder den islamischen Glaubensbrüdern und Stammeshäuptlingen zu ihrem Recht verhelfen. Das ganze Volk war ihnen überhaupt schnurzegal, und daß es vor dem Alphabet bewahrt und dafür ausgiebigst mit Minen und Waffen aller Art bekannt gemacht worden ist, das lag daran, daß der Widerstand so geeignet dafür war, diese Waffen gegen Russen einzusetzen. Und daß es genau daran für diese abgelegene Gegend ein dringliches strategisches Interesse gab. Das Programm hieß nämlich, den "weichen Unterbauch der Sowjetunion" zu destabilisieren.

Deswegen haben die USA und ihre Verbündeten die sowjetische Militäraktion durchkreuzt und einen dauerhaften Kampf um Afghanistan in Gang gesetzt, der die Besatzungsmacht immerzu und immer härter vor die Frage stellt, wie sie sich im Land behaupten will, und auf jeden Fall jede politische Konsolidierungsabsicht im Ansatz erstickt. Der unbedingte Wille, die Russen im Land bluten zu lassen, hat sich an den Gründen für den antikommunistischen Fanatismus der Stellvertreter vor Ort nie zu stören brauchen. Sie waren auf jeden Fall brauchbar für jeden Eskalationsschritt des amerikanischen Weltpolizisten. Die Erfolge lassen sich mit Händen greifen: Das Kabuler Regime ist dank der praktischen Demonstration, daß es sich nicht lohnt, ein Freund der Russen zu sein, immer schwächer und verhandlungsbereiter geworden; die Widerstandskämpfer sind längst eine in kleinen Gruppen operierende regelrechte Guerilla-Armee und landesweite Militärmacht von westlichen Gnaden; die ehemals 'verdeckte' Waffenhilfe für sie hat sich zu einer offenen internationalen Kriegsorganisation entwickelt; die politischen Repräsentanten des Widerstands sind auf Unversöhnlichkeit eingeschworen, ganz von ihren Geldgebern abhängig und für jede Spekulation auf eine künftige Konkurrenz um die Macht ohne Kommunisten gut; und die Kriegsbeteiligung der USA hat sogar eine vertragliche Verlaufsform gefunden, die Washington erlaubt, auch noch förmlich politisch mit der Sowjetunion über ihre gegensätzlichen Ansprüche in diesem Krieg zu rechten. So ist der Beschluß, der Sowjetunion die Zuständigkeit für Afghanistan streitig zu machen, dank sowjetischer weltpolitischer Berechnung sogar zu einem offiziell geregelten Gegenstand des diplomatischen Dauerverkehrs unter Einschluß der UNO geworden. Afghanistan ist damit eine bleibende Problemzone sowjetischer Sicherheit und ein Dauergegenstand der Systemkonkurrenz geworden. Das ist die bleibende Leistung westlicher Afghanistanpolitik. Mit einigen Milliarden Dollar, mit ein paar Millionen afghanischen Flüchtlingen, mit afghanischen Toten und einem zerstörten Afghanistan fallen die Kosten denkbar billig aus, billiger als ein amerikanischer Flotteneinsatz im Golf...

Afghanistan war aber für den Westen von Anfang an mehr, nämlich der letzte Anlaß und Ausgangspunkt für eine Neubestimmung amerikanischer Politik gegen den Osten, die unter dem Firmenschild 'Ende der Entspannungsära' den Russen in die Schuhe geschoben und damit zugleich feindbildgemäß ideologisch ausgestaltet wurde. Schon Präsident Carter und erst recht Reagan haben aus der russischen Intervention den Schluß gezogen, daß der Sowjetunion der Anspruch, sich weltpolitisch einzumischen und auf der Grundlage ihrer Anerkennung als Weltmacht auch anerkanntermaßen um Einfluß auf die Staatenwelt konkurrieren zu können, offensiv bestritten werden muß. Deswegen haben die Amerikaner Afghanistan zu einer Prinzipienfrage erklärt:

"Was den Fall Afghanistans zu einem solch schwerwiegenden Verlust für den Westen machte, war nicht das Schicksal seiner 18 Millionen Einwohner, von denen 90% Analphabeten sind und deren durchschnittliches Jahreseinkommen von 160 US-Dollar das Land zu einem der ärmsten der Welt macht. Nicht einmal die strategische Lage Afghanistans hätte den Verlust so bedeutsam gemacht, wenn die Einbuße dieses Landes lediglich ein Einzelfall gewesen wäre aber sie geschah nicht isoliert, sie war Teil eines Musters. Und dieses Muster stellte die eigentliche Herausforderung dar." (R. Nixon, Der 3. Weltkrieg hat schon begonnen)

Vor dem Interesse, durch die Rüstungskonkurrenz die Sowjetunion zurückzudrängen und sie strategisch einzukreisen, vor dem beanspruchten Recht, auch Afghanistan als eine selbstverständliche Einflußsphäre des Westens zu behandeln, hat sich der sowjetische Einmarsch wie eine Provokation und als der Gipfelpunkt einer globalen sowjetischen Einmischungsstrategie ausgenommen - und die USA haben dieser Sichtweise Geltung verschafft.

Strategisch hat Carter Afghanistan zu einem Stück westlicher Sicherheitszone erklärt:

"Ein von den Sowjets besetztes Afghanistan bedroht sowohl den Iran und Pakistan und ist ein Sprungbrett zur Herrschaft über ein gut Teil des Erdöls in der Welt."

Seine Antwort darauf war die Definition der Golf-Region zu einer amerikanischen Interessensphäre, die sie gegen jede Bedrohung militärisch verteidigen würden, der Ausbau der militärischen Präsenz im Golf und indischen Ozean und neue Rüstungsprogramme. Während die amerikanische Einkreisung der sowjetischen Landmacht von Europa bis Asien unter tatkräftiger Mitwirkung der Nato-Verbündeten voranschritt, prangerten die Politiker den "Einkreisungswahn" der Sowjetunion an und warfen ihr vor, mit Afghanistan "ihre Macht über ihre echten Sicherheitsinteresse hinaus ausgedehnt" zu haben. (Carter)

Politisch hat der Westen unter Führung der USA diese Sicherheitsdefinition zum Ausgangspunkt des ganzen Ost-West Verhältnisses gemacht und alle diplomatischen Beziehungen dazu benutzt, die sowjetische Afghanistan-Politik als eklatanten Verstoß gegen diese Definition zu bestrafen, als hätte die Sowjetunion die bisherigen Grundsätze der Entspannung außer Kraft gesetzt. Von der Olympiade bis zu den Handelsbeziehungen hat die Sowjetunion zu spüren und die Weltöffentlichkeit zu hören bekommen, daß der Westen gewillt ist, die Anerkennung des Ostens von dessen weltpolitischer Enthaltsamkeit abhängig zu machen. Dem sowjetischen Interesse an einer 'Regionalisierung' der Afghanistan-Frage gaben die USA nicht nach, sondern haben sie umgekehrt zum Paradefall dafür gemacht, da jede Auseinandersetzung um die Staatenwelt eine Herausforderung der USA selber darstellt, die sie nicht hinzunehmen bereit sind. Der Standpunkt, daß die Russen kein Recht haben, außerhalb ihres Blocks Einfluß auszuüben und eigene Interessen zu sichern, sondern sich nach den ausgreifenden strategischen Bedürfnissen ihrer Gegner zu richten haben, beherrscht seitdem nicht nur die Zeitungsspalten, sondern auch den gesamten politischen Verkehr zwischen den Supermächten. Eingeführt worden ist er in Form der Selbstkritik, den Sowjets zuviel Freiheiten zugestanden und sie im Unklaren darüber gelassen zu haben, daß sie sich mit Afghanistan an Amerika selber vergehen und was sie sich damit einhandeln:

"Wären wir bald härter gewesen,... vielleicht wäre den Sowjets dann nicht diese Art von Fehlkalkulation unterlaufen... Es wäre besser gewesen, wenn die Sowjets durch ein klares Verständnis über unsere Entschlußkraft zuerst abgeschreckt worden wären... und der Sowjetunion klarzumachen, daß der Einfall sowjetischer Streitkräfte in ein Gebiet von außerordentlicher Wichtigkeit für amerikanische Interessen die Auseinandersetzung mit den USA beschleunigen würde und daß dann die Vereinigten Staaten selbst die freie Wahl hätten, wie sie darauf antworten würden." (Brzezinski)

So kann man es also auch ausdrücken, daß die Vereinigten Staaten die Ost-West-Beziehungen der letzten Jahre als einen mißlungenen Test auf sowjetische Zurückhaltung verstehen, Afghanistan zu ihrer eigenen Domäne erklären und zum Ausgangspunkt einer neuen Feinddiplomatie machen. Reagan hat sich dann zum endgültigen Vollstrecker dieser Linie gemacht und die Sicherung der amerikanischen Überlegenheit und die weltweite Eindämmung der Sowjetunion auf die Tagesordnung gesetzt. Unter dem Firmenschild eines globalen "Befreiungskampfes" und einer "Gegenrevolution" der freien Welt hat er den an Afghanistan vollzogenen Übergang zur Normalität gemacht: Er redet nicht nur über den "Kreuzzug" der Demokratie, er führt auch überall Krieg gegen jedes staatliche Interesse, das nicht zur amerikanischen Vorstellung einer geschlossen gegen den Osten ausgerichteten Staatenwelt paßt. Deshalb ist Afghanistan zu einem Fall unter anderen geworden. Und die Russen haben den Beweis angetreten, daß sie auch über diese Politik mit sich reden lassen.

Und darüber soll man sich jetzt beruhigen? Oder der sowjetischen Auffassung zustimmen:

"Die politische Regelung um Afghanistan hat gezeigt, daß die Menschheit über reale Kräfte und Möglichkeiten verfügt, um sich bereits in absehbarer Zukunft von regionalen Konflikten zu befreien." (Nowosti 34)