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Dieser Artikel ist in der MSZ 9-1987 erschienen.

Systematik

Des guten Bürgers liebster Denksport:
KOPF AB - NEIN ODER LIEBER DOCH?

Leseranfrage:

"Erschien in Ihrer Zeitschrift in den letzten Jahren ein Artikel über das Thema "Wiedereinführung der Todesstrafe in der BRD" bzw. warum hier der Wunsch danach immer wieder laut wird? Über die Zusendung dieses Artikels - in welcher Form auch immer - würde ich mich freuen, evtl. auch über Literaturhinweise über dieses Thema. Für schnelle Beantwortung bedanke ich mich, ich muß ein Schulreferat halten."

*

Zu Deiner Frage: Nein. Und zwar aus gutem Grund.

1.

Du weißt fast alles über das Thema, wenn Du Dir klarmachst, warum auch Du schon wieder ein Schulreferat darüber halten mußt - statt daß man es nach Abschaffung dieser Bestrafungsart mal auf sich beruhen ließe. Oder glaubst Du, es ist Zufall, daß seit Generationen kein Mensch einen Schulabschluß kriegt, ohne daß er mal eben zwischen Schulbank und Pausenhof die Frage zu wälzen hatte: Rübe ab - ja oder nein? (Als älterer Schüler übrigens immer in der distanzierten "bzw."-Variante: Warum möchten "die Leute" das immer wieder?)

Es gibt keine plumpere, aber offenbar auch keine wirksamere Form als die Meinungsbildung über die Todesstrafe, um nachwachsende Staatsbürger mit sämtlichen Beinen auf den Standpunkt der Staatsgewalt zu stellen; einen Standpunkt, den sie in Wirklichkeit nie selbst einnehmen: Staatliche Entscheidungen haben die Bürger nur als verpflichtendes Gesetz zur Kenntnis zu nehmen - übrigens ohne daß von der Einsicht in gute Argumente etwas abhängig gemacht wird (deshalb unterbleiben die auch in der Regel) - und nicht mit klugen Schulreferaten zu belehren, geschweige denn zu beeinflussen.

Die Wirkung der Frage - und ihr Reiz für die schulische Charakterbildung - liegt in ihrer Alternative und dem, was darin als größte Selbstverständlichkeit von der Welt vorausgesetzt ist. "Soll man Menschen umlegen?" fragt sich nämlich keiner, schon gar nicnt so grundsätzlich und allgemein. Beim Staat als Urheber der Todesstrafe geht dagegen schon die Frage davon aus, daß es eine diesem Subjekt durchaus zustehende freie Entscheidung ist, ob er gewisse Leute bewußt, absichtsvoll, ohne Not, von langer Hand vorbereitet, geradezu zeremoniös zu Tode befördert oder lieber nicht. Und es ergeht mit der Frage die Aufforderung, gute Gründe dafür abzuwägen, daß Leute auf diesem Weg ausgelöscht werden - man braucht schon noch bessere, um die guten Gründe (ohne die kein Referat vollständig ist) zurückzuweisen. Egal, wie die Entscheidung ausfällt - der Standpunkt der Entscheidung, der da in Gedanken eingenommen wird, ist der einer absoluten Hoheit über das Leben von Menschen. Hoheit schließt eine im Prinzip unwiderstehliche Macht ein und geht darüber hinaus: Gemeint ist eine Macht, deren Ermessensfreiheit sich von selbst versteht. In Fragen wie: Keine Todesstrafe oder lieber doch? wird ein Problem durchdacht, das sich überhaupt nur für eine überlegene Gewalt, im Hinblick auf ihr freies Umspringen mit den Menschen stellt. Von der her soll man die Welt betrachten - also gerade nicht die souveräne Strafbefugnis selbst durchdenken, gar kritisieren.

So übt man seinen Verstand in einem Vorurteil. Am Ende steht die Meinung, Denken wäre überhaupt gleichbedeutend mit der Einfühlung in Probleme hoheitlichen Verfügens über Menschen bis zu deren Tod. Die brutale Ecke dieser Denkweise magst Du selbst entdecken. Die lustige besteht darin, daß knapp 100% der Menschheit diese Probleme praktisch ihr Lebtag gar nicht haben.

2.

Mal anders gefragt: Warum verhängen denn Staaten Strafen? Warum einige sogar die Todesstrafe? Klar, es ist die Antwort auf Verbrechen. Aber: Wessen Antwort? Was sagt sie aus? Was ist ein Verbrechen, wenn das die angemessene Antwort darauf sein soll?

Hierzu können wir Dir einige Literaturtips geben:

MSZ 4/87 Das Grundgesetz - Der Boden des Rechtsstaats

MSZ 6/86 Das Loch von Celle und der Rechtsstaat

MSZ 3/85 Die Gewalt und die "Gewaltfrage"

Strafe ist auf alle Fälle nicht die Gegenwehr eines in einem Streit materiell Geschädigten, sondern die Gewalttat eines unbeteiligten, höheren Subjekts. Diese "höchste Gewalt" will mit Strafen jeden schädigen, der sich gegen Vorschriften - vergangen hat, die sie erlassen und immer gleich mit einer Drohung gegen Verstöße ausgestattet hat. Damit ist auch schon die Definition des Verbrechens fertig: Die "Erkenntnisse", die einer Bestrafung zugrundegelegt werden, betreffen nur die Frage, ob eine Tat einen strafrechtlich umschriebenen Tatbestand erfüllt; sie hat nichts zu tun mit der Erkundigung, warum einer was getrieben hat solche Nachfragen kommen erst hinterher, um dem Strafmaß eine "menschliche" und individuelle Note zu geben.

Der Umstand, daß auch viele - wenngleich keineswegs die meisten - Handlungen kriminalisiert sind, die Mitmenschen schädigen, führt leicht zu dem politisch gewollten Mißverständnis, das staatliche Bestrafungswesen hätte den Schutz der Leute zum Ziel. Dabei sind Strafen weder geeignet noch dafür da, "Übergriffe" der Bürger gegeneinander zu verhindern - da könnte die Strafjustiz gleich Bankrott anmelden als gigantischster Fehlschlag der Geschichte; aber in Wahrheit setzen Verbote das Verbotene allemal als gesellschaftliche Gewohnheit voraus! Und Wiedergutmachung ist auch nicht ihre Sache. Ins Lot bringt die Strafe ausschließlich die Hoheit der verletzten Regel: Die erwirbt sich in der Strafe den Respekt zurück, den der Gesetzesbrecher ihr versagt hat, indem sie ihn deckelt.

Hierfür hat sich in unserem christlichen Abendland die formvollendete befristete Freiheitsberaubung eingebürgert. Dieser Inhalt von Strafe ist wörtlich zu nehmen: Dem Willen, der sich nicht von selbst ans Gesetz gehalten hat, werden durch Gewalt äußere Schranken gesetzt; er wird an der Verfolgung seiner Zwecke überhaupt gehindert, weil er sie im Konfliktfall über das Vorgeschriebene gestellt hat. Für die Strafe ist das "weil" wesentlich; ob auch ein "damit" drinsteckt - damit der Delinquent sich in Zukunft besser aufführt -, ist eine logisch und rechtlich nachgeordnete Erwägung, und zwar angesichts von Strafanstalten eine lächerlich idealistische. Viel eher liegt es in der Konsequenz des hoheitlichen Strafens, mit der Brechung des kriminellen Willens gleich vollends ernst zu machen, ihm also lebenslänglich die Freiheit zu entziehen oder ihn zu vernichten. Letzteres funktioniert, wie der Mensch nun mal gebaut ist, über die Auslöschung der Kreatur, die so verkehrt gewollt hat.

Ob eine strafende Staatsgewalt so weit gehen soll, wird in der öffentlichen Debatte häufig nach dem Maß der politischen Sympathie entschieden, auf die besagte Gewalt Anspruch machen darf. Bezüglich der DDR hält man bei uns den Verzicht auf die Todesstrafe für längst überfällig, weil unser Staat dem drübigen letztlich überhaupt keine Legitimität zugesteht. Bezüglich der USA werden wenn, dann Vorbehalte der Art geltend gemacht, daß der sensible Betrachter der Szene kein Blut sehen kann. Bezüglich der BRD erscheint die Abschaffung der Todesstrafe immer dann besonders unpassend, wenn die Staatsgewalt anläßlich eines politischen Attentats auf einem besonders nachdrücklichen Treueschwur ihrer Bürger besteht.

3.

Aus dem Strafanspruch des Staates folgt die generelle Beliebtheit strafrechtlicher Fragen bei seinen Bürgern. Und zwar nicht deswegen, weil man da in Gedanken - endlich einmal! - darf, was der Staat in der alltäglichen Praxis allen Privatpersonen verwehrt: hemmungslos Rache üben. Es ist andersherum: Das Ideal der Vergeltung erhält überhaupt bloß der Rechtsstaat mit seinem höchst unpersönlichen Bestrafungswesen lebendig, o daß Privatpersonen, die gerne Staatsgedanken denken - siehe Punkt 1. -, dieses Ideal zwar dilettantisch, aber mit Engagement in ihrer Weltsicht anwenden. Das Ergebnis heißt "Gerechtigkeitsgefühl" oder "Rechtsempfinden" und unterscheidet sich von der wirklichen Justiz nicht zuletzt dadurch, daß den Amateuren der sture Maßstab des wirklichen Strafwesens, die Hoheit der erlassenen und verletzten Gesetze wiederherzustellen, nur allzu leicht entgleitet.

Das liegt daran, daß das Publikum sich diesen abstrakten Zweck der Strafe gern durch Übersetzungen ins private Gefühlsleben verplausibilisiert. Verbrecher, die zur Bestrafung vorgesehen sind, malt man sich, unter kundiger journalistischer Anleitung, als entsetzliche Unsympathen aus, denen man nicht einmal im Hellen begegnen möchte, die aber eine besonders ausgesuchte Strafe im Zaum halten könnte. Es kommt zu der Absurdität, daß Leute nicht etwa Rache fordern an Figuren, die ihnen Schaden zugefügt haben, sondern umgekehrt per Presse oder sogar im Gerichtssaal Verbrecher besichtigen, mit denen sie gar nichts zu tun haben, denen sie aber eine Strafe von Herzen gönnen: Sie gucken bzw. gehen hin, um die menschliche Anschauung zu gewinnen, daß es denen auch recht geschieht.

Dieser populäre Gerechtigkeitswahn ist seinerseits der solide Boden für den Moralismus der Mäßigung, der Rachegedanken in eine andere Richtung vermenschlicht: um "Hilfe zur Wiedereingliederung" sollte es doch gehen und ähnlichen Unsinn - ausgerechnet dort, wo die Staatsgewalt umfängliche Vorkehrungen dafür trifft, um es ihren Missetätern ungemütlich zu machen, und ihnen durch den Strafvollzug ein künftiges bürgerliches Leben erschwert, wenn nicht gründlich verunmöglicht. Zwischen diesen beiden gegensätzlichen, jedes auf seine Art herzensguten Mißverständnissen des staatlichen Rechtsinstituts Strafe spielt sich die Debatte darüber ab, ob gewisse Verbrechen nicht doch durch Totschlagen am besten zu bereinigen wären.

Daran sollte man sich nicht beteiligen - auch nicht mit guten Gründen für "mehr Milde".

Von so interessanten Abwägungen wie "Spritze oder elektrischer Stuhl" sind die nämlich nie weit entfernt.

4.

Es gibt ja außerdem noch eine Ironie bei der Geschichte. Ein Freund des Vergeltungs- und Strafgedankens muß ein Mensch heutzutage schon sein, mit gerechtem Zorn gegen Leute, die - ihm - Unrecht tun, damit er/sie selber in die Verbrechensstatistik eingeht. Was Psychologen und Polizisten - professionelle wie Liebhaber dieses Gewerbes - "kriminelle Energie" nennen, ist gar nichts anderes als das dem Rechtswesen nachgebildete private Urteil, nach allen Regeln, die gelten sollten, also ungerechterweise zu kurz gekommen zu sein. Morde passieren schon gleich kaum noch, ohne daß Privatpersonen die Frage der Todesstrafe für gewisse eigene zwischenmenschliche Verhältnisse positiv beantwortet haben und mit ihrem beleidigten Rechtsempfinden nicht erst auf den Staat mit einer langen Leitung warten wollen.

Und weil die rechtsstaatlich garantierten gesellschaftlichen Lebensverhältnsse sowieso dauernd für zu kurz gekommene Bürger sorgen, geht der Strafjustiz todsicher der Stoff nicht aus, solange es sie gibt.

MSZ-Redaktion