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Dieser Artikel ist in der MSZ 9-1987 erschienen.

Systematik

Henry A. Kissinger
UNSER GRÖSSTER AMI

Richard Nixons einstiger Berater und Außenminister soll fränkischer Doktor werden. Die Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen hat beschlossen, ihm den Dr. phil. h.c. zu schenken. Sie hat dafür einen sehr guten Grund: Kissinger stammt aus Fürth, und das liegt nebenan.

Allerdings dürfte dieses geographische Argument kaum die halbe Wahrheit sein. Wenn eine philosophische Fakultät in Westdeutschland sich dadurch ehrt, daß sie einen prominenten Staatsmann der imperialistischen Führungsmacht zu ihrem geistigen Kind erklärt, dann wird sie schon auch eine Geistesverwandtschaft entdeckt haben.

In der laudatio des Professors Ruffmann erfährt man dazu:

"Letztlich zeichnet Kissinger ein 'humanistisches Geschichtsbild' von den Bedingungen und Möglichkeiten menschlichen Handelns in der Welt und zieht daraus systematisch-theoretische Konsequenzen in ordnungspolitischer Absicht: die Begründung einer globalen Friedensordnung, die in einem neugewonnenen Gleichgewichtssystem Sicherheit und Stabilität auf lange Sicht zu gewährleisten verspricht."

Irgendwie muß dem deutschen Gelehrtenstand Henry Kissingers Lebenswerk also schon schwer einleuchten als authentische Interpretation der gängigen deutschen Ideologie von 'Humanismus', 'Frieden' etc. Und irgendwie liegt die nationale Geisteswelt damit zweifellos richtig.

Henry, der Kriegswissenschaftler

Für seine spätere Karriere im Weißen Haus empfahl sich der junge Harvard-Dozent schon Mitte der 50er Jahre mit strategischen Überlegungen:

"Atomic weapons and foreign policy" (1967, dt. 1959: "Kernwaffen und auswärtige Politik").

Darin behandelte er - gerade umgekehrt wie später die deutsche Friedensbewegung - das sogenannte "atomare Patt": Nachdem die Sowjetunion das Atommonopol der Hiroshima-Sieger gebrochen hatte, war den USA die Freiheit zum risikolosen und kalkulierbaren Atomkrieg arg beschnitten. Während die Friedensbewegung aber aus dem Patt auf die "Sinnlosigkeit des Atomkriegs", den "Wahnsinn" weiteren Rüstens schloß und sich Hoffnungen machte, davon auch die einheimischen Strategen zu überzeugen, brachte Henry erst einmal unmißverständlich eines zu Papier: Scheiße!

"Angesichts der Tatsache, daß beide Seiten imstande sind, sich vernichtende Schläge zuzufügen sieht es so aus, als ob der Krieg keine vernünftige Handlungsweise mehr darstellt." (AT, 72)

Daß das nur so aussieht, ist Beweisziel des Buches. Überflüssig zu erwähnen, daß Henry meint: vernünftig für Staaten. Denn für deren Bürger war auch der alte, konventionelle Krieg nicht gerade eine vernünftige Handlungsweise; sie konnten, wenn sie nicht gerade dabei starben, selbst im Fall des Sieges sich nichts erwarten als einen Machtzuwachs der Obrigkeit, die sie in diesen Krieg verwickelt und befohlen hatte. Aber was geht so etwas den Historiker mit dem "erotischen Verhältnis zur Macht" an. Der deutsche Jude, der einst vor einem Kriegsprogramm, bei dem man ihn und die Seinen nicht haben wollte, fliehen mußte, war voller Sorge darum, daß Krieg für die Wahlheimat USA weiterhin die stets offenstehende Option bleiben konnte, die sie bis 1950 eindeutig war. Ohne jederzeitige Fähigkeit zum Krieg würde die pax americana, die immerhin der (fast) konkurrenzlose Sieg im letzten Weltkrieg gestiftet hatte, nichts wert sein. Ohne dauernde Kriegsdrohung würde nicht nur der Mitsieger mit dem anderen Gesellschaftssystem seine eigene Weltpolitik machen, auch die Verbündeten und abhängig gemachten kleineren Nationen würden Alternativen zur Unterordnung unter das Weltwirtschaftssystem des Dollars entdecken. Ein Frieden der Bescheidung, der Verzicht auf Benutzung oder Androhung von Waffengebrauch bedeutet hätte, kam für die USA nicht in Frage.

Die Alternative des "atomaren Patt": Verzicht auf militärische Gewalt oder wechselseitige Vernichtung der Nationen, so der findige junge Kissinger, mußte also falsch sein:

"In den sechziger Jahren galt in den Vereinigten Staaten die strategische Doktrin mit der bescheidenen Bezeichnung 'gesicherte Vernichtung'. ... Die nach dieser Doktrin entwickelten Zielpläne ließen dem Präsidenten in einer Krise keine anderen Alternativen als die Massenvernichtung oder die Kapitulation." (Aufs., 162)

"Außerdem hinderte eine Doktrin, die kein Zwischenstadium zwischen totalem Krieg und totalem Frieden kennt, uns daran, Klarheit darüber zu gewinnen, welchen strategischen Veränderungen wir uns mit Gewalt widersetzen müssen. Da wir davon ausgingen, daß jeder künftige Krieg unvermeidlich ein totaler sein würde, neigten wir tatsächlich bei jedem Anwachsen der Furchtbarkeit unserer Waffentechnik dazu, die Provokation, die uns zum Krieg veranlassen würde, immer extremer zu definieren." (AT, 26)

Daß Krieg so riskant für die Existenz der Nation wird, daß immer weniger Ziele eines Krieges wert erscheinen, ist eine tödliche Schwäche für die Friedensmacht des Westens und darf im Interesse ihrer weltweiten Sicherheit nie geschehen; die Seite, die zwischen der militärischen Sinnlosigkeit des totalen Krieges und der Kapitulation zu wählen hatte, sollte die andere sein. Die Lösung hieß: Begrenzter Krieg und begrenzter Atomkrieg, oder auf NATO-deutsch: von der 'massive retaliation' zur 'flexible response'.

Henry, der Kriegsberater

1968 schlug für Kissinger die große Stunde: Er wurde Sicherheitsberater der Nixon-Regierung und bekam gleich Gelegenheit, seine Lehre vom nützlichen begrenzten Krieg in der Praxis auszuprobieren. Leider war die Lage, die er vorfand, schon reichlich verfahren, weil Nixons Vorgänger sich nicht richtig an Henrys Doktrin gehalten hatten:

"Die Regierungen der Präsidenten Kennedy und Johnson... haben uns in Indochina gebunden, um eine weltweite Verschwörung zu zerschlagen, und es dann versäumt, eine militärische Lösung zu erzwingen, weil sie fürchteten, damit einen neuen Weltkrieg auszulösen - eine Befürchtung, die wahrscheinlich ebenso übertrieben war wie die ursprüngliche Beurteilung der Lage." (II, 100)

Er hätte die strategische Überlegenheit der USA ganz anders ausgereizt; jetzt lohnte sich das nicht mehr. Denn inzwischen hatten die USA die Gefahr einer antiimperialistischen Weltverschwörung, die der kluge Henry im Nachhinein als so geringfügig durchschaute, praktisch beseitigt. Mit ihrer Massenschlächterei in Vietnam hatten sie Richtlinien dafür aufgestellt, wie die Liquidierung der alten Kolonialreiche auf alle Fälle nicht zu verlaufen hatte: Anschluß ans "sozialistische Lager" wurde mit Verwüstung des Landes bestraft. Diese Klarstellung hatte ihre Wirkung getan; außerdem war der "Ostblock" gar keiner mehr, sondern in die sowjetische und die chinesische Abteilung gespalten. Insoweit hatte der Vietnamkrieg sein Ziel erreicht. Kissinger fand es - im Auftrag seines Präsidenten - an der Zeit, ihn zu liquidieren. Allerdings so, daß die weltpolitische Lehre uneingeschränkt in Kraft blieb:

"Der Rückzug mußte -als politischer Entschluß und nicht als Zusammenbruch dargestellt werden. Für die Vereinigten Staaten war dies um so wichtiger, als von ihnen die Stabilität so vieler Länder abhing." (I, 385)

Der Beweis, daß auf die westliche Vernichtungsdrohung gegen erfolgreiche kommunistische Umtriebe in den neuentstehenden "Drittstaaten" absoluter Verlaß war, war den USA noch einige weitere Jahre Vietnamkrieg und einige Steigerungen der Kriegführung wert. Die Aufnahme von Friedensverhandlungen zwischen der amerikanischen und der nordvietnamesischen Regierung war das Todesurteil über ein paar Tausend weitere Eingeborene:

"Wir waren bereit, unsere Truppen abzuziehen... Wir weigerten uns jedoch, die von Hanoi praktisch geforderte bedingungslose Kapitulation hinzunehmen, die Opfer des amerikanischen Volkes dadurch lächerlich zu machen, daß wir uns an der Einsetzung eines kommunistischen Regimes beteiligten, diejenigen zu verraten, die auf die Zusicherungen unserer Vorgänger vertraut hatten, und damit das Vertrauen der übrigen Welt zu Amerika zu erschüttern." (II, 101)

Als Argumente der Vertrauenswerbung fielen Bomben - bekanntlich mehr als im gesamten 2. Weltkrieg -; und zwar stets und prompt auf Kissingers Bestellung, ja nach dem Fortgang seiner Verhandlungen mit Le Duc Tho in Genf, bis zur letzten Stunde:

"Man hat die Bombenangriffe in den Weihnachtstagen (1971) als eine Orgie massiver Vernichtung bezeichnet und behauptet, diese Maßnahmen seien sinnlos und böswillig gewesen. Das ist ein Märchen. Aus meiner Darstellung der Verhandlungen Ende Dezember geht klar hervor, daß Hanoi praktisch die strategische Entscheidung getroffen hatte, den Krieg zu verlängern, die Verhandlungen zu blockieren und im letzten Augenblick noch einmal zu versuchen, den totalen Sieg zu erreichen. Nixon und ich entschlossen uns nur mit dem größten Widerwillen dazu, den Einsatz militärischer Mittel einzuplanen." (I, 1821)

"Am 26. Dezember - an diesem Tag hatten unsere B-52 einen der schwersten Angriffe geführt - hörten wir direkt aus Hanoi: Die Nordvietamesen lehnten die 'ultimative Sprache' unserer letzten Note ab - gingen aber auf unsere Bedingungen ein." (I, 1836)

Die Bombardements waren also nicht sinnlos und deshalb auch nicht böswillig. Das war dann der Friede. Henry bekam den halben Friedensnobelpreis und wußte gleich, warum die Auszeichnung ihm viel mehr zustand als seinem in die Steinzeit zurückgebombten Gegner:

"Mäßigung ist schließlich nur bei denen eine Tugend, von denen man annehmen darf, daß sie eine Alternative haben". (II, 359)

Amerika hatte Alternativen; deswegen bestand auch die "Mäßigung" im abschließenden Großeinsatz von B-52, dessen Folgen die Republik Vietnam bis heute nicht überwunden hat.

Henry, der Entspannungsfachmann

Bei seinem Einsatz für einen formvollendet zweckmäßigen begrenzten Krieg hat Kissinger einen anderen, noch wichtigeren Programmpunkt von 1957 nicht aus dem Auge verloren:

"...wird es Aufgabe der Diplomatie sein, dem Sowjetblock - wenigstens bis zu einem gewissen Grade - verständlich zu machen, was wir unter einem begrenzten Krieg verstehen." (AT, 146)

Der Vietnamkrieg bot den USA die Gelegenheit zu der Klarstellung, daß sie die Freiheit zum Kriegführen exklusiv für sich beanspruchen. Kissingers Diplomatie bestand darin, der Sowjetunion diesen Anspruch als Angebot zu unterbreiten. Das lautete so: Wenn die UdSSR sich aus dem Vietnamkrieg heraushält oder wenigstens nicht ihr Engagement - wie die Amerikaner - dauernd verstärkt, dann ist dieser Krieg nicht gegen sie gerichtet. Wenn sie sich als Garantiemacht internationaler Abkommen (die Sowjetunion gehörte zu den Signatarstaaten des Genfer Abkommens von 1954, dessen Bestimmungen über gesamtvietnamesische Wahlen vom US-Verbündeten Südvietnam nicht eingehalten wurden) und damit als Großmacht demontieren läßt, die ihre Verbündeten nicht schützen kann, dann wird ihr - ein fürwahr seltsamer Tausch - seitens der USA offiziell Anerkennung als zweite Supermacht und die Vertagung des (kalten) Kriegszustands zugesichert.

"Unsere Strategie bestand darin, einen Keil zwischen Moskau und Hanoi zu treiben, um für die Beendigung des Krieges in Vietnam freie Hand zu bekommen. Deshalb war es uns ganz recht, einen zusätzlichen Köder auslegen zu können, der es den Sowjets günstig erscheinen lassen würde, sich nicht gegen uns zu wenden, wenn wir Hanoi vermehrt unter Druck setzten."

"...daß die Sowjets nichts unternehmen, wenn wir Hanois Offensive das Rückgrat brachen." (II, 328/329)

Die Ironie dieses Handels - Verzicht der Sowjetunion auf weltpolitische Betätigung als Supermacht gegen ihre Anerkennung als Supermacht - hinderte die Russen nicht, darauf mehr als bereitwillig einzugehen. Ihr weltpolitisches Ziel glich so wenig den Weltherrschaftsansprüchen der USA, daß sie gar nicht daran dachten, durch ein Ultimatum oder sonstigen Einsatz ihres ganzen Gewichts den US-Krieg in Indochina zu stoppen. Vielmehr wollten sie durch ihre bewiesene Kooperationsbereitschaft, Berechenbarkeit und Friedensliebe, auch und gerade angesichts amerikanischer Bombenteppiche in Nordvietnam, dem Imperialismus seine Unversöhnlichkeit gegen den sozialistischen Block abkaufen. Daß dies durch Nachgiebigkeit und "Zurückhaltung" gar nicht gehen kann, mußten die Russen seitdem mehrfach lernen: Einen feierlichen Verzicht auf den Einsatz von Atomwaffen gegeneinander wollte Breschnew als Preis dafür haben, daß er die Bombardierung Hanois hinnahm,

"als ob die gegen einen Verbündeten der Sowjetunion gerichteten Bombenangriffe und die Verminung seiner Häfen etwas ganz Alltägliches seien." (II, 329)

Da mußte sich sogar Henry, der Meister des begrenzten Krieges, über so viel Erfolg wundern. Zum Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen kam es konsequent von seiten des Westens nie - wohl aber zur Dauerdiskussion darüber: Die Schlächterei in Vietnam war die Geburtsstunde der west-östlichen Abrüstungsdiplomatie.

Diese hatte zu keinem Zeitpunkt auch nur die geringste Ähnlichkeit mit dem gemütlichen Verständnis des Wortsinns von Abrüstung. Niemals dachten Henry und seine Leute daran, sich auch nur eine Waffe abschwätzen zu lassen, die sie sich gegen den Verhandlungspartner und Hauptfeind beschafft hatten oder beschaffen wollten. Damit zu protzen, gehört zum Erfolgsbericht über SALT I:

"Schließlich hatten die SALT I-Vereinbarungen keinem amerikanischen (Rüstungs-)Programm Beschränkungen auferlegt, sie hatten jedoch die Sowjets gezwungen, mehrere Programme einzustellen." (II,320)

Für die sowjetischen Antiimperialisten war die Einseitigkeit des Vertrags schon wieder ein Preis dafür, von der Weltmacht Nr. I den Verzicht auf etwas zugesichert zu bekommen, was diese damals nicht wollte und sich nicht trauen konnte: die Beseitigung der Sowjetunion durch Atomkrieg. Der ABM-Vertrag, das Kernstück der damaligen Verträge, war die beiderseitige Bestätigung der tödlichen Verwundbarkeit durch die Atomraketen der anderen Seite sowie die Willenserklärung, daß es (vorläufig) auch so bleiben solle. So kam es zu der inzwischen zur Gewohnheit gewordenen diplomatischen Übung, daß die Supermächte die Atomwaffen, die sie sich ohne Unterbrechung auf Hochtouren zulegen, gleichzeitig als Hindernisse und Probleme ihres Miteinanders besprechen. So versichern sie sich, daß sie sich gegeneinander (noch) nicht auf die Benutzung dieser Waffen verlassen wollen. Die periodischen Versicherungen, daß es "im Atomkrieg keinen Sieger geben" könne und er "nicht begrenzbar" sei, enthalten diese Botschaft - und einen kleinen Unterschied: Die beiderseits anerkannte Gewißheit, im Atomkrieg zugrunde zu gehen, war für die Sowjetunion ein Erfolg, für die USA eine Niederlage ihrer Sicherheitspolitik, bei der es nie bleiben sollte.

Daß der Verzicht auf die Androhung des großen Kriegs nur dazu diente, die gegnerischen Reaktionen bei der allseitigen Aufrüstung der USA und deren kleineren Kriegen und "Interventionen" kalkulierbar zu halten, also von vornherein auf Zeit angelegt war, gesteht Henry offen ein:

"Wir mußten verhindern, daß die Sowjets strategische Möglichkeiten ausnutzten; wir mußten aber auch genügend Vertrauen zu unserem eigenen Urteil haben, um Vereinbarungen zu treffen, mit denen sich Zeit gewinnen ließ - Zeit für die dem kommunistischen System inhärente Stagnation, um es auszuhöhlen." (I, 167)

Die gesicherte längerfristige Perspektive gab dem Rüsten, gegen das auch Strategen eingewendet hatten, daß sich entscheidende Vorteile durch nur quantitative Vermehrung der Raketen nicht mehr erzielen ließen, wieder Sinn! Und nie wurde so wild aufgerüstet wie dank und unter Kissingers Entspannung - worauf er mit einigem Stolz verweist:

"Die Entspannungspolitik hat den amerikanischen Verteidigungsanstrengungen geholfen und nicht geschadet. Bevor das Wort Entspannung (detente) in Amerika überhaupt bekannt wurde, strich der Kongreß während Nixons erster Amtsperiode 40 Mrd. Dollar aus dem Verteidigungsbudget.... Nach Unterzeichnung von SALT I erhöhte sich unser Verteidigungsbudget, und die Regierungen Nixon und Ford setzten den Bau strategischer Waffen (der MX-Fernlenkrakete, des B1-Bombers, der Marschflugkörper, des U-Bootes Trident und technisch vervollkommneter Sprengköpfe) durch, die noch heute nach 10 Jahren das Rückgrat unseres Verteidigungsprogramms sind und deren Bau der Kongreß vor der Verbesserung unserer Beziehungen zu Moskau blockiert hatte." (II, 281)

"Wir hatten niemals geglaubt, daß die Verteidigungslasten als Folge der Entspannungspolitik geringer werden würden. Im Gegenteil..." (II, 1164f)

Kein Wunder, daß solche Erfolge der "Entspannungspolitik" zielstrebig zu deren Ende führten.

Henry, der geläuterte Staatsmann

Noch das Erfolgskriterium, das Kissinger rückblickend an die Entspannung anlegt, gibt Auskunft darüber, wie wenig "Entspannung" je mit Nachgiebigkeit oder gar Friedensbereitschaft auf westlicher Seite zu tun hatte. Ihm wäre das Arrangement mit den Russen nämlich nur dann als dauerhaftes recht gewesen, wenn es auf friedlichem Wege gleich das bewirkt hätte was (doch) nur durch einen Weltkrieg zu haben ist:

"Nach meiner Auffassung war SALT kein Allheilmittel. Ich sah darin die Möglichkeit, das strategische Gleichgewicht wieder herzustellen, aber auch die Voraussetzung für politische Zurückhaltung zu schaffen, ohne die meiner Ansicht nach die Eskalation von Krisen unvermeidlich war was mit SALT auch geschehen mochte." (I,705)

Gemeint war natürlich die weltpolitische Zurückhaltung der Russen - die Amis hatten Entspannung ja gerade gemacht, um sich in ihrer Welt (Vietnam) nicht zurückhalten zu müssen. Ungeachtet aller Fortschritte in der antisowjetischen Ausrichtung des Globus, die jene Jahre brachten, zog der aus dem Amt geschiedene Henry 10 Jahre später eine vernichtende Erfolgsbilanz. Die USA stoppten zwar anfangs der 70er Jahre mit dem Vietnamkrieg alle antikapitalistischen und antiwestlichen Entkolonialisierungen, bewegten durch bessere Angebote an die Machtambitionen der jeweiligen Staatsführung China und Ägypten zum Frontenwechsel und machten der Sowjetunion ihre wichtigen und großen Partner in der "Dritten Welt" abspenstig. Als völliges Versagen der Entspannungspolitik erscheint es Kissinger aber, daß die Sowjetunion überhaupt noch Verbündete außerhalb ihrer Blockgrenzen hat und unterstützt:

"Doch welches auch immer die Ursache gewesen sein mag, es ist eine Tatsache, daß die Sowjetunion nach 1975 einen beispiellosen Angriff gegen das internationale Gleichgewicht der Kräfte unternommen hat."

Und dann kommt die Aufzählung der Ungeheuerlichkeit von knapp 10 Verbündeten und Schauplätzen auf dem 165 Staaten zählenden Globus, die eigentlich alle dem Westen zu gehören haben: "Angola... Kuba... Äthiopien... Afghanistan... Südjemen... Kambodscha" (Aufs., 181)

Ja, wenn die Sowjetunion sich wg. Entspannung gleich freiwillig selbst aus der Weltpolitik ausgeschaltet hätte, wäre auch Humanist Kissinger bei dieser Taktik geblieben - so aber muß er der Reagan-"Politik der Stärke" beipflichten:

Es ging Kissinger um die Definition eines Niveaus von Krieg, zu dem sich die Nation leichter und öfter entschließen konnte, weil nicht ihre Existenz selber in die Waagschale geworfen werden mußte. Freilich, so der Denker aus Europa, konnte man damit dem Feind auch nicht die bedingungslose Kapitulation aufzwingen - er sollte ja trotz der Option einer Eskalation, die ihm offenstünde, einen begrenzten Krieg verloren geben -, sondern nur den Rückzug aus bestimmten Gebieten und das Aufgeben bestimmter Vorhaben, und zwar über die Mahnung, daß die Fortsetzung derselben ihm mehr Kosten und Nachteile verschaffen würde als die bedingte Kapitulation.

Henry verteidigte sich gut amerikanisch gegen den erwarteten Vorwurf, er empfehle eine Politik der Kriegsvermeidung und des status quo:

"Nichtsdestoweniger sollte eine strategische Lehre, die auf die Auferlegung der bedingungslosen Übergabe verzichtet, nicht mit der Hinnahme eines Patt verwechselt werden." (AT, 124)

"Erstens ist der begrenzte Krieg das einzige Mittel, um den Sowjetblock zu einem annehmbaren Preis am Überrennen der peripherischen Gebiete Eurasiens zu hindern. Zweitens kann eine lange Reihe von militärischen Möglichkeiten selbst in einem totalen Krieg (!) den Unterschied zwischen Niederlage und Sieg bedeuten. Schließlich haben begrenzte Anwendungen unserer militärischen Möglichkeiten die beste Aussicht, für uns günstige strategische Veränderungen herbeizuführen. Denn wenn auch ein Gleichgewicht entlang den heutigen Linien auf dem eurasien Kontinent aufrechterhalten werden kann, so wird es doch immer besonders empfindlich bleiben, solange die Sowjetarmeen an der Elbe stehen..." (AT, 125)

Seine strategische Anregung zielt darauf, die "Hemmungen, die wir gegen einen Gebrauch von Gewalt haben" (AT, 35), abzubauen und

"einen mittleren Gebrauch von Gewalt gebührend in Betracht zu ziehen, der im Atomzeitalter unter Umständen viel größere politische Gewinne einbringen kann, als wenn man zum totalen Krieg schreitet." (AT, 51)

An der Strategie der "massiven Vergeltung" störte ihn die - etwas übertrieben ausgemalte "weltpolitische Lähmung"; und er pries seine Alternative als das unter der Bedingung der Atomwaffen gegebene Mittel zur Veränderung der Landkarte.

Ein Problem gab es freilich noch: Wie sollte man selbst ein Niveau des Krieges wählen können und den Feind hindern, selbst das gleiche zu tun? Mußte der nicht eskalieren, um die Niederlage zu vermeiden und auf einem höheren Niveau des Krieges es noch einmal mit dem auf dem begrenzten Feld überlegenen Sieger aufzunehmen? Henry stellte den Lehrsatz auf, daß der begrenzte Krieg immer gefährlicher werde, je mehr er sich einem Sieg nähert. Als Lösung dieses kleinen Problems fiel ihm nun wieder der totale Krieg ein:

"Das Hauptproblem der Strategie der Gegenwart besteht darin, eine Vielfalt von Möglichkeiten zu ersinnen, mit denen sich sowjetischen Herausforderungen begegnen läßt. Wir müssen imstande sein, den Gegner in eine Lage zu bringen, aus der er sich nur durch den totalen Krieg herausziehen kann, während wir ihn gleichzeitig durch Überlegenheit unserer Vergeltungsfähigkeit davon abhalten, diesen Schritt zu tun. Da es für einen Staatsmann die allerschwerste Entscheidung bedeutet, ob er durch die Entfesselung eines totalen Krieges den nationalen Bestand aufs Spiel setzen soll, wird der psychologische Vorteil immer auf seiten der Macht sein, die ihrem Gegner die Entscheidung über den Beginn eines totalen Krieges zuschieben kann." (AT, 123)

Die Begrenzung des begrenzten Krieges beruht also auf der überlegenen Fähigkeit und der glaubwürdigen Bereitschaft, den unbegrenzten zu führen, jedenfalls sich ihn leichter zu trauen als der Gegner. Den Gegner kann man, so die Einsicht Kissingers, nur dadurch vom Eskalieren abhalten, daß man es selber ist, der auf jeder Stufe schneller und wirksamer eskalieren kann und eskaliert: Der begrenzte Krieg braucht den totalen Atomkrieg als letzte Eskalationsstufe genauso wie umgekehrt:

"So ist der begrenzte Krieg nicht die Alternative zur massiven Vergeltung, sondern ihre Ergänzung. Die Fähigkeit zur massiven Vergeltung ist es, welche die Sanktion gegen eine Ausbreitung des Brandherdes liefert." (AT, 123)

Kissinger kann damit das "Problem der Strategie der Gegenwart" als gelöst betrachten - nicht etwa, weil dem "totalen Krieg" sein so beredt beschworener "apokalyptischer Charakter" genommen wäre, sondern weil der Einsatz der großen Wuchtbrummen als letztes Glied einer Skala von Kampfhandlungen endlich militärischen Sinn macht!

Ohne gesicherte Siegfähigkeit ist die Weltlage für die USA gleich gefährlich. Sicherheit stiftet nur Überlegenheit:

"Dem relativen (!) Kräfteverfall muß in dramatischer Weise Einhalt geboten werden." (Aufs., 165)

Gleichgewicht kann sich die Weltordnungsmacht nicht leisten:

"Selbst die Theoretiker der Rüstungskontrolle, die der Aufrechterhaltung eines strategischen Gleichgewichts einen großen Wert beimessen, begriffen nur verschwommen, daß die von ihnen angestrebte strategische Stabilität eine strategische Revolution bedeutete. Denn sie würde, wenn sie sich erreichen ließe, die Gefahren auf Ebenen der Gewalt unterhalb der Grenze des allgemeinen Einsatzes von Kernwaffen wesentlich erhöhen. Wenn man in Krisensituationen nicht mehr fürchten mußte, sie würden zum Krieg mit dem Einsatz aller verfügbaren Mittel führen, mußte man damit rechnen, daß es um so wahrscheinlicher zu solchen Krisen kommen würde." (Aufs., 167)

In seinem kriegswissenschaftlichen Werk 1957 war genau diese Diagnose die Chance der USA zum "begrenzten Krieg" gewesen; ihre Benutzung und der Erfolg dabei macht Imperialisten aber nicht etwa zufrieden, sondern immer nur anspruchsvoller: Jetzt ist die "strategische Stabilität" gleich der Fähigkeit der USA, den Russen den begrenzten Krieg von vornherein zu verbieten. Der Frieden, der da von Kissinger ins Auge gefaßt wird, ist ohne atomare Entwaffnung der Sowjetunion nicht zu haben:

"Ich halte es daher für dringend notwendig, daß man den Sowjets ihre Kapazität für einen Gegenschlag mit strategischen Kräften nimmt oder daß die Kapazität für den Gegenschlag der Vereinigten Staaten mit strategischen Kräften rasch erhöht wird." (Aufs., 205)

Da kennt sich ein Wahl-Ami aus: Immer mehr Schlagkraft und militärische "Kapazitäten" zu fordern, damit Amerika seiner Rolle als unwidersprochener Weltpolizist gerecht werden kann, das kann in dieser "Heimat der Tapferen" nie verkehrt sein. Die Klage Henrys, die USA seien einem anständigen Krieg schon viel zu lange aus dem Weg gegangen, spricht seinem derzeitigen Präsidenten also sicher aus dem Herzen - wenngleich sich dieser darüber wundern dürfte, daß ein deutschstämmiger Professor selbst die banalsten Gewaltaufrufe im Tonfall scharfsinniger Schlußfolgerungen vorträgt:

"lrgendwo und irgendwie müssen die Vereinigten Staaten zeigen, daß sie fähig sind, einen Freund zu belohnen oder einen Gegner zu bestrafen. Es muß wieder erkennbar werden, daß Verbündete durch die Beziehungen zu uns etwas gewinnen, während unsere Feinde unter dieser Feindschaft zu leiden haben, - und es ist schon viel zu lange her, daß es so war. Vielleicht ist das eine zu simple Vorstellung, aber für eine Großmacht ist das die Voraussetzung für eine erfolgreiche Außenpolitik; es ist sogar ihre Definition." (Aufs., 250)

Mit den Russen geht nichts - mehr Mut zum Krieg!

 

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AT Atomic weapons and foreign policy, 1957, dt. Ausgabe, München 1959 (Kernwaffen und auswärtige Politik)

Aufs. Die weltpolitische Lage. Reden und Aufsätze, München 1983

I Memoiren, Bd. I, 1968-1973, München 1981

II Memoiren, Bd. II, 1973-1974, München 1982