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Dieser Artikel ist in der MSZ 1-1988 erschienen.
H.-E. Richter, "Amerikanismus, Antiamerikanismus - oder was sonst?"
NATIONALE GESINNUNGSHYGIENE VOM OBERSTEN SEELENWART
Horst-Eberhard Richter gilt - gerade bei kritisch gesonnenen Leuten - als führender Vertreter der Psychologie, nicht zuletzt deswegen, weil er laufend zu aktuellen politischen Streitpunkten und Auseinandersetzungen Stellung nimmt. Was diese Sorte politische Psychologie bewegt, dafür hat Richter mit seinem Aufsatz "Amerikanismus, Antiamerikanismus - oder was sonst?" (Psyche 7/86, S. 583 ff.) ein Lehrbeispiel abgeliefert: Ein Sorgerecht des Wissenschaftlers für die intakte nationale Gesinnung.
Die Konjunkturen des Nationalismus: prekäre Zustände der Volksseele
Richter hat seinen Aufsatz geschrieben, kurz bevor im Zusammenhang mit der aufgeregten Debatte um das BRD-nationale Pro und Contra einer Abrüstung der Mittelstreckenraketen die hiesigen parteipolitischen Fronten um den "Pro-" oder "Antiamerikanismus" etwas in Bewegung geraten sind - bevor also die SPD nicht umhinkam, Ronald Reagan herzlich beizupflichten, und ein Alfred Dregger im Pershing-Abzug ein bißchen US-Verrat an deutschem Atom-Besitzstand witterte. So etwas hat Richter nicht vorausgesehen; er geht also von der Situation aus, als in der bundesdeutschen Parteienkonkurrenz die politischen Kampfbegriffe "Pro-" und "Antiamerikanisus" ziemlich eindeutig den Regierungs- bzw. den Oppositionsparteien zuzuordnen waren. Daß diese demokratischen Stilmittel dem Kontrahenten wechselseitig Vaterlandsverrat vorwerfen, also auf ein Publikum von Nationalisten berechnet sind, stört Herrn Richter nicht im geringsten. Im Gegenteil: Er teilt in diesem Streit die politische Linie der Opposition. Und zur Begründung führt er eine angebliche innere Notwendigkeit im Seelenhaushalt der Deutschen an:
"Dem in der BRD so häufig als Vorwurf gebrauchten Begriff des Antiamerikanismus ist der eines paranoiden Amerikanismus gegenüberzustellen", und zwar als "Folge eines primären Identitätsdefizits". "Damit meine ich eine bis ins Unbewußte hinabreichende psychische Amerikanisierung, die weite Teile unserer Bevölkerung kennzeichnet". (583)
Die von den Machern der Wende erfundene nationalmoralische Warnung vor "Antiamerikanismus" kontert Richter mit einer politpsychlogischen Retourkutsche: Hier sei unter Angehörigeit der deutschen Nation ein auswärtiger Geist am Wirken ("Amerikanismus"), was für den Psychologen allen Ernstes gleich so viel bedeutet wie eine seelische Krankheit ("paranoid")! Das ist also der Weisheit erster (und letzter) Schluß, den der ehrenwerte deutsche Psychoanalytiker seiner Gemeinde mitzuteilen hat: Eine Schieflage der Volksseele sei zu konstatieren, weil es der an "Identität" fehle. Was das Bei-sich-sein der Leute in Richters Weltanschauung ausmacht, geht aus seiner Diagnose des "Defizits" als 'zu viel vom Ausland übernommen' mit aller Deutlichkeit hervor: Echt deutsch zu sein, soll bei Leuten, die ungefragt mit einem deutschen Paß beglückt worden sind, das Merkmal von "Identität" sein. Die einem Psychologen offenbar selbstverständliche Auffassung 'ohne Nationalcharakter kein Charakter' ist schon ein starkes Stück: Immerhin wird da der puren Existenz von Staatswesen ohne Umstände entnommen, daß deren Angehörige dann gleich die sozusagen geborenen Mitmacher ihrer jeweiligen Nation sein müssen, deren - glückliche oder unglückliche - Elementarbefindlichkeit vom glücklichen oder unglücklichen Zustand ihres Staates abhängen soll. Daß die zufällige Zugehörigkeit zu dieser oder jener National-Mannschaft überhaupt nur durch die Zwangsgewalt einer nationalen Obrigkeit über ein Stück Territorium samt darauf ansässiger Menschheit und deren Lebensbedingungen zustandekommt, dort also eindeutige Verhältnisse zwischen Kommandogewalt und Untertanen herrschen, ist vom Psychologen in ein innermenschliches Harmonieverhältnis verwandelt, bei dessen 'Störung' das Mißlingen des Menschseins zu befürchten steht.
Mit dieser psychologischen Elementarideologie ausgerüstet, steigt Richter den Konjunkturen des bundesdeutschen Nationalismus der Nachkriegszeit nach. Dabei propagiert er die polit-psychologische Gleichung 'deutsche Menschen finden ihren Seelenfrieden nur in wirklich deutschen Verhältnissen', so daß er ihr Vorhandensein besonders auf regierungsamtlicher Seite immerzu vermißt.
Der Bündnisnationalismus als "Symptom einer großen Identitätsschwäche"
Darin besteht denn auch schon Richters Methode, sein psychologisches Phänomen zu präsentieren; "das ich als westdeutschen Amerikanismus bezeichnen möchte" (583). Dabei ist dem Richter zunächst klar - wie jedem nationalbewußten Bundesdeutschen -, daß das heutige 'Wir sind wieder wer!' Marke BRD auf-der Beteiligung an der Nachkriegsordnung Marke USA beruht, ohne die nichts liefe in Sachen Welt-Geschäft und Welt-Gewalt: Da gibt es "bedeutende politische, wirtschaftliche unq militärische Interessen", die "die BRD mit den USA verknüpfen", sowie "unvergessene Hilfeleistungen" bei der Befreiung von Hitler, bei der Berlinblockade usw., mit denen "die Amerikaner sich unsere besondere Loyaliät verdient" hätten, Kriegsbündnis NATO also inbegriffen - alles keine Frage für den Herrn Friedenspsychologen. Bloß: Anno 86 entdeckt der kundige Interpret des nationalen Seelenhaushalts, der sich bis dato vorwiegend um das rechte Maß an 'Trauerarbeit' wg. Drittem Reich gesorgt hat, an der "Antiamerikanismus"-Agitation der christliberalen Regierungen Symptom für eine Art undeutsche Über-Reaktion, ein "Symptom einer großen Identitätsschwäche":
"Für weite Kreise der Bevölkerung bedeuten die USA weit mehr als eine äußere Führungs- und Schutzmacht. Amerika gibt ihnen inneren Halt und kompensiert ihre tiefe Selbstunsicherheit." (583)
Psychologisieren ist offenbar ein Verfahren, das Heruntermachen dessen, was einem auf der Welt nicht paßt, mit dem Schein einer tiefinnerlichen Problematik zu versehen. Und da kennt ein Richter sich aus. Allerdings ist kaum zu übersehen, da gar kein psychologisches 'Problem' den Anlaß für seine Unzufriedenheit abgibt - seit wann ist "innerer Halt", wenn er nur vorhanden ist, für einen Psychologen etwas Bedenkliches? Vielmehr bildet seine offensichtliche Vorliebe für die konkurrierenden Sprachregelungen des Alternativnationalismus der SPD-geführten Opposition den Leitfaden seiner Nörgelei: Deren öffentliche Bemühungen, die Regierung als "blinde Amerikanisten" mit "automatischem Amerika-Gehorsam" (585) undeutsch und schwach aussehen zu lassen - jedermann als Buhlen ums national gesinnte Stimmvieh geläufig -, dienen ihm zuvorderst als Belastungs-Zeugen für das monierte Zuviel an "ldentifizierung" mit den Amis. Und die weiteren Belege hierfür bestehen im Nachbeten der despektierlichen Geschmacksurteile intellektueller Gemüter über eine Häufung amerikanischer TV-Serien im deutschen Fernsehen (583; statt mehr Schwarzwaldklinik und dalli dalli?).
Richter möchte das politische Ideal jedes Nationalisten, daß seine Nation vor keiner Großmacht klein beizugeben braucht, mit der Fiktion von einem gesunden Normalmaß nationalen Selbstbewußtseins untermauern, das sich dann, bei "innerem Halt" Marke Deutschland, auch mit Loyalität zum großen Bruder durchaus verträgt - von gleich zu gleich eben. Dazu hat er das allgemeine psychologische Menschenbild, demzufolge der Mensch in der gelingenden Anpassung an "die Umwelt" - egal welche - sein inneres Gleichgewicht ins Lot bringen und so in der Versöhnung mit der ohnehin dominanten Realität sein Glück finden muß, regelrecht nationalisiert:
"Wenn man nicht mehr sicher ist, auf welche eigenen Mythen, Traditionen, Ideologien man sich stützen kann, borgt man sie sich eben von außen. Wenn man zweifelt, ob man, was man von den Vätern geerbt hat, erwerben darf, um es zu besitzen, dann sucht man Halt durch Identifizierung mit idealisierbaren Ersatzeltern." (583/4)
Eigenartig: Wenn der Herr Psychologe schon die hohe Auffassung vom "Menschen" pflegt, dessen nötigstes Lebensmittel es sei, sich geistigen Unfug ("Mythen, Ideologien" ) zum Zwecke eines grundlosen Sich- Einreihens ins höhere Ganze ("Traditionen") vorzumachen wieso tun es denn dann fremde nicht genau so gut? Zwar gibt die Logik der einen Psycho-Idiotie ihre Differenzierung in "eigen" und "von außen" gar nicht her, aber wer wird schon kleinlich sein, wenn es um die gute Sache einer nationalen Sinnstiftung geht. Und da tut die andere Psycho-Idiotie ebenso gute Dienste, das vertraute Bild vom Kleinkind, das mit der Muttermilch auch den Seelenhalt einsaugt von Herrn Richter gleich total locker ausgedehnt auf den 'Vater' Staat, offenbar - gerade in psychologischer Sicht - der Lebensbedingung jedes Menschleins. Zwar ist es wiederum nicht besonders folgerichtig, wenn die Leute einerseits ihrem Staat schlechterdings nicht auskommen können, andererseits, wenn der Staat Deutschland heißt und gerade ein vergeigtes Drittes Reich zu vererben hat, dann auf Pflegeeltern umzusatteln - aber die Botschaft ist klar: Des Menschen erstes Bedürfnis ist das von keinem Vorbehalt getrübte Aufgehen in seinem nationalen Verein, und es kann einfach nicht gutgehen, wenn man dafür auf eine fremde Obrigkeit schielen muß. Darin ist Richter wirklich einmal konsequent: Wenn Nationalismus schon ein Muß ist, dann in Deutschland eben deutscher!
Hitler und die Folgen im nationalen Seelenhaushalt
Daß nun "weite Teile unseres Volkes" dem Gütesiegel eines intakten nationalen 'Wir', dem Wertmaßstab des Seelenkundlers, ganz und gar nicht genügen, dafür weiß Richter freilich schon wieder eine Notwendigkeit. Der Ex-Großmeister in Sachen Größe Deutschlands, der Führer und Reichskanzler Adolf Hitler, habe bei der Benutzung "einer Generation", die "ihre Opferbereitschaft für das Volk, vertreten durch den Führer, als ihre wichtigste Bestimmung" anzusehen gelernt habe, falsch gespielt: "Aber statt Treue war absoluter Gehorsam gemeint, Verzicht auf Mündigkeit." Das ist gut: Treue zur Nation statt Gehorsam! Jedenfalls teilt Richter mit, daß sein Ideal von "Mündigkeit" mit total ungezwungenem Ja-Sagen zur Unterwerfung unter die Zwangsgeeinschaft namens Nation zusammenfällt. Hitler indes, offenbar auch so ein ausgefuchster Volksseelenkenner, soll zur "Entschädigung für diese Entmündigung" für seine Volksdeutschen lauter offenbar höchst attraktive Angebote an den "Narzißmus der Individuen" parat gehabt haben, nämlich auf "Partizipation an der grandiosen (!) fiktiven (!) Einheit Volk, Reich, Führer" (alles 586). Was einem Psychologen alles so einleuchtet: Soeben vom Staatschef um ein echtes nationales 'Wir' betrogen, ist es doch nur konsequent, daß die Deutschen ihrem Führer dann deshalb folgen, weil der ihrem schlechteren, nämlich selbst- statt staatsverliebten Ich Avancen macht, und zwar mit unwiderstehlichen Staats-Shows, bei denen nur leider nichts dahinter war... Für einen Richter hätte es schon eine nicht- "fiktive Einheit Volk, Reich, Führer" sein müssen, aber in puncto Einseifen der normalen Menschheit findet er den größten Blödsinn, den er sich ausdenken kann, sehr plausibel - so geht das herablassende Verständnis a la Richter, wenn er das beliebte 'Wie konnte es nur dazu kommen?' mit einer psychologischen Unausweichlichkeit bedient. Jedenfalls muß Richter dem Führer von damals anlasten, daß er einen ungebrochenen positiven Haushalt der Nationalseele ganz gründlich vergeigt hat. Wie standen die Deutschen bloß da anno 45!
"Aber wer sagte ihnen jetzt, wer sie waren, welche Sprache sie sprechen, welchen Konzepten sie folgen sollten? All das lieferten uns im Westen umgehend die Siege, an deren Spitze die Amerikaner. Die funktionierten wie ein neues Animationssystem, das die Identitätsleere ausfüllte." (587)
Na also, wenn das die Menschheit braucht: 1. eine starke Führung und 2. eine glaubhafte, weil siegreiche, dann war doch alles in Butter, oder? Natürlich nicht:
"Es war durchaus keine mühsame, sondern eine ersehnte, rettende Anpassung, freilich ein eher mechanischer Prozeß; die Flucht aus einer Hörigkeit in die nächste." (ebd.)
Daß diese "rettende Anpassung" an die Führungsmacht von freedom und democracy gleich wieder "Hörigkeit" und "nur vertauschte Abhängigkeit" (ebd.) heißt, verdankt sich Richters feiner nationaler Differenzierungskunst, wonach "Identität" und "Mündigkeit" erst dann als geglückt gelten können, wenn die Sinnstiftung fürs Menschlein auch ganz eigenstaatlich erfolgt. Der Mensch als Volksgenosse braucht eine eigene erfolgreiche Führung - im Namen seines Seelenheils.
So viel zum Thema Rassismus und Psychologie.
Das bessere Deutschland im Anmarsch
Und heute ist es so weit. Die BRD ist längst der Rolle als 'politischer Zwerg' entwachsen; da brauchen "wir" auch kein nationales Anlehnungsbedürfnis mehr. Auf diesem Hintergrund hält der bundesdeutsche Seelenhygieniker vom Dienst den politischen Vorwurf namens "Antiamerikanismus" für schlichtweg kontraproduktiv:
"Hier werden also falsche Wir-Gefühle geschürt. Ein neues gemeinschaftliches Identitätsbewußtsein jenseits der Kategorie von Amerikanismus versus Antiamerikanismus statt dessen kann nur von unten, von der Basis aus wachsen, indem wir uns überall - in den Familien, an Schulen und Universitäten, in den Berufsgruppen, in den Gemeinden und den diversen gesellschaftlichen Organisationen - der Vergangenheit stellen, ohne deren Akzeptierung uns die Energie und der Mut weiterhin fehlen würden, uns ein neues eigenständiges Deutsch-Sein zu erarbeiten, das weder für eine Blut-und-Boden-Ideologie anfällig ist, noch von vornherein der Stabilisierung gegen ein Nicht-Wir, gegen Anders-denkende, Minderheiten oder gar eines dämonisierten Weltfriedens bedarf." (589/9)
So also hat der Richter sie immer schon angesehen und seiner Sympathie für würdig befunden die ganzen 'fortschrittlichen Menschen und Bewegungen' im Lande: als "Basis" eines "neuen eigenständigen Deutschseins", sprich: als glaubwürdige Zeugen für einen Nationalismus mit gutem Gewissen! Dafür setzt er auf die weitere Kultivierung der bewährten Tour bundesdeutscher 'Vergangenheitsbewältigung', die ein schlechtes Gewissen über den erfolglosen Vorgängerstaat zur Schau trägt, damit die heutige Republik, ohne weiteres Ansehen ihrer Taten und Absichten, Anspruch auf moralische Hochwertigkeit geltend machen und so gleich wieder als maßstabsetzendes Prachtexemplar von Staatswesen weltweit Respekt erlangen kann.
Diese Sorte nationaler Selbstdarstellung möchte Richter am liebsten als eine Art ewigen Kirchentag des guten bzw. des besseren Deutschland organisiert sehen, dem nichts und niemand entgehen kann. Die 'kritische Generation' mit ihrem Bedürfnis nach 'aufrechtem Gang' ernennt er zur "Basis eines neuen Deutsch-Seins", zur nationalen Ressource gewissermaßen - macht also aus tiefster eigener Gesinnung heraus Propaganda für die ganz autonome Unterwerfung jedes einzelnen unter die höchste Gewalt jener Nation namens Deutschland. Dabei täuscht er sich freilich sehr, wenn er auf das Aufgehen ausgerechnet der Gleichung 'deutsch = nicht fremdenfeindlich, kein Feinbild etc.' hofft. Schließlich hat er mit seiner Konstruktion einer deutschen Volksseele selber deutlich genug dokumentiert, daß Nationalismus ohne Ausgrenzen - von Fremden bis zu Feinden - schlichtweg nicht zu haben ist.