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Dieser Artikel ist in der MSZ 10-1988 erschienen.

Systematik

Das bundesdeutsche Aussiedlerprogramm
DEUTSCHLAND ÜBERALL IN DER WELT

Ein Gebot der Menschlichkeit, eine nationale Herausforderung soll es sein, was da in Form eines "Aussiedlerstroms" auf "uns" "zukommt" - nichts davon ist wahr. Was da die bundesdeutschen Politiker vor eine Fülle von Aufgaben stellt, ist nichts anderes als das gar nicht unerwünschte Resultat der Unverschämtheiten deutscher Ostpolitik. So war das zwar gar nicht beabsichtigt, der anspruchsvollen Intention bundesdeutscher Außenpolitik kommt es trotzdem zupaß.

Flagge zeigen im Feindesland

Darum, Menschen zu einem anständigen Auskommen zu verhelfen und damit auch zu sowas wie der Möglichkeit, ihr Leben nach ihrem Gutdünken einzurichten, darum ist es deutschen Außenpolitikern mitsamt ihren Vertriebenenverbänden nie gegangen, wenn sie die "Lage der deutschen Minderheit" irgendwo in der Welt beklagt und deren - besser: das "Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes" eingeklagt haben. Daß es dabei erstmal um nichts anderes als eine Anklage des Hauptfeinds und seiner Verbündeten gegangen ist, hat man diesen Klagen schon immer entnehmen können.

Wenn nämlich Politiker (die sich sonst darum sorgen, ihr Volk könne vor lauter Wohlstandsbauch im Kopf mit der vielen Freizeit nichts Rechtes anfangen) Armut und Elend von deutschem Volk, das ihnen gar nicht untersteht, beklagen, dann sollte zumindest das schon mal stutzig machen. Schließlich schicken sie ja nicht einfach Fertighausteile, Teermaschinen und Lebensmittelläden nach Siebenbürgen, sondern fahren allenfalls selber hin, um sich von einer alten Oma den Auftrag, den sie sich schon lange selber erteilt haben, bestätigen zu lassen: Das "Reich" möge sich um die Deutschen in... kümmern! Das Interessante an deren "Lage" ist nämlich allemal, daß es sich um Deutsche handelt, die sich die Bundesregierungen seit Adenauer als Rechtsanspruch, außerhalb der territorialen Geltung ihrer Gewalt mitzureden, zurechtdefiniert haben.

Deshalb geht es auch nicht um die Armut der nichtdeutschen Nachbarn der dortigen Deutschen, und die Armut letzterer ist nichts als der anschaulich gemachte Fingerzeig, daß hier ein ünbedingter Handlungsbedarf besteht. Und auf den kommt es dann auch alleine an: Eine Handlungsanweisung auf Linderung der Not ist daraus eben keinesfallls abzuleiten. So fordert praktisch jeder neu entdeckte Deutsche auf dem Globus energisch mehr, sprich: tatkräftige deutsche Außenpolitik. Und wie es sich für anständige Untertanen gehört, selbst wenn sie gar keine sind, melden sich auch nur die, die mit diesem Ruf gemeint sind, weil ja auch nur sie ganz massiv angesprochen werden. Es geht speziell um die beim Feind untergebrachten leibhaftigen Rechtsansprüche und nicht um Leute, die sich mal anderswohin verdrückt haben. Die in Eupen-Malmedy, Elsaß-Lothringen oder gar den USA sind ausdrücklich nicht gemeint:

"Hans-Dietrich Genscher schwor letzte Woche das Restkabinett auf präzisen Sprachgebrauch ein. Zu meiden sei, so der Außenminister, das Wörtlein 'deutschstämmig'; dieser Terminus sei 'irreführend', schließlich seien auch 'Millionen Amerikaner deutschstämmig'." (Der Spiegel, 33/88)

So wird dem abwegigen Mißverständnis, die Sorge für deutsche Menschen könne weniger sein als eine Feindschaftserklärung an den Osten, per politischer Sprachregelung vorgebaut.

Daß da die wirklichen Adressaten der deutschen Politik allemal alt auszusehen haben, versteht sich von selbst:

"Er (Bayerns Sozialminister Glück) widersprach Stimmen, die in der Lockerung der Ausreisebedingungen durch die Staate des Ostblocks einen humanitären Akt sähen. Richtig sei vielmehr, daß die dortigen Machthaber durch eine gezielte Entnationalisierungspolitik, durch Schikanen und permanente Verweigerung der elementaren Rechte einen Druck geschaffen hätten, auf den sie jetzt durch eine Öffnung des Ventils reagieren müßten." (Süddeutsche Zeitung, 19.9.)

Ob sie ihre Deutschen behalten oder rauslassen, allemal macht sich da ein Unrechtsregime an Menschenrechten zu schaffen; das eine Mal sperrt sie alle in ihrem Völkergefängnis ein, das andere Mal organisiert sie die Vertreibung aus ihrer angestammten Heimat durch Erlaubnis der Auswanderung. Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und das deutsche Volk ist es allemal. Der Widerspruch, daß die trostlosen Behausungen und Lebensumstände dieser vor Jahrhunderten ausgesiedelten Deutschen einmal als Beleg kommunistischer Unfähigkeit und Gemeinheit herhalten, zum anderen aber als deutsches Kulturgut vor der ebenso gemeinen Zerstörung gerettet werden sollen, tut dem Beweiszweck überhaupt keinen Abbruch. Im Gegenteil! Ein FAZ-Autor empört sich darüber, daß die aus ihren Hütten Umgesiedelten nicht entschädigt werden und im nächsten Absatz darüber, daß die Entschädigung sehr niedrig ausfällt. Oder darüber, daß die Umgesiedelten in den "Agrozentren" auf ihre Viehhaltung verzichten müßten, und daß die Erlaubnis zur bornierten Einzelmäster- und -melkerei für unerträglichen Gestank in den neuen Siedlungen sorge. So geht eben nationales Denken.

Sorge für den Flaggenbestand

Daran, wie hier der Staat sich seine Staatsbürger besorgt, könnte zumindest deutlich werden, daß die Staatsangehörigkeit ein ziemlich gewaltsam definiertes Verfügungsrecht des Staates über die ihr Angehörenden ist - und zwar nicht bloß theoretisch gewaltsam. Denn zunächst erhebt ein Staat diesen Anspruch über alle, die auf dem Territorium, das seine Gewalt begrenzt, herumlaufen und der Amtssprache mächtig sind. Zweifelhafte Elemente schließt er davon aus. Normalerweise können aber auch deren Kinder durch Geburt sowohl die Sprache als auch den Paß erwerben. Da alle diese Kriterien auf die Volksdeutschen nicht zutreffen, der Anspruch deutscher Politik auf viel Hineinregieren aber nichtsdestotrotz gelten soll, gilt - wo schon nicht der Boden - das Blut, der biologische Zusammenhang mit Figuren, die irgendwann einmal auf deutsch gehorcht haben, als Kriterium des Verfügungsrechts eines Genscher über einen Teil des Ostblocks. Das bedingungslose Bekenntnis zu Deutschland - sie haben Haus und Hof verlassen, um ganz deutsche Untertanen zu sein - berechtigt da zu amtlichem Vertrauen, ist aber nicht das letzte Wort. Deshalb werden die Behörden angewiesen, die gründliche Prüfung, ob es sich nicht doch um einen verkappten Polacken handelt, der einfach nur besser leben will, auch nicht zu übertreiben:

"Sie kämen als polnische Touristen. Daher müsse ihre deutsche Abstammung erst ermittelt werden. Viele von ihnen würden jedoch von den Behörden zu rasch als Asylbewerber eingestuft."

(Süddeutsche Zeitung, 16.9.)

Dabei wird gerade im Fall Polen deutlich, daß es nationale Minderheiten, die man als Rechtstitel einsetzen kann, nicht einfach naturwüchsig gibt oder daß sie "historisch gewachsen" und damit gleichfalls gegeben sind. Es ist ja nicht allzu lange her, daß man in der Bundesrepublik das alte Dogma von der "totalen Vernichtung und Vertreibung des deutschen Volkes" aus Polen gepflegt hat. Und jetzt, als wäre es kurz nach 45, funken auf einmal zahllose kleine farbige Punkte, schön verstreut über Eurasienkarten, SOS, als wären sie lauter Hilfeersuchen, denen sich deutsche Führer schon immer mit Begeisterung nicht verwehren konnten. Wie geht das: Es ist fraglos die Leistung deutscher Politik, für das Problem, auf das sie sich beruft, tatkräftig gesorgt zu haben (Nicht zuletzt auch durch den Einsatz von KSZE-Bestimmungen und den Verweis auf die politischen Grenzen des Osthandels, der ja nach östlicher Vorstellung dem Ost-West-Gegensatz die Schärfe nehmen soll.) Eines soll deshalb mit dem provozierten "Exodus" keinesweps passieren: daß am Ende keine deutschen Rechtstitel im Osten mehr wohnen:

"Hat man um den Fortbestand der deutschen Nationalität in der Sowjetunion deshalb nicht zu fürchten, weil deren Zahl mit zwei Millionen groß ist..., so sieht es mit Polen und Rumänien anders aus... Die Deutschen in Polen sind als nationale Minderheit nicht zu erkennen. Sie sind zwangsassimiliert, haben weder deutschsprachige Zeitungen noch Bücher noch eine als solche zu erkennende Kultur. Daß die Deutschen in Polen eine Zukunft fänden, ist das Bestreben der Bundesregierung, die in Warschau Minderheitenrechte reklamiert und erreichen will." (Rheinischer Merkur/Christ und Welt, 26.8.)

Wo es eine Minderheit gibt, da gilt es, ihren Fortbestand zu erhalten, und wo es keine gibt, auf deren getretene Rechte man sich berufen könnte, da reklamiert der Mann das Recht auf eine deutsche Minderheit in Polen, damit man für die dann das Recht auf Berücksichtigung oder Aussiedlung einklagen kann.

Mit dem Anspruch auf das Selbstbestimmungsrecht des Volkes (das ja schon mal - zumindest bis 1942 seine berechtigte und sinnvolle Anwendung gefunden haben soll und erst dann von einem maßlosen Führer für die Niederlage mißbraucht worden ist) war erstmal auch gar nicht gemeint, daß der von Deutschen beackerte und besetzte Boden heim ins Reich solle. Da ist deutsche Außenpolitik einfach zu realistisch: Sie weiß, was sie sich an kurz- und mittelfristigen Zielen zumuten will und kann. Auch die Auswanderung der Leute wollte sie nicht ernsthaft betreiben. Jahrzehntelang war sie damit zufrieden, ihre Unzufriedenheit und damit ihr Recht mit dem Verweis auf die dortigen Deutschen und der Forderung nach Auswanderung rechtfertigen zu können. Verstanden und benutzt hat man das als puren Einmischungstitel in auswärtige Angelegenheiten, die man auf diese Weise zur deutschen, ja sogar zur innerdeutschen gemacht hat: Die Verhandlungen mit Rumänien werden nicht nur von Genscher, sondern auch und vor allem vom Innenministerium geführt. Diese Politik war gar nicht darauf angelegt, die Jungs rauszuholen, wo sie doch o, als Minderheit dort, ihren Dienst für Deutschland taten. Für die erbittert um das Ziel der deutschen Minderheitenpolitik streitenden Kontrahenten steht nämlich allemal fest, daß es nicht deren Sinn sein könne, die störenden Elemente aus dem Ostblock rauszukaufen und sich damit um den bundesdeutschen Hineinregierungsanspruch, pardon: die vielhundertjährige deutsche Kultur im Osten, zu bringen:

"In Bundesregierung und Bundestag gibt es allerdings auch Politiker, die sich gegen eine Fortsetzung des 'Menschenhandels' mit Bukarest und statt dessen für ein öffentliches Anprangern der rumänischen Menschenrechtspolitik vor internationalen Foren plädieren." (Süddeutsche Zeitung, 4.8.)

Von wegen"statt"! Am besten beides. Dafür darf sich dann auch ein Seelenhirte aufmanndeln, der um den Verlust seiner Herde und so um die Existenzberechtigung seiner Diözese bangt.

Satte Ansprüche an den echten Deutschen

Wenn feststeht, daß deutsche Minderheiten im feindlichen Ausland als dieser bleibende Störfaktor erhalten bleiben sollen, die massenhafte Auswanderung gar nicht die ursprüngliche Intention der diesbezüglichen Vorstellungen deutscher Ostpolitik gewesen ist, dann heißt das allerdings nicht, daß der Aussiedlerstrom der BRD-Politik in die Quere käme. Schließlich unterstreicht er sehr drastisch nicht nur den Erfolg des auswärtigen Wirkens deutscher Politik, sondern auch deren Notwendigkeit. Schon allein deswegen schmettert ihnen die Politikerriege ein herzliches und einstimmiges und gar nicht geheucheltes "Grüß Gott!" zu. Um so mehr als die unablässige Betonung der Vorrangigkeit des deutschen Interesses gegenüber sonstigen in- und auswärtigen Interessen einen soliden Rassismus im "gesunden Volksempfinden" verankert hat. Es ist ja wirklich nicht einfach einzusehen für einen deutschen Menschen, der jahrelang gegen Asylanten (= Wirtschaftsflüchtlinge) und Gastarbeiter ganz amtlich aufgehetzt worden ist, daß es sich bei den radebrechenden und etwas seltsam (= anders) aussehenden Figuren um wertvolles Volksgut handeln soll, wo sie doch selbst die besten Zeugen dafür stellen, daß sie völkisch nicht ganz koscher sind:

"'Die reden nix Deutsch, kennen nix Deutschland, kriegen aber alles', empört sich Hanna Heinemann, 52, aus Taschkent, 'wir wollen mit Deutschen leben, nicht mit Polacken.'" (Spiegel, 34/88)

Darum sieht sich die Politik gedrängt, dafür zu sorgen, daß die anständigen Deutschen nicht die falschen Lager anzünden, sondern Asylanten und Aussiedlern korrekt diskriminieren (= auseinanderhalten) können:

"'Die deutschen Aussiedler sind für unsere Gesellschaft ein großer Gewinn', gab Waffenschmidt auch für seinen Minister, Friedrich Zimmermann von der CSU, zu Protokoll. Denn schließlich handelt es sich nicht um Asylanten, sondern um 'Deutsche'." (Süddeutsche Zeitung, 11.8.)

Was also ansteht, ist die Organisation einer "Aktion Willkommen" (Kohl) oder die Stiftung "Deutsche helfen Deutschen" (Vogel). Denn eins steht fest - bei aller Bereitschaft des Staats, dem eingetriebenen Volksgut zu einer neuen Heimstatt zu verhelfen: Ohne Opfer der alten wie der neuen Deutschen ist auch diese Frage für Deutschland nicht zu lösen.

Der Staat geht mit gutem Beispiel voran. Er entwirft ein umfassendes Programm zur Integration der Aussiedler. Und da ist er erstmal sehr generös. Wo er sich eine nationale Aufgabe gestellt hat, läßt er sich nicht lumpen. Da diese Arbeiter nicht nach Gebrauch wieder abgeschoben, sondern richtige Deutsche mit Wahlrecht und Wehrpflicht werden sollen, bekommen sie Sprachkurse finanziert. Auch die Wohnungsfrage überläßt er nicht einfach dem Markt, der doch sonst für die sachgerechte Zuteilung der angemessenen Unterkünfte zuständig ist, vom Luxusappartement bis zur Obdachlosigkeit. Weil die Regierung an der Unterbringung der neuen Deutschen stark interessiert ist, hilft Bonn dem Markt auf die Sprünge. Erstens werden 750 Millionen für den Wohnungsbau locker gemacht, um in Form eines 50000 Mark-Zuschusses an den Bauherrn das findige Unternehmerinteresse zu stimulieren. Zweitens muß er sich für diese Entschädigung mit einer niedrigeren Miete begnügen. Wenn aber diese Kalkulation dem Wohnungssuchenden immer noch zu teuer kommt, bekommt der - nach gründlicher Prüfung - Wohngeld. Allerdings soll drittens die Staatskasse nicht übermäßig und v.a. nicht auf Dauer strapaziert werden. Deshalb soll die Schonung der Neudeutschen zeitlich befristet werden (5 Jahre Mietpreisbindung). Die sollen in der Zwischenzeit beweisen, daß sich die Investition in sie und der Glaube an sie ausgezahlt haben, indem sie sich bei einem Unternehmer so nützlich gemacht haben, daß sie auch einem ganz gewöhnlichen - nicht sozial abgefederten - Miethai eine anständige Kostenmiete abwerfen können.

Diese Bewährungsprobe überläßt der Staat wieder voll dem Markt, der Hilfsbereitschaft der Mitbürger und der hohen "Integrationsbereitschaft" der neuen Bürger in ihn:

"Wie der Schreinermeister aus Ludwigshafen, der ihn neulich beim Kirchgang angesprochen hat ('Herr Bundeskanzler, bitte schicken sie mir noch ein paar Rumänen!'), so sieht auch Kanzler Kohl die Aussiedler: als eine 'willkommene Bereicherung', genügsam, strebsam, arbeitswillig und kinderreich. Kohl: 'Wenn Sie einmal die Familien sehen, die beispielsweise aus Rumänien zu uns kommen, sind das Familien mit vielen Kindern. Und auch das gibt für die Zukunft der Bundesrepublik eine ganz interessante und wichtige Perspektive." (Süddeutsche Zeitung, 11.8.)

Nicht daß der Arbeitsmarkt von den Aussiedlern wirklich, d.h. anders oder mehr als von seinen bisherigen Akteuren, profitieren würde, deren Kinder das Rentenloch stopfen oder der Bundeswehr aus Planungsverlegenheiten helfen. Es handelt sich ja eh um lauter fiktive Lösungen für erfundene "Probleme". Der Witz an der Sache ist die Perpektive, die der Kanzler seinem Volk zum xten Mal verkündet und in der er ganz unverblümt ausspricht, was er an einem echten Deutschen schätzt und was er von ihm erwartet: Dafür können die Neuen echt Vorbild sein - Arbeiten und Gebären, was da, Zeug hält, alles für Deutschlands Zukunft!