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Dieser Artikel ist in der MSZ 1-1988 erschienen.
Afghanistan
IM 9. JAHR EIN WELTFRIEDENSANGEBOT DER SOWJETUNION
Michail Gorbatschow hat zu seinem Gipfeltreffen auch jede Menge Angebote in Sachen Afghanistan mitgebracht. Die Sowjetunion will sich ganz offensichtlich eines Problems entledigen, das der NATO-Westen zum internationalen Verbrechen Nr. 1 der Gegenseite erklärt hat. Unter diesem Titel läuft seit 8 Jahren ein Krieg, den die USA finanzieren und den es nur gibt, weil die Freie Welt ihn will.
Kaum deutet sich "Bewegung" in der Afghanistan-Frage an - so deuten die Parteigänger des demokratischen Imperialismus Anstrengungen der Sowjetunion und der Kommunisten in Kabul, den Krieg zu beenden -, schon sind die freiheitlichen Experten am Spekulieren, was daraus alles werden könnte. Die "Süddeutsche Zeitung" überschreibt einen Afghanistan-Bericht mit dem Titel: "Angst vor einem Libanon am Hindukusch". Woran gedacht werden soll, legt sie einem afghanischen Oppositionellen in den Mund:
"Hoffentlich verhalten sich die Russen verantwortungsbewußter als die Briten 1947 beim überstürzten Abzug vom Subkontinent und lassen uns nicht ebenfalls in einem Blutbad zurück." (Süddeutsche Zeitung, 27.11.)
Und der UNO-Bevollmächtigte für Afghanistan, der Österreicher Ermacora, der sein Amt und seine Herkunft bisher immer als Auftrag zu einer neutralen, also entschiedeneren Hetze gegen das afghanische Verbrechen der Russen verstanden hat, "warnt" neuerdings
"vor einem vollständigen und sofortigen Rückzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan. Ein solcher Schritt könne der afghanischen Zivilbevölkerung schaden." (Süddeutiche Zeitung, 20.8.)
Nach einem Besuch des Landes hat er sich bei westlichen Regierungsstellen unbeliebt gemacht, weil er mit der Behauptung zurückkehrte, fast keine "Menschenrechtsverletzungen" der Regierung festgestellt zu haben.
Afghanistan - neu besichtigt?
Auf einmal fühlt sich die kritische Informationspflicht unserer Presse bemüßigt, auch einmal eine Wahrheit über Afghanistan mitzuteilen, wenn sie voraussieht, daß mit der Rückkehr der Mudschahedin der afghanischen Bevölkerung ein Blutbad bevorsteht, das alle bisherigen Schreckensgemälde von der Grausamkeit der sowjetischen "Besetzer" in den Schatten stellt. Bisher kam Kritik an den Jüngern Allahs, die "wir" ein Land weiter als den "unmenschlichen Terrorismus" eines Khomeini kennen, doch allenfalls deswegen auf, weil sie sich in ihrer Borniertheit nicht auf ein gemeinsames Zuschlagen einigen konnten. Dieser Charakterfehler hat den Erfolg ihres Mordens, vor dem jetzt als künftiges Blutbad gewarnt wird, geringer ausfallen lassen, als westliche Beobachter ihn sich gewünscht hätten. Zweckmäßiger Terrorismus war und ist doch die Heldentat, die aus den Paschtunen-Kriegern und ihrem Programm des "Heiligen Kriegs" gegen die "gottlosen Teufel" und gegen die afghanische Bevölkerung, soweit sie nicht am eigenen Kampf teilnahm, "unsere Freiheitskämpfer" gemacht hat, deren selbstlose Aufopferung für die gute Tat spricht. Wenn die eine Zivilmaschine samt Frauen und Kindern vom Himmel holten, dann fiel das nicht unter "terroristischer Gewaltakt", sondern bewies den gerechten Willen und die Kampfstärke der richtigen Seite und daß die guten amerikanischen Stinger-Raketen selbst in der Hand von Analphabeten vertrauenswürdige Dienste tun.
Ohne die westliche Aufrüstung zur NATO-Hilfstruppe hätte sich die Kampfentschlossenheit der "Freiheitshelden" allein im Drogenhandel und im Überlebenskampf in pakistanischen Lagerghettos austoben können. Die westlichen Lebensmittelrationen, die sich dorthin verirren, stillen den Freiheitshunger, solange sich die Lager als Aufmarschbasen bewähren.
Daß nicht der Islam, sondern die westlichen Waffen ein neues Blutbad nach dem Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan so sicher erscheinen lassen, wollen die Menschenfreunde aus bundesdeutschen Redaktionsstuben nicht mitgeteilt haben. Schon gar nicht ist ihre Sorge um das künftige Schicksal der afghanischen Zivilbevölkerung ein Plädoyer für die weitere Anwesenheit der Sowjetunion zum Schutz vor zusätzlicher Verfolgung; und ebensowenig eine Forderung an die NATO-Staaten, die endlich Schluß mit der militärischen Ausrüstung ihres politischen Werkzeugs vor Ort machen sollten. Der Journalist der "Süddeutschen Zeitung" hat einfach bemerkt, daß es der Sowjetunion mit ihren ständigen Beteuerungen, sich möglichst schnell aus dem Nachbarland zurückzuziehen, ernst ist - ohne daß damit schon eine "vernünftige" Lösung für das Land, das erst das westliche Eingreifen zum Krisenherd hat werden lassen, sichtbar wird.
Ein Beispiel für Völkerfreundschaft
Ihre "Heldensöhne" will die Führung der Sowjetunion schon seit Jahren wieder zurück in ihrer Heimat sehen. Die Intervention zu Weihnachten 1979 hatte den erklärten Zweck, der afghanischen "Bruderpartei" bei einer internen Auseinandersetzung, die ihre Macht im Land gefährdete, zu Hilfe zu eilen, um möglichst schnell wieder zu den diplomatischen "freundschaftlichen Beziehungen", die Afghanistan seit 1920 mit der UdSSR "verbanden", zurückzukehren. Am Hindukusch festgehalten wurde sie durch den politischen Beschluß der USA, aus dem sowjetischen Beglückungsprogramm für die Völker Afghanistans, deren Lebensverhältnisse vorher im Westen niemand für bemerkenswert gefunden hatte, das Verbrechen der UdSSR zu machen. Afghanistan wurde zum unerträglichen Krisenherd erklärt, Pakistan als westlicher Stützpunkt neu entdeckt, und den internen Gegnern der Kabuler Regierung wurden westliche Waffen in die Hand gedrückt. Auf der Tagesordnung stand dabei nicht einfach der Rückzug der russischen Truppen hinter den "Eisernen Vorhang". Das erklärte Ziel war die "Bestrafung" der Sowjetunion. Das mit Hilfe der Mudschahedin aufgemischte Land, in dem über den Freiheitskampf die herkömmliche Subsistenzwirtschaft und Lebensweise der Bevölkerung vernichtet wurden, durfte betränt werden, war doch bewiesen, daß Freundschaft mit der Sowjetunion nur Elend und Tod mit sich bringt.
Heute schätzt Gorbatschow das afghanische Völkerfreundschaftsmodell, dessen Hilferuf Moskau 1979 nachgekommen ist, als gescheitert ein. Von der inneren Entwicklung in Afghanistan selbst, für die sich die UdSSR mit ihrem Einmarsch einmal für mitzuständig erklärt hat, will er den gewünschten Rückzug aus Kabul nicht mehr abhängig machen.
Während der Jubiläumsfeierlichkeiten zur Oktoberrevolution 1987 wurde dem Führer der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, Nadschibullah, offiziell mitgeteilt: "Es ist an der Zeit, daß sich die Revolution dort nun allein verteidigt" - egal, ob sich diese Partei und ihr Versöhnungsprogramrn für alle Bewohner Afghanistans an der Macht behaupten kann.
Unter die vielen Fehler, die durch Breschnew den Fortschritt der Sowjetunion behindert haben, zählt heute auch die militärische Verstrickung in Afghanistan, die "wir mit annähernd 10.000 Toten hart genug bezahlt haben". Diese Kalkulation zeigt, daß die Einmischung in Afghanistan einer neuen Betrachtung von Aufwand und Ertrag unterzogen wird. So kommt sogar die Frage auf, ob es sich überhaupt um einen "gerechten Krieg" im Sinne der "Leninschen Prinzipien" handelt. Auf diese Gerechtigkeitsfrage, an der sich die sowjetische Öffentlichkeit neuerdings lebhaft beteiligt, gibt es durchaus unterschiedliche Antworten. Kriegsveteranen des "Großen Vaterländischen Krieges" gegen das faschistische Deutschland beschweren sich darüber, daß Afghanistan-Rückkehrer dieselben sozialen Rechte und Vergünstigungen erhalten wie sie selbst, während Mütter gefallener "Helden" sich beklagen, daß der Tod ihrer Söhne nicht namentlich und offiziell gewürdigt wird.
Dabei wird das Programm der Völkerfreundschaft für die Rechtfertigung ihres Engagements in Afghanistan durchaus aufrechterhalten. Gorbatschow:
"Wahrscheinlich ist nicht allgemein bekannt, daß Afghanistan das erste Land war, mit dem die Sowjetunion diplomatische Beziehungen aufgenommen hat. Wir waren diesem Land und seinen Königen und Stammesführern immer freundschaftlich verbunden. Sicherlich hat Afghanistan aufgrund seiner extremen Rückständigkeit, die in der Hauptsache noch aus den Zeiten der britischen Herrschaft herrührt, viele Probleme. Es war deshalb nur natürlich, daß viele Afghanen ihrem Volk helfen wollten, sich von seinen mittelalterlichen Verhaltensmustern zu befreien, Staat und öffentliche Institutionen zu modernisieren und den Fortschritt zu beschleunigen. Aber kaum konnten erste fortschrittliche Veränderungen verzeichnet werden, da begannen auch schon imperialistische Kreise von außen Druck auf Afghanistan auszuüben. Die Führer des Landes baten deshalb in Übereinstimmung mit dem sowjetisch-afghanischen Abkommen die Sowjetunion um Hilfe. Sie haben sich elfmal an uns gewandt, ehe wir bereit waren, ein begrenztes Truppenkontingent in dieses Land zu entsenden." (Perestrojka, S. 228 f.)
Imperialistisch gestrickte Gemüter kann die Sorge um eine Verbesserung der sozialen Verhältnisse als Interventionsgrund natürlich nicht überzeugen. Die unvergleichlich häufigeren Fälle, in denen sich der Westen in der Welt zum Eingreifen genötigt sieht, kommen ganz ohne diese "vorgeschobene" Begründung aus. Ein wenig anders bei der Sowjetunion. Ihr war es jedenfalls recht, daß die freundschaftlichen Beziehungen, die sie schon mit den Garanten der "rückständigen Verhältnisse" in Afghanistan gepflegt hatte, durch eine Partei, die sich Bodenrefonm, Bildung und die Einrichtung eines Gesundheitswesens zum volksfreundlichek Programm gemacht hatte, vertieft wurden. Insofern war die Sache mit dem "Hilferuf" der afghanischen Regierung nicht bloß ein Vorwand, wie westliche Betrachter es gleich entlarvt haben wollen, weil sie es gar nicht anders kennen - siehe die 100.000 Dollar Belohnung, die eine Karibikinselpräsidentin für ihren "Hilferuf" an die USA wegen Grenada einstreichen durfte.
Das Fortschrittsprogramm der Regierung in Kabul haben die Mudschahedin im Auftrag-des Westens unmöglich gemacht. Zu ihrem Befreiungsprogramm gehörte deshalb auch die Ermordung von Ärzten und Lehrern des Regimes. Die kommunistische Partei Afghanistans hat sich darüber zu dem gut revisionistischen Standpunkt durchgerungen, daß ihre "sozialen Experimente" nicht auf der Tagesordnug des Fortschritts in Afghanistan standen und deswegen besser nicht weiter betrieben werden sollen. Das ist ihr vom großen Freund nicht übelgekommen worden. Die Sowjetunion hat den neuen Kurs der "nationalen Versöhnung" mit allen politischen Kräften im Land - und das sind nun einmal, von den Großgrundbesitzern, Stammeshäuptlingen, Mullahs bis zu den Mudschahedin, nur Vertreter der "feudalen Verhältnisse", aus denen das afghanische Volk einmal herausgeführt werden sollte - nach Kräften unterstützt.
"Die Sowjetunion wird sich nicht einmischen, wenn unsere afghanischen Genossen Partner für die Verwirklichung des nationalen Versöhnungsprogramms suchen: sei es in ihrem Land, sei es bei den Flüchtlingen und Emigranten außerhalb, oder sei es in Ihrem Land, in Italien." (Gorbatschow in einem Interview mit der italienischen KP-Zeitung "l'Unita", 4.6.)
Unter der italienischen Sonne verbringt nämlich der abgehalfterte König von Afghanistan seinen Lebensabend. Daß dieses Angebot nichts fruchtet, das auch die Mudschahedin zur Regierungsmitarbeit in Kabul auffordert, liegt an diesen. Ihren Erfolg, den sie sich mit westlichen Waffen ausrechnen, wollen sie anders als die kommunistische Partei nicht mit Zahir Schah teilen und mit den Kommunisten schon gleich nicht.
Lediglich ein Stückchen Vorbildlichkeit mag die Sowjetunion dieser Sorte nationaler "Versöhnung" noch abgewinnen:
"Es geht ja nicht darum, Afghanistan der Sowjetunion einzuverleiben, sondern es zu einem Exempel für die Vereinbarkeit von Sozialismus und Islam zu machen, das auf den islamischen Raum ausstrahlen kann" (Ein DDR-Diplomat in der Süddeutschen Zeitung, 27.11.)
Der Verzicht auf die allgemeine Umgestaltung des Landes zugunsten eines Arrangements aller "nationalen Kräfte" im Land hat freilich das schöne Ergebnis, daß es die afghanische Bevölkerung jetzt nur noch mit den Wechselfällen des militärischen Kräfteverhältnisses, der politischen Entscheidung ihrer Clan-Führer für oder gegen Kabul und mit den um so entschiedeneren Kampferfolgen der Mudschahdin zu tun bekommt.
Ein Fall sowjetischer Sicherheitsinteressen
Wer im Land neben und mit der eigenen Bruderpartei die Herrschaft innehat, ist der KPdSU längst ziemlich gleichgültig geworden. Und daß Afghanistan noch nicht "reif" für zivilisatorische Fortschritte ist, hat ihr längst eingeleuchtet, wenn sie jetzt nur auf eines Wert legt: Sie will die alten diplomatischen Beziehungen, die der UdSSR an dieser Stelle eine "friedliche" und keine NATO-Grenze sichern, noch gewahrt sehen. Das ist auch mit einem Land zu haben, das sonst keiner Vorstellung vom unvermeidlichen Fortschritt aller Völker hin zum Endsieg des Sozialismus mehr entspricht.
Dieser Wunsch nach einem
"wie früher unabhängigen, souveränen und blockfreien Afghanistan" (Gorbatschow)
erweckt bei der angesprochenen Gegenseite allerdings keine Gegenliebe. Die USA, die in Nicaragua ihr nationales Territorium in Gefahr sehen, und die übrigen NATO-Staaten, die jeden Aufrüstungsschritt im Namen der nationalen Sicherheit für ehrenwert und dringend geboten befinden und ins Werk setzen, können nicht das geringste Verständnis für ein von der UdSSR ins Spiel gebrachtes Sicherheitsproblem aufbringen. Sie erkennen in dem Wunsch, Afghanistan wenigstens nicht auch noch zu einem Teil der westlichen Frontlinie gegen die Sowjetunion werden zu lassen, die Chance, der Sowjetunion strategische Probleme zu bereiten. Sie haben großes Interesse an dieser "blutenden Wunde"; und die sowjetischen Friedensangebote -
"Es stimmt nicht, daß die Sowjetunion nur eine politische Lösung des afghanischen Problems hinnehmen werde, die Afghanistan in ihrem Einflußbereich lasse." (Gorbatschow nach Süddeutsche Zeitung, 21.5.) -
machen den Westen nur noch begehrlicher. So sieht sich Gorbatschow doch wieder auf die Gründe zurückgeworfen, die seinen ungeliebten Vorgänger Breschnew zur Intervention veranlaßt haben.
Der damalige Beschluß zur "brüderlichen Hilfe" hatte ja nicht in erster Linie der Schlichtung eines politischen Streits in der befreundeten Partei Afghanistans und den befürchteten innenpolitischen Folgen gegolten. Er war eine Reaktion auf eine weltpolitische Lageveränderung, mit der der Westen den Ostblock damals konfrontiert hat. Die vorhandene geschlossene Kampffront der NATO von Norwegen über die BRD bis zur Türkei wurde mit dem Nachrüstungsbeschluß zu einer eigenständigen zweiten militärischen Bedrohung der UdSSR aufgewertet. Gleichzeitig entdeckten die USA ihren Nachholbedarf im Nahen Osten, und Carter hatte sein "Iran-Abenteuer" damals erst eingeleitet.
Das und noch einiges mehr mußte den Russen ja auffallen, da es auch so gemeint war:
"(Ich denke dabei) an den Beschluß der NATO, während der nächsten 15 Jahre die Rüstungsetats jährlich zu erhöhen, an die Entscheidung des US-Präsidenten für einen 'Fünf-Jahres-Plan', der weitere militärische Programme und Rüstungsausgaben in nie dagewesener Höhe vorsieht, und an den höchst gefährlichen Nachrüstungsbeschluß der NATO, neue amerikanische Mittelstreckenraketen zu bauen und in Europa zu stationieren.
Außerdem haben die USA noch vor den Ereignissen in Afghanistan die Verhandlungen zur Rüstungsbegrenzung praktisch zum Stillstand gebracht. Die Ratifizierung des SALT-II-Abkommens war bereits im September/Oktober 1979 äußerst ungewiß. Darüber hinaus geschah die überstürzte Annäherung an China auf eindeutig antisowjetischer Basis, und hinzu kam, daß die USA Ende 1979 einen ganzen Schwarm von Kriegsschiffen samt Flugzeugen und Nuklearwaffen in den Persischen Golf entsandten. Wir konnten nicht recht glauben, daß das nur der Befreiung der Geiseln in Teheran dienen sollte und nicht Teil eines generellen Kurswechsels der amerikanischen Außenpolitik und ihrer militärischen Positionen war.
Deshalb ging man in Moskau bereits Mitte Dezember 1979 davon aus, daß die Vereinigten Staaten einen scharfen Kurswechsel eingeleitet hatten." (G. Arbatow, Der sowjetische Standpunkt, 1986)
Was der Sowjetunion dagegen als gerechte Vereidigung ihres Einflusses, den sie in Afghanistan hatte, erschien, wurde auf westlicher Seite zur nachträglichen Rechtfertigung des von Arbatow bemerkten "Kurswechsels". Weder ihr Wunsch nach einer sicheren Grenze zu Afghanistan, noch die immer bescheideneren Versuche, im Land wieder Ruhe herzustellen, wurden geduldet. Im Zuge der militärischen Aufrüstung des Nahen Ostens und Pakistans und mit dem auf Zerstörung gerichteten "Freiheitskampf" der Mudschahedin wurde an Afghanistan die Politik der Einschränkung des sowjetischen Einflusses vorangetrieben. Es wurde zum nicht länger hinnehmbaren Versäumnis erklärt, nicht immer und überall gegen sowjetische Engagements außerhalb des Ostblocks vorgegangen zu sein. Im Zuge dieser Offensive wurden noch einige weitere "Krisenherde" entdeckt und verschärfter Behandlung zugeführt, obwohl weder in Nicaragua noch in Angola sowjetische Truppen einmarschiert waren.
Regionaler Krisenherd
Mittlerweile geht der Krieg in Afghanistain ins neunte Jahr. Wenn Gorbatschow heute seine Absicht, sich aus Afghanistan zurückzuzichen, an den Verhandlungstisch naich Washington mitbringt, dann nicht, weil am Khaiber-Paß nach der einen oder anderen Seite eine Kriegsentscheidung gefallen wäre.
Er betrachtet vielmehr die Unterschrift Reagans unter den gemeinsamen INF-Abrüstungsvertrag als Auftakt zu einer neuen Weltlage, die mit dem damaligen "Kurswechsel der amerikanischen Außenpolitik", der der SU den Einmarsch nach Kabul hat geraten sein lassen, Schluß macht. An dieser Sicht des Vertrags als eines ersten wirklichen Entspannungsschritts hin zu einer weltfriedlichen Koexistenz, dem weitere folgen sollten, machen ihn auch die täglichen Verlautbarungen eines Reagan nicht irre, der die Null-Lösung als eine Begleitmaßnahme zur weiterhin angestrebten Kriegsüberlegenheit durch SDI bezeichnet. Auch Afghanistan kann sich Gorbatschow als Gegenstand des Entspannungsprozesses vorstellen, bei dem eine Verzichtsleistung der UdSSR den Friedenswillen der anderen Weltmacht anstacheln soll; auch wenn Reagan die Verhandlungspunkte "Menschenrechte" und "regionale Krisenherde" nur als Belege anführt, daß das innen- und außenpolitische Treiben der UdSSR grundsätzlich Unrecht ist; und auch wenn die USA ihr Lösungsmodell für selbst geschaffene weltpolitische "Krisen" in Nicaragua und im Golf unbekümmert vorantreiben.
Mit dieser vorbildlichen Gesinnung einer Weltfriedensmacht will die Sowjetunion ihren Gegner als Verhandlungs- und Vertragspartner für alle weltpolitischen Angelegenheiten gewinnen. Dementsprechend bescheiden - gemessen am Willen der USA, mit dem Ruin Afghanistans die dortige Niederlage der UdSSR vollkommen werden zu lassen - fällt die Bedingung für einen Abzug aus Afghanistan aus:
"Wir werden innerhalb dieses einen Jahres unsere Truppen abziehen, wenn die USA ihre Hilfe an die Widerstandskämpfer für ein Jahr beschränken" (Jewgeni Primakow, SZ, 7.12.).
Mehr als ein zeitlich beschränktes Stillhalten wird von diesem Vordenker der außenpolitischen Perestrojka schon gar nicht mehr gefordert.
Von einer solchen amerikanischen Vorleistung will man in Washington nichts wissen:
"Robert Byrd, Führer der Demokraten, sieht... Schwierigkeiten für die Ratifizierung des am Dienstag in Washington zur Unterschrift vorliegenden Mittelstreckenwaffen-Vertrages voraus, wenn die Sowjetunion ihre Truppen nicht in absehbarer Zeit abziehe..." (SZ, 7. 12.)
Ohne die erpresserische Note dieses Antrags anzuerkennen, sieht die sowjetische Führung die gleiche Verknüpfung zwischen Abrüstung und ihrem Einfluß in den paar Ländern, die ihr als Krisen, die den Weltfrieden stören, vorgehalten werden. Das Schicksal ihrer "Brudervölker" ist ihr als Verhandlungsmasse für das oberste Ziel eines Rüstungsarrangements mit den USA geläufig. Wenn darüber in Afghanistan alles andere als die angestrebten "friedlichen Verhältnisse" einkehren, dann ist das ein Opfer, das die Sowjetunion der Stabilisierung ihrer Beziehungen zu den USA bringt.
Der "Weltfrieden", um den sich die UdSSR so beispielgebend verdient machen möchte, ist eben nichts als das matte Ideal einer Weltlage, in der die eine Seite auf die endgültige Abdankung der Sowjetunion als Weltmacht hinarbeitet. Das ist der anderen Seite jeden Versuch wert, den USA doch noch eine bessere Einsicht aufzunötigen. In diesem Weltfrieden findet die Sowjetunion keinen Platz mehr für soziale Experimente in der "Dritten Welt". Für diesen gemütlichen Zustand sind Afghanistan und andere Staaten, die das westliche Urteil zu spüren bekommen, für unbotmäßig zu gelten, überflüssige und unnötig militärische und politische Kosten verursachende Reibungspunkte. Wenn die beseitigt würden, bräuchte das Scheitern aller politischen Kalkulationen, deretwegen sowjetische Truppen nach Kabul gegangen sind, dann auch keine Niederlage der UdSSR zu sein.
Eine Versöhnung, auf die es nicht ankommt
So mag sich die Demokratische Volkspartei Afghanistans schon fallengelassen fühlen, die Instanz, der jetzt die ehrenvolle Aufgabe zugedacht ist, möglichst ohne die Machtgarantie der Roten Armee die "nationale Versöhnung" zustandezubringen, die der SU wenigstens eine blockfreie Grenze im Süden garantiert. Was an ihr liegt, hat sie alles für die auf der Basis von Islam und feudalen Verhältnissen beruhende nationale Einigung getan. Der Islam ist wieder die anerkannte Staatsreligion; und an irgendwelchen Vorhaben, an den sozialen Verhältnissen im Land Entscheidendes zu ändern, soll die Einigung aller Bürger Afghanistans künftig nicht scheitern.
"Man darf hintorische Entwicklungsstufen nicht überspringen; die Revolution" im rückständigen Gebirgsland am Hindukusch "ist eine nationaldemokratische, keineswegs eine proletarisch-sozialistische Umgestaltung, und Volkseinheit ist wichtiger als revolutionärer Purismus." (Nadschibullah in der SZ, 24.11.)
Wegen ihres nationalen Purismus hat die Partei die letzten Anhänger des Ex-Präsidenten Karmal aus ihren Ämtern gesäubert, das "demokratisch" aus dem Staatstitel herausgestrichen, auf die verfassungsmäßige Festschreibung ihrer "führenden Rolle" im Staate verzichtet, einseitig ein Waffenstillstandsabkommen verkündet und eine Amnestie für gefangengenommene Mudschahedin beschlossen und durchgeführt.
Neben der Partei hat sie die Loya Jirgha, die Stammesversammlung aller Clanführer zum politischen Entscheidungsorgan im Land erklärt. Die dort beschlossene Mehrparteienregierung soll auch den Führern der von Pakistan aus operierenden "Freiheitskämpfer" offenstehen. Sie werden ermuntert, "eine konstruktive Haltung zur Politik der nationalen Versöhnung einzunehmen", und es wird ihnen das Angebot eines "gewissen Maßes an Autonomie" in den von ihnen eroberten Gebieten gemacht.
Das wäre für sich noch nicht einmal eine besondere Verzichtsleistung der Partei, in einem Land, in dem die Regierungsgewalt traditionell nie weit über die wenigen größeren Städte hinausgereicht hat - wenn es nur darum ginge, alle Leute in Afghanistan wieder mit den alten Herrschaftsverhältnissen zu beglücken. Wenn es den vom Westen zu einem weit über Afghanistan hinausreichenden und auf mehr als auf die inneren Verhältnisse im Land berechneten Krieg nicht gegeben hätte, müßte die Partei bei ihrem Vorhaben nicht verzweifeln. Selbst jetzt kann sie Erfolge vorweisen. Warum sollten sich nicht Großgrundbesitzer und Stammesfürsten durch Überzeugung oder per Bestechung zu dem guten Werk der Rückkehr zu den alten Verhältnissen bekehren lassen; und warum sollten Mullahs das Angebot einer extra islamischen Regierungspartei, das ihnen von Nadschibullah unterbreitet wird, einfach ausschlagen? Zumal, wenn dieser nationale Führer die Kraft für sein revolutionäres Tun selbst vor allem aus Allah schöpfen will.
Nur ist diese Rückkehr zu den Verhältnissen, von denen die kommunistische Partei einstmals ihr Volk befreien wollte, heute nicht mehr zu haben. Da hat das Treiben der Mudschahedin umstürzlerischer gewirkt als alle auch mit Waffen unternommenen Bekehrungsversuche, mit denen die Partei Befriedung und Versöhnung durchsetzen wollte - von den alten Lebensverhältnisse ist da nichts übriggeblieben. Und außerdem stehen die USA dafür ein, daß in diesem Land nichts mehr so wiid, wie es einmal war. Den afghanischen Genossen wird von Moskau bedeutet, daß die nationale Versöhnung jetzt nur noch ein Hauptziel hat:
"Die Generationen des afghanischen Volkes werden sich stets an die Heldentaten der internationalistischen sowjetischen Truppen erinnern, die ihr Leben für den Schutz unserer Heime und unseres Lebens eingesetzt haben. Jetzt ist es eine heilige internationalistische Verpflichtung und nationale patriotische Aufgabe der Afghanen selbst, durch konkrete Aktionen im Zeichen der nationalen Wiederversöhnung einen Abzug der sowjetischen Truppen zu beschleunigen." (Nadschibullah, FAZ, 1.12.)
Sehr nett, wie sich da die Demokratische Volkspartei Afghanistans als Herr im Hause aufspielt. In Wirklichkeit ist sie weniger denn je das maßgebliche politische Subjekt im Lande, seitdem die USA dort die Vnerträglichkeit unpassender Zustände und falschen Herrschaftspersonals entdeckt haben und seitdem die UdSSR zugunsten höherer Prinzipien auf eine Fortdauer der Völkerfreundschaft keinen besonderen Wert mehr legt. So können die Krokodilstränen über ein unschuldig gemeucheltes Volk weiterhin geheult werden.