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Polen
VIEL FREIHEIT STATT SOZIALISMUS
Der Papst war wieder da. Wie zu hören war, um seinem gebeutelten Vaterland zu "helfen". Geboten hat er eine sehr direkte Aufwiegelung gegen die dortige Obrigkeit. Angeblich soll es in Polen Erwartungen gegeben haben, er würde dem Land in seiner wirtschaftlichen Notlage irgendwie beistehen. Westliche Papst- und Polenkenner haben das als viel zu hochgespannte Erwartungen zurückgewiesen, man dürfe auch den Papst nicht überschätzen. Diese Richtigstellungen unterschätzen ihn allerdings. Natürlich sind die Gelder der Vatikanbank nicht dazu da, in Polen irgendwie auszuhelfen, und überhaupt mischt sich die Kirche ja nie unmittelbar in die Belange des imperialistischen Geschäftswesens ein. Aber eben deshalb, weil sie uneingeschränkt davon profitiert, wie z.B. von der ökonomischen Misere in Polen. Ohne die wäre schließlich das Bedürfnis nach antikommunistischem Sinn nicht so massenhaft, so fanatisch und so wirkungsvoll einzusetzen. Und die sachlichen Bedingungen für ein seelsorgerisch ergiebiges Jammertal sind in Polen auf absehbare Zeit hinaus garantiert.
Die Westverschuldung hat sich mittlerweile nach den dem freiheitlichen Kredit eigentümlichen Gesetzmäßigkeiten auf 35 Milliarden Dollar aufsummiert. Rein rechnerisch "müßte Polen jährlich an die 5 Milliarden Dollar zurückzahlen. Das überstergt die Wirtschaftskraft des Landes bei weitem" (Süddeutsche Zeitung 23.5) wie Wirtschaftssachverständige trocken vermerken. Die polnische Regierung ist zwar sehr darum bemüht, durch pünktliche Zahlung ihre Kreditwürdigkeit aufrechtzuerhalten bzw. wiederzugewinnen. Bei stetig wachsenden Forderungen, die mit den exportierbaren polnischen Reichtümern nie und nimmer abzugelten sind, ist das aber ein Ding der Unmöglichkeit. Bis zu einem Drittel der polnischen Devisenerlöse werden für den Schuldendienst aufgewandt, was aber nicht einmal für sämtliche anstehenden Zinszahlungen reicht, geschweige denn für fällige Tilgungsraten Auf seiten der westlichen Gläubiger besteht also jede Freiheit, mit Umschuldungen und eventuellen neuen Krediten über die polnische Zahlungsfähigkeit zu befinden.
Die polnische Regierung demgegenüber hat sich lauter ruinöse Sachzwänge eingehandelt, mit denen sie herumlaviert.
Polnisches Wirtschaften: Ein wunderschönes Dilemma nach dem anderen
So darf sie z.B. immerzu entscheiden, wofür ihre Deviseneinkünfte nicht reichen für das Erfordernis der Kreditbedienung, also für das Bemühen, vom Westen wieder als kreditwürdig eingestuft zu werden, und für die zahlreichen Importnotwendigkeiten, wie sie aufgrund der früheren Wirtschaftsbeziehungen mit dem Westen als sachliche Abhängigkeiten existieren. Sie darf auch entscheiden, wie weit sie den Bedingungen nachkommt, die IWF und Weltbank für Unterstützungskredite angesetzt haben und wieviel Ärger sie damit im Inneren riskiert.
Die imperialistischen Aufsichtsagenturen, die Polen mittlerweile gnädig aufgenommen haben, verlangen nämlich grundlegende "Wirtschaftsreformen", in erster Linie einen Abbau der Subventionen für Energie, Grundnahrungsmittel, Wohnungsbau und öffentliche Transporte. Nach allen kapitalistischen Rechnungen sind das gänzlich unvernünftige Staatsausgaben, die ja nur den Widerspruch zwischen betrieblichem Gewinninteresse und der Beschränkung der Konsumenten durch entsprechende Preise mildern wollen. Auf der anderen Seite ist das aber eben eine prekäre Angelegenheit, weil bei den dann fälligen Preiserhöhungen der Unmut der polnischen Bevölkerung nicht zu vermeiden ist und polnische Regierungen bei ihrem Volk nie ganz sicher sind, wie weit das seinen Unmut praktisch geltend macht.
Die polnische Regierung hat ihr Sparprogramm dieses Jahr mit der bestrickenden Idee zu verkaufen versucht, daß der Staat genauso hart an sich selbst spart: Der Verwaltungsapparat von Regierung und Partei, Dienstautos, Chauffeure, Diensttelefone und Auslandsreisen werden reduziert - und das auch noch für einen guten Zweck: Die eingesparten Gelder sollen dem Gesundheits- und Erziehungswesen zugute kommen. Das hat die Preiserhöhungen aber auch nicht beliebter gemacht; der freiheitliche Lehrsatz, daß Preise eben einfach immer steigen, ist der polnischen Bevölkerung noch nicht so geläufig. Dieses Mal haben die offiziellen Gewerkschaften mit Streik gedroht und in Verhandlungen mit der Regierung eine Herabsetzung der beabsichtigten Preiserhöhungen erreicht. Die westlichen Kommentare haben in reinster Schadenfreude das Dilemma genossen, in dem die polnische Regierung steckt: Auf die neu gegründeten Gewerkschaften muß sie Rücksicht nehmen, weil die schließlich von der Arbeiterschaft und auch im Westen als"echte" Fortsetzung der Solidarität und Beweis für polnischen Reformwillen gewürdigt werden sollen - auf die Forderungen von IWF und Weltbank aber ebenso.
"Ihre Position gegenüber Weltbank und Internationalem Währungsfonds, die beide einen Subventionsabbau fordern, ist sogar geschwächt worden." (Süddeutsche Zeitung, 27.3.)
So steigen die Preise eben schrittweise, was einerseits genügt, um die Verarmung größerer Teile der Bevölkerung zu beschleunigen, was andererseits aber die wirtschaftspolitischen Aufpasser längst nicht zufriedenstellt.
Ein anderes dauerhaftes Dilemma resultiert aus der Notwendigkeit, Devisen erwirtschaften, die Produktion rücksichtslos gegen den eigenen Bedarf primär auf den Export einstellen zu müssen, ohne daß freilich die nötigen Devisen zusammengekauft würden. Für alle erforderlichen Importe reichen sie jedenfalls nicht.
Exportierbar, auf westlichen Märkten überhaupt absetzbar, sind hauptsächlich Lebensmittel und Rohstoffe, vor allem Kohle. Die Kohleexporte sind von 8 Millionen Tonnen 1981 bis auf 21 Millionen 1985 hochgetrieben worden, rücksichtslos gegen Arbeitsschutzvorkehrungen - dafür ist kein Geld da. Die obligaten Grubenunglücke sind Folge: 1985 12 Tote, im Februar 1987 17 Tote. Auf Kosten der inneren Versorgung - für den nächsten Winter ist schon jetzt Kohlemangel angekündigt worden.
Unter dem Zwang zum Export wird auch alles sonstwie Absetzbare ins Ausland geschafft, was sich im Inneren als fehlende Zulieferung von Produktionsmaterialien und -mitteln geltend macht; umgekehrt genügen die Exportüberschüsse nie, um all die Vorprodukte oder Ersatzteile importieren zu können, die für die Benützung der früher im Westen gekauften Anlagen gebraucht würden. 50 bis 70% der Maschinen und Anlagen müßten nach offiziellen polnischen Angaben dringend erneuert werden; andererseits stehen zahlreiche angefangene Investitionsprojekte unfertig herum. Und wo schon Geld und Mittel fehlen, um die laufende Produktion von Störungen frei zu halten, da sind sie natürlich erst recht nicht für "unproduktive" Aufgaben wie den Schutz der natürlichen Lebensbedingungen vorhanden. Durch die extensive Rohstofförderung, die an den Kosten für Arbeitssicherheit und Umweltschutz ebenso rigide spart, ist das oberschlesische Kohle- und Hüttenrevier für Menschen eigentlich ziemlich unbewohnbar geworden. In anderen Gegenden haben Chemie-, Aluminium-, Zellulose-, Zement- und andere Industriebetriebe Ähnliches geleistet, die umliegenden Ländereien vergiftet und die darauf ansässige Bevölkerung mit interessanten neuen Krankheiten eingedeckt. Die Danziger Bucht ist "umgekippt", an vielen Ostseestränden Baden strengstens verboten. In vielen Gegenden ist die Trinkwasserversorgung gefährdet, wegen Wassermangel oder weil die Wasserqualität weit unter medizinischen Standards liegt. Ungefähr die Hälfte der industriellen Abwässer wird ungeklärt abgeleitet, und auch die Kommunen verfügen nicht immer über Klärwerke. Nur 11% der Industriebetriebe, die . schädliche Gasverbindungen abgeben, verfügen überhaupt über Filteranlagen. Es gibt keine landesweit organisierte Abfallbeseitigung, statt dessen vor allem auf dem Land freie Müllgruben, dafür aber auch keine Kanalisation und von Brunnen unabhängige Trinkwasserversorgung. Dafür gibt es im Frühjahr periodisch Hochwasser, weil für die schon ewig geplante Regulierung von Oder und Weichsel die Mittel fehlen, usw. usf. Die regionalen und gesamtpolnischen Krankheitstatistiken sind beeindruckend. Das, was der regierenden Arbeiterpartei dazu einfällt, irgendwie auch - nämlich beeindruckend wenig.
Alles, bloß keine Planwirtschaft
Es gibt Überlegungen, in besonders gravierenden Fällen wieder Armeeinheiten aufs Land zu schicken, um die notwendigsten Infrastrukturmaßnahmen durchzuführen. Ansonsten gibt es nur eine Kritik und zwar von oben bis unten einheitlich die bodenlose Schlußfolgerung, zuviel Staat, zuviel zentralisierte Planung sei der Grund für die krisenhaften Zustände. Verhältnisse, die geradezu nach einer notstandsmäßigen Planung schreien; Verhältnisse, die durchaus mit Nachkriegszeiten vergleichbar sind, in denen auch bürgerliche Demokratien sich gar nicht auf Privatinitiative und Freiheit des Marktes verlassen, sondern dafür sorgen, daß die notwendigen Aufräumarbeiten erledigt werden - solche Verhältnisse gelten in Polen als das Beweismaterial, daß der Staat einfach zuviel in der Ökonomie herumgepfuscht und alles verpfuscht hätte. Weil eben die gediegene "Kombination von realsozialistischer Planung und imperialistischer Ausbeutung ausgerechnet die Vorstellung von Planwirtschaft diskreditiert hat. Es existiert gar kein Gedanke daran, ob und wie man für Produkte Ersatz schaffen könnte, die nicht mehr importiert werden können, daß man Umweltschutzeinrichtungen selbst entwickeln und bauen könnte usw.
In einer Debatte über fällige Wirtschaftsreformen beschweren sich Betriebsdirektoren in einem Atemzug, daß unter dem Exportzwang notwendige Zulieferungen ausbleiben, und über die staatliche Zuteilungspolitik, die eben auf dieser Grundlage bemüht ist, die größten Störungen zu vermeiden.
"Gerade im Bereich der Zulieferungen erweitert sich non stop die Liste der zentralen Verteilung... Im ersten Jahr der Reform verkauften wir nach eigenem Dafürhalten, wir lieferten viel nach Warschau, weil es nahe ist, geringere Transportkosten und bessere Nutzung des Lagers ermöglicht. Aber jetzt werden, leider, die Möbel pro Kopf der Bevölkerung zugeteilt. Wenn es auch nur ein halber Möbelwagen voll ist, wir müssen ihn bis nach Waldenburg oder in eine andere Ecke Polens verschieben...
Der nächste meiner Zweifel verbindet sich mit der Parole: Export, Vergünstigungen! Es scheint mir, daß der Export, selbst wenn man unsere Verschuldung berücksichtigt, für unsere Wirtschaft zeitweise geradezu tödlich ist. Mir gegenüber sitzt Direktor Chmielewski, Produzent des Leims, den ich brauche. Als selbständiger Unternehmer muß er den Export steigern, weil er dadurch Vergünstigungen erhält...
Chmielewski: Freilich. Und dann kümmern mich, mit Verlaub, Ihre Möbel wenig.
Grzeskiewicz: Natürlich... Nur, daß, da Direktor Chmielewski letztes Jahr soundsoviel Leim exportierte, er diesen Leim nicht an die Spanplattenfabrik liefern konnte, von denen es acht gibt. Die Plattenfabriken liefern deshalb keine Platten an die Möbelfabriken. Aufgrund dessen standen 40 Möbelfabriken still. Direktor Chmielewski, freilich, reckt die Brust den Orden entgegen, weil er den Export verdreifacht hat..." (Osteuropa 1/86, A 40, dokumentiert aus der polnischen Presse)
Es ist nun eben einmal ein klassischer Widerspruch, den die realsozialistischen Wirtschaftsplaner in die Welt gesetzt haben: Einerseits sollen sich die Unternehmen, wie kapitalistische, in erster Linie um ihren Gewinn kümmern - dann sind die Devisenerträge eines Exportgeschäfts eben wichtiger als die Belieferung polnischer Abnehmer; dann ist die Vorschrift, die Menschheit auch in entlegenen Ecken Polens mit Möbel zu versorgen, eben ein Verlustgeschäft. Und andererseits soll gerade die Versorgung der Betriebe und Konsumenten garantiert sein. Wenn genau der Widerspruch immer wieder zu staatlichen Korrektureingriffen führt, damit das zweite Ziel irgendwie auch erreicht wird, dann ist es zwar überhaupt nicht logisch, ausgerechnet die Staatseingriffe als das ökonomische Vergehen, als die Störung eines "effektiven Wirtschaftens" hinzustellen, sondern nur eine Auflösung des Widerspruchs im Sinne des ersten Ideals. Zu Ideen, die einmal in die umgekehrte Richtung gehen, die feststellen, daß für den Zweck einer Versorgung mit Gebrauchswerten eine Produktion für Gewinn sehr unzweckmäßig ist, scheint in Polen niemand fähig zu sein.
Eine ideologische und praktische Bankrotterklärung - das nennt sich Wirtschaftsreform
Die jetzt eingeleitete sogenannte 2. Etappe der Wirtschaftsreform ist nichts anderes als der großspurige Titel. für das hilflose Bedürfnis nach so etwas wie einem effizienten Unternehmertum. Wie in der ersten Etappe der Wirtschaftsreform gleich nach Verhängung des Kriegsrechts, in der die "drei S", Selbstverwaltung, Selbständigkeit und Selbstfinanzierung verkündet worden sind, heißt der ganze Auftrag an die Unternehmen auch jetzt eigentlich bloß "selbst". Mehr als den frommen Wunsch, die Betriebe möchten doch selbst irgendwie einen ökonomischen Fortschritt zustandebringen, enthält das ganze Reformgetue nicht.
"Den wirtschaftlichen Fortschritt erwarten sich die polnischen Reformer nicht mehr von staatlichen Maßnahmen, sondern von den Kräften an der Basis. Private Betriebe sollen den gleichen Zugang zu Waren und Rohstoffen erhalten wie die Staatsunternehmen. Alle Reglementierungen in diesem Bereich haben bis 1990 zu entfallen mit Ausnahme der Bestimmung über 'Brennstoffe, Energie und die am stärksten defizitären Produkte'." (Süddeutsche Zeitung, 22.4.)
Die Logik ist klar: Der Verzicht des Staates, sich in seine Ökonomie "einzumischen", durch eine Zuteilung von sachlichen Mitteln darauf zu achten, daß die wichtigsten arbeitsteiligen Beziehungen funktionieren, soll allein schon ein Interesse der Betriebe freisetzen, daß Produktion und Mehrproduktion garantiert. wie das gehen soll, interessiert dabei weniger. Bloß durch die Aufhebung der staatlichen Aufsicht kommt noch lange kein Aufschwung der Produktion zustande, zumal nach wie vor ein paar ziemlich objektive Bedingungen bestehen wie allerhand "defizitäre Produkte", veraltete Produktionsanlagen und ein durch Devisenknappheit dauerhaft festgeschriebener Mangel an Ersatzteilen und Vorprodukten. Anders gesagt, ein unter tatkräftiger Mitwirkung des Imperialismus heruntergewirtschafteter Sozialismus wird durch die Rücknahme von ein paar staatlichen Vorschriften keineswegs zur florierenden Profitproduktion.
Letztlich stellt das Reformprogramm nicht viel mehr dar als das Bekenntnis der Partei, von der realsozialistischen Wirtschaftsplanung nichts mehr zu halten. Daß sich das nach wie vor in Gestalt von Wirtschaftsmethoden vorträgt, erklärt sich aus den politischen Sitten; daß es nunmehr mit der Beschwörung von Marktkräften und Privatinitiative daherkommt, mag wiederum bei westlichen Systemidioten Begeisterung auslösen - eine Methode, die polnische Wirtschaft zu sanieren, wird es deshalb noch lange nicht. Vielmehr ist aus den ganzen Sprüchen vor allem ein Bedürfnis herauszuhören, nämlich das der regierenden Partei, einfach gewisse Probleme, inkl. politischer Verantwortung dafür loszuwerden.
"Es wird über weitverbreitetes 'paternalistisches Denken' geklagt, darüber, daß Beschäftigte auf allen Stufen das 'Gute'von oben erwarten... Besonders geklagt wird über die immer noch bestehende Monopolstellung von Zulieferbetrieben. Tagtäglich stehen Unternehmungen der verarbeitenden Industrie und der Bauindustrie still, weil sie kein Rohmaterial haben. Mit einem Antimonopol-Gesetz sollen nun hier wenigstens marktähnliche Bedingungen geschaffen werden... Doch ebenso regelmäßig können die Zulieferer geltend machen, daß sie ihrerseits die notwendigen Grundstoffe nicht erhalten haben." (Neue Zürcher Zeitung, 1.4.)
Wieso ausgerechnet "marktähnliche Bedingungen" das ändern sollen, bleibt das Geheimnis der Veranstalter. Sie setzen einfach auf das ominöse Ideal des "Selbst", welches sie mit Kapitalismus verwechseln (wo es ja, wie man sieht, so hervorragend klappt, sieht man einmal davon ab, was dieses "Klappen" auch im Westen alles ruiniert).
"Der schon in der ersten Phase der Reform angekündigte Grundsatz. der 'Selbstfinanzierung der Betriebe soll nun durchgesetzt werden, d.h. jedes Unternehmen soll seine Ausgaben durch Einnahmen decken, die es auf dem Markt erzielt hat." (Süddeutsche Zeitung, 22.4.)
Und an diesem schönen Maßstab entlang gedacht, präsentiert sich dann auch noch die Schließung von Betrieben als ein Riesenerfolg:
"Die staatlichen Beihilfen für die Industrie werden in diesem Haushaltsjahr um 15% gekürzt, um unrentable Betriebe in den Bankrott zu treiben." (Regierungssprecher Urban, "Süddeutsche Zeitung", 8.4.)
Das hilft garantiert bei der Überwindung einer defizitären Produktion!
Preissubventionierungen oder die Deckung von Unternehmensverlusten, mit dem die Wirtschaftsplaner dem Interesse an der Aufrechterhaltung der sachlichen Produktion gegen die von ihnen diktierten Kosten-Gewinn-Kalkulationen Rechnung tragen, werden ihnen heute als eine Art falscher Vorsorge hingestellt, die ein energisches Rentabilitätsstreben verhindert hätte. Auf so etwas sollen die Unternehmen in Zukunft nicht mehr rechnen dürfen; statt dessen soll für ihren Geldbedarf der Bankenschwindel in Gang kommen auch dies durch Konkurrenz:
"Die Geldinstitute sollen nun eine aktivere Rolle in der polnischen Wirtschaft spielen. Man will mit den monopolistischen Tendenzen im Bankwesen Schluß machen und Konkurrenz ermöglichen." (Neue Zürcher Zeitung, 11.3.)
Und dabei sind die Reformer auf eine originelle Idee verfallen, die die betriebliche Geldbeschaffung gleich noch mit der ewigen Motivationsfrage kombiniert:
"Messner kündigte an, daß die zweite Reformstufe Maßnahmen zur 'Motivierung' der Werktätigen einschließen werde. Er nannte als Beispiel die Umwandlung einiger Staatsbetriebe in Aktiengesellschaften, an denen die Werktätigen Anteile erwerben könnten..." (Süddeutsche Zeitung, 18.4.)
Ein trostloser Idealismus nach dem andern. Ausgerechnet Ostblockpolitiker glauben an eine solche Schimäre wie ein gesundes Gewinnstreben, was schon so gut wie eine potente Nationalökonomie sein soll. Darauf schielen sie gerade deshalb, weil sie lauter unrentable Betriebe registrieren, solche, die innerhalb der ihnen vorgegebenen Preisrelationen keine Gewinne machen können, und zwar registrieren sie die als Last für den Staatshaushalt. Sie "folgern" daraus, daß die Betriebe Geld bräuchten, und sie entdecken dann in den Ersparnissen der Bevölkerung eine brauchbare Geldquelle, an die man in Gestalt von Aktien herankommen könnte. Daß Geld zur Verlustdeckung das eine, eine Aktie mit Dividende als Anteil am Gewinn etwas ziemlich anderes ist, stört sie dann schon überhaupt nicht mehr. Weil schließlich die Idee so überzeugend ist, daß, Arbeiter einmal in Aktionäre verwandelt, die Leistungssteigerung doch enorm beflügelt werden müßte. So landen dann die ökonomischen Rezepte mit all ihrer methodischen Spinnerei wieder bei einem sehr reellen Problem. Es müßte irgendwie zweckmäßig und produktiv gearbeitet werden, damit mehr Reichtum zustandekommt. Bloß sehen sie das auch wieder etwas anders. Führer einer sogenannten Arbeiterpartei, die immerzu im Namen der Arbeiterklasse hantieren, beschweren sich ernstlich darüber, daß ihnen die Mittel fehlen, die Arbeiter zu einer wirtschaftsnützlichen Verausgabung zu zwingen. Solches Bedauern wird im Westen begrüßt und gleich in die Lüge umformuliert, daß Produktivität in den Betrieben die Folge davon sei, daß welche draußen bleiben:
"Man hat auch erkannt, daß sich Arbeitslosigkeit stimulierend auf die Arbeitsproduktivität auswirken kann, doch daraus die Konsequenzen zu ziehen, verbietet das System." (Neue Zürcher Zeitung, 1.4.)
Derweilen schlagen sich polnische Produktionsleiter gleich mit zwei Problemen herum: Erstens fehlen ihnen die Mittel, selbst zum Fleiß entschlossene Arbeiter effektiv auszunützen - und zweitens entfernt sich mancher Arbeitswillige aus der staatsdienlichen Produktion, ohne deshalb einen Konkurrenzdruck auf die Beschäftigten auszuüben und wie ein "Reservearmist" des Westens stimulierend zu wirken.
Der Mensch als "Hebel" der Wirtschaft
Wo weder die kapitalistischen Zwangsgesetze für eine effektive Ausbeutung sorgen noch ein reeller Plan existiert, mit dessen Zielen die Arbeiter übereinstimmen und um dessen Realisierung sie sich deshalb kümmern, da erhält deren Moral den zweifelhaften Charakter einer ökonomischen Produktivkraft. Zweifelhaft schon deshalb, weil auch Arbeitstugenden nur sehr bedingt die negativen Wirkungen der realsozialistischen Planungsweise kompensieren können. Unter den polnischen Bedingungen schlägt die Bedeutung der Arbeitsmoral nun aber regelrecht gegen die Veranstalter aus. Materialmangel, Produktionsausfälle wegen defekter Maschinen tun das Ihre, dazu addieren sich die Wirkungen einer politisch gründlich lädierten Arbeitsmoral. Klagen über mangelnde Arbeitsdisziplin und schlechte Arbeit sind ein Dauerthema. Es gibt massenhaft Leute, die ihre Zeit mit Prozessionen verbringen oder für halbe Jahre in den Westen schwarzarbeiten gehen, ohne sich dabei Sorgen um ihren angestammten Arbeitsplatz zu machen und machen zu müssen. Die Abwanderung ins westliche Ausland hat zu einem empfindlichen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften geführt, von Facharbeitern aufwärts. Von '83 bis '85 haben sich 3070 Wissenschaftler in den Westen abgesetzt. Nicht nur Geistespfleger vom Schlage Bartoszewski, deren Abwesenheit in Polen nicht weiter auffällt, weil in der Sparte wirklich Überproduktion besteht. Alle möglichen Schieber- und Schwarzmarktgeschäfte blühen, richtig beschissen sind diejenigen dran, die "nur" über einen ehrlichen Arbeitsplatz und keine Verwandte auf dem Land verfügen. Und die eintönigen Aufrufe der Regierung zu patriotischen Gefühlen und ehrlicher Arbeit fürs Vaterland fruchten wenig wo die "Solidarität", die Kirche und die Westpropaganda den Glauben gründlich verfestigt haben, daß das Vaterland bei der Regierung in den falschen Händen ist.
Die ganze Hilflosigkeit gegenüber der Tatsache, daß die polnische Regierung es mit einer vom Sozialismus enttäuschten und deshalb auch nicht besonders für ihre moralischen Ansprachen geeigneten Bevölkerung zu tun hat, hat sie mit der Gründung eines Meinungsforschungsinstituts zum Ausdruck gebracht, eine der ersten Maßnahmen nach dem Kriegsrecht. Das gibt es jetzt, mit einem Oberst und Jaruzelski-Berater an der Spitze, und das fördert regelmäßig "Erkenntnisse" folgender Art zutage:
"In der landesweit durchgeführten Umfrage wurde zum Beispiel gefragt: 'Die Regierung sagt, daß sie sich darum bemüht, der Folgen der Krise Herr zu werden, mit der wir es in der Vergangenheit zu tun hatten. Geschieht dies Ihrer Meinung nach?'
Fast die Hälfte der Befragten (48 bis 49 % ) antwortete: 'Nein', die übrigen sagten: 'Da das, was getan wird, nicht zum Kern des Problem vorstößt, haben wir keine Sicherheit, daß nicht eine neue Krise kommt' (16%), oder: 'Es gibt viele Beispiele dafür, daß man die alten Methoden anwendet' (13%), und sogar: 'Es passiert nichts dergleichen' (9%)...
Auf eine zweite Frage: 'Eröffnet die gegenwärtig betriebene Wirtschaftspolitik eine Chance, die wirtschaftliche Krise zu überwinden', antworteten 64% der Befragten mit 'eher nicht' oder 'nicht'. Wir haben es hier also mit einem deutlich spürbaren Pessimismus in ökonomischen Angelegenheiten zu tun, der - und das ist beunruhigend - zunimmt..." (Polityka, 17.7.85, Osteuropa 5/86, A 251)
Anstellen können die Auftraggeber mit "Erkenntnissen" dieser Art wohl kaum etwas, weil sie bloß den Grad von Ver- bzw. Mißtrauen gegenüber der Regierung messen, also die staatsbürgerlich-dumme Übersetzung von Sachlagen in Qualitäten der Obrigkeit, die von objektiven Zusammenhängen nichts wissen will. Und die fällt in Polen nun einmal schlecht aus, wobei es auf den Unterschied von "unfähig" und "böse" gar nicht besonders ankommt.
In ihrem Kampf um Vertrauen verfügt die polnische Regierung im Unterschied zu früheren Etappen kaum über ökonomischen Spielraum, um mit Lohnerhöhungen oder Konsumgüterangeboten ihr Volk davon zu überzeugen, daß sich ihre Art Sozialismus doch irgendwie lohnt. Mit Kommunismus will es ja in Polen sowieso niemand probieren. Umgekehrt kündigt sie immerzu "dringend notwendige unpopuläre Maßnahmen" an wie Betriebsstillegungen, Arbeitslosigkeit, Preiserhöhungen etc., um sie dann wieder halbwegs zurückzunehmen. Das verfestigt dann wieder bei den politisch verbildeten Fraktionen den Eindruck völliger wirtschaftspolitischer Inkompetenz. Ökonomisch schiebt sich also nichts, was die Massen bei Laune halten könnte. Um so großzügiger fallen die Angebote der Regierung zur politischen Versöhung aus.
"Heute wird die Macht des Staates nicht an der Zahl der ausgeschalteten Gegner, sondern der gewonnenen Anhänger gemessen... In dieser Absicht wendet sich die Partei noch einmal an diejenigen, die immer noch Groll und Zweifel hegen, die noch furchtsam und unentschlossen sind. Polen braucht Ruhe und intensive Arbeit, davon hängt die Zukunft unseres Volkes ab... Einheit in der Vielfalt, also im gesamten Reichtum der Formen und Inhalte der sozialistischen Demokratie, das tut Polen not. Solche Verschiedenartigkeit unterstützen wir. Indessen kann eine Vielfalt, die sich gegen die Einheit richtet, nur Zwietracht säen und zerstören..." (Jaruzelski, Osteuropa 1/87, A 37)
Ein freier, öffentlicher "Untergrund"
"Versöhnung" heißt in Polen, daß alle möglichen Sorten antikommunistischer Propaganda sehr weitgehend toleriert werden, daß die ehemaligen Führer der "Solidarität" ungehindert zugange sind und einschlägige Kommentare abgeben können, daß der Untergrund dermaßen öffentlich agiert, daß er kaum mehr als solcher zu bezeichnen ist. Neben den alten Dissidenten-Vereinen hat sich der Westen einen neuen herangezüchtet namens "Frieden und Freiheit", der in loser Reihenfolge gegen Folter in Afghanistan, gegen AKWs in Polen, für einen Abzug der sowjetischen Truppen aus den Bündnisstaaten und für Wehrdienstverweigerung in Polen demonstriert, weil der polnische Soldateneid die Treue zur Sowjetunion einschließt. Anfang Mai hat derselbe Verein in Warschau ein "Friedensforum" mit internationaler Beteiligung organisiert, auf dem sich deutsche Grüne, italienische Radikale und polnische Pfaffen für einen Abzug der sowjetischen Truppen aus Osteuropa stark gemacht haben. Die Kirche hat die Ökologie als eine Gelegenheit zur Gründung von Laienorganisationen entdeckt, deshalb gibt es jetzt eine "Ökologische Bewegung des Heiligen Franziskus von Assisi", die die Unverträglichkeit von Natur und Sozialismus verkündet. Ein speziell deutscher Erfolg: 36 in Polen lebende Idioten haben sich zur unterdrückten deutschen Minderheit erklärt, die "im Namen Tausender" ihre deutschen Rechte auf Kultur usw. einklagt. Die Ausstattung aller Vereine ist vorzüglich, ein Manager-Magazin, vollauf über technischen Fortschritt begeistert:
"Inzwischen arbeiten viele Dissidenten mit Computern; so wird die Untergrundliteratur mit modernsten Mitteln hergestellt. Neben der EDV benutzen Regimegegner die Videotechnik, um verbotene Filme einer breiteren Zielgruppe zugänglich zu machen... In Polen läuft die heimliche Produktion von Videokassetten auf Hochtouren..." (Management Wissen 6/87)
September 1986 ist die letzte Amnestie für politische Häftlinge erfolgt, seitdem versucht die Regierung nur noch mit Geldstrafen und Konfiszierung von Gerät zu bremsen; sie will, auch wegen der Erpressung durchs westliche Ausland, keine politischen Gefangenen mehr haben. Ebenfalls im letzten September hat sich der Sicherheitsdienst über 3000 Angehörige des Untergrunds gegriffen, nicht um sie einzusperren, wie das jede westliche Staatsgewalt tun würde, sondern um ihnen den Untergrund auszureden:
"Man präsentierte im Laufe dieser Gespräche das Wissen, das der Sicherheitsdienst über solche Tätigkeiten bereits besaff. Man betrachtete sie aber auch als eine Gelegenheit, über den Sinn des eigenen Engagements bei der Arbeit des sogenannten Untergrunds nachzudenken..." (Osteuropa 1/87, A 44)
Für westlichen Geschmack ein gemeiner Anschlag auf die Freiheit staatszersetzender Opposition:
"Man versprach dabei allen Straffreiheit und die Möglichkeit einer unbelasteten Rückkehr ins normale Leben, ja man versuchte, einen Teil der geistigen Führung dieser Opposition in einer Art von Konsultativrat beim Staatsrat einzubinden und damit dienstbar zu machen." (Osteuropa 1/87, A 33)
Fragt sich nur, wer sich da wem andient. Den "Konsultativrat" gibt es inzwischen auch mit betont unabhängigen, d.h. in Polen katholisch abhängigen Autoritäten, die nunmehr in einem Staatsorgan von Jaruzelski verlangen, die "Solidarität" wieder zuzulassen und überhaupt die Kirche in ihrer Tätigkeit nicht zu behindern. Andererseits haben die Ex-Führer der "Solidarität" gleich nach der Amnestie wieder einen "Provisorischen Rat" gegründet, der sich bereit erklärt hat, mit dem Staat über Zusammenarbeit iu verhandeln...
In ihrer Ratlosigkeit gegenüber einem für die Ideale des Sozialismus ziemlich verlorengegangenen Volk vereinbart die Partei die merkwürdigsten Kalkulationen miteinander. Mit dem sowjetischen Generalsekretär Gorbatschow hat Jaruzelski im April eine "Deklaration über die ideologische Zusammenarbeit" unterzeichnet. Gorbatschow:
"Genosse Wojciech Jaruzelski und ich sind uns darin einig, daß unsere Parteien die Verantwortung für die ständige Entwicklung und Vertiefung des geistigen Umgangs der Arbeiter, der Bauern, der Intelligenz, der Jugend und natürlich auch der Funktionäre der ideologischen Front und der Kulturschaffenden tragen... Es gilt, die ideologische Zusammenarbeit lebensnäher zu gestalten, sie enger mit der Praxis der sozialistischen Emeuerung zu verbinden... Und noch etwas möchte ich erwähnen: Im Leben der Völker und in der Entwicklung ihrer gegenseitigen Beziehungen sind die historischen Traditionen von großer Bedeutung...
Selbstverständlich darf man auch das schwere Erbe nicht übersehen, das uns die herrschenden Klassen des vorrevolutionären Rußland und des bürgerlichen Polen hinterlassen haben, Man muß die ganze Wahrheit sehen, damit in der Chronik der Beziehungen zwischen unseren beiden Ländem kein Platz für Erfindungen und Mißdeutungen, für die sogenannten Grauzonen bleibt..." (22.4.)
Das Problem, das die beiden erörtert haben, ist klar: der merkwürdige Attraktivitätsverlust, den der Sozialismus in Polen durchgemacht hat, und der unverhohlene Antisowjetismus, wie er dort grassiert. Die Annahme, daß Nationalismus durch historische Richtigstellungen zu bändigen wäre, ist allerdings etwas naiv.
Auf der anderen Seite appelliert die polnische Regierung ebensogut an die Kirche als Bündnispartner in ideologischen Dingen. Der Papst sollte kommen, die polnische Regierung hat sich ihn selbst eingeladen in der Berechnung, mit dem Papst als Autorität im Rücken mehr Gehör für Aufforderungen folgender Machart zu finden:
"...alles in jeder Stadt und in jedem Dorf zu tun, damit Polen seinen großen Landsmann als ein sauberes, nüchternes, fleißiges und wirtschaftlich gut geordnetes Land begrüßt." (Süddeutsche Zeitung, 11.2.)
Dabei ist es gar nicht so, daß die Regierung nicht wüßte, daß die Subversionsarbeit der "Solidarität" nunmehr von der Kirche fortgesetzt wird. Sie will aber partout nicht wahrhaben, daß der katholische Glaube eine Systemfrage ist, sondern verfolgt den frommen Wunsch, die moralisch nützlichen Leistungen der Kirche müßten sich haben lassen ohne die politische Zersetzungsarbeit, wie sie die Kirche betreibt. Mit Angeboten an die Kirche, man könnte doch eine Art von geregelter Gewaltenteilung zum wechselseitigen Nutzen eingehen, wird deren Einfluß dabei nur noch gestärkt.
Es wird auch gegen die Kirche agitiert, aber wie! Mit dem Einkommen der Pfaffen und solchen Hochrechnungen:
"Wenn jeder Geistliche sich auf das Gehalt eines Ministers der Volksrepublik Polen beschiänken würde, könnten davon ohne zusätzliche Spendenaktionen jährlich hundert Kirchen gebaut werden." (die Parteizeitung Polityka, "Frankfurter Allgemeine Zeitung", 9.1.)
Es wird auch gegen das westliche Ausland agitiert, aber wie! In der Bundesrepublik soll der Papst nämlich bei seinem letzten Besuch empörend schlecht behandelt worden sein:
"...von Erscheinungen begleitet, die es bisher in 33 Auslandsreisen nicht gegeben hat",
was angeblich die Frage aufwirft,
"ob es sich hierbei um Taktlosigkeit, Mißachtung oder um eine zielstrebige Kampagne handelt". (Kommentar der polnischen Nachrichtenage tur PAP, "Süddeutsche Zeitung", 6.5.)
Und diese peinliche Anwanzerei ergibt sich wirklich nicht nur aus der Not, ein katholisch verhetztes Volk zu regieren. Die revisionistische Berechnung gehört auch dazu, die die von der Kirche gepredigte Moral von Opfersinn, Bescheidenheit und Heimatliebe für sehr attraktiv befindet.
Die Kirche - ein Staat im Staate
Als unbestrittene geistige Autorität der Nation, von der bloß regierenden staatlichen Autorität hofiert und durch den Zulauf aller enttäuschten Nationalisten in ihrer Militanz bestärkt, erobert die Kirche zunehmend politisches Terrain. Wo die Regierung Arrangements erreichen will, geht sie in die Offensive. Bei ihr findet jede oppositionelle Regung Protektion, für die sie dem Staat Zugeständnisse abhandelt, wie z.B. die Erlaubnis zur Wehrdienstverweigerung aus religiösen Gründen. Sie streitet laufend darum, daß ihr Einfluß noch mehr legalisiert wird und ihr bestimmender Einfluß auf das gesamte Staatsleben noch weiter wächst. Der oberste Bischof beschwert sich allen Ernstes darüber, "daß die Elitekader der Partei von der Kirche getrennt erzogen würden." (FAZ, 9.1.) Die Kirche bildet ihrerseits an einer eigenen katholischen Universität, finanziert u.a. von der Konrad-Adenauer-Stiftung, Psychologen, Soziologen, Pädagogen, Juristen und Ökonomen aus, Fachleute zur Untergrabung sozialistischer Produktions- und Herrschaftsverhältnisse in christlichem Geist. Schließlich hat sie auch einen großen Aufgabenbereich zu betreuen. Koonsequent verlangt sie von der Regierung, katholischen Laienorganisationen denselben Rechtsschutz wie ihr zu gewähren. Der sozialistische Staat soll alle die Mannschaften legalisieren, die wie die "FAZ" es freundlich beschreibt - "im Schutz der Kirche soziale, seelsorgerisehe und kulturelle Aufgaben erfüllen". (12.1.)
Im Klartext: Er soll die Art kirchlicher Unterwanderung mit Rechtskraft ausstatten, die der sozialistischen Staatsmacht ganze Bereiche ihrer Gesellschaft - Öffentlichkeit und Aushildung, Sozialstaat und Privatbauernschaft streitig macht. Die Kirche meldet bei allen politischen Fragen ihr Recht auf Mitsprache an selbstverständlich aus rein seelsorgerischen Gründen. Sie kritisiert an den Preiserhöhungen in christlicher Erleuchtung, daß "die Behörden die Wirtschaftskrise ohne Unterstüzung des Volkes lösen wollten." (Süddeutsche Zeitung, 1.4.) Der heilige Geist hat den polnischen Bischöfen nämlich eingegeben, daß Preiserhöhungen nur auf Grundlage privatwirtschaftlicher Verhältnisse gerechtfertigt sind. Daß deren Fehlen der grundlegende Mangel der staatlichen Wirtschaftsreform ist, darauf haben sie sich mit den Ex-Chefs der "Solidarität" geeinigt.
Auch das ist eine echt polnische Errungenschaft: Was als Gewerkschaft angefangen hat, fordert jetzt als Alternative zum Regierungsprogramm 1. harte, aber notwendige Opfer für die Arbeiter zum Zweck der Wirtschaftssanierung und 2. die Einführung ordentlicher Ausbeuter, "um dem natürlichen Recht des Bürgers auf wirtschaftliche Initiative und Dnternehmertum wieder Geltung zu verschaffen." (Walesa, "Süddeutsche Zeitung", 22.4.) Man möchte Walesa und seiner Mannschaaft einen Gratisurlaub wünschen, vier Wochen am Band bei VW, Conti-Schicht bei Bayer der mit Sozialhilfe in einer westdeutschen Großstadt. Die polnischen Bischöfe haben nach ausführlicher Bibel-Exegese das Kampfprogramm unterstützt:
"Zwar ist aus christlicher Sicht die Konsumentenhaltung als unschöpferisch abzulehnen, die Kirche hat aber die Schaffung von Gütern und Reichtum nie verurteilt. Alle die Menschen sind zu bewundern, die in den letzten Jahren - trotz widriger Umstände - den Schritt zum Unternehmertum gewagt haben, obwohl in Polen bisher jeder, auch auf ehrliche Weise erzielte, wirtschaftliche Gewinn verdächtigt und jeder Privatunternehmer als Spekulant bezeichnet worden ist." (Süddeutsche Zeitung, 22.4.)
Während die westlichen Kollegen Bischöfe ihrer parasitären Zufriedenheit mit der weltlichen Staatsmacht Ausdruck geben, indem sie die Jenseitigkeit ihres Anliegens herausstreichen sich nur in Fragen der Moral einmischcn und sich ordnungspolitisch nützlich machen, indem sie unerwünschtem Protest die religiöse Legitimation bestreiten; während der Papst wie der verlängerte Arm der CIA christliche Proteste in den Armenhäusern der "Dritten Welt" mit der Gewaltfrage niedermacht, organisieren die polnischen Kirchenfürsten regelrecht eine Bewegung zur Wiederherstellung der kapitalistischen Klassengescllschaft. Dabei schmarotzen sie natürlich genauso von den zersetzenden Wirkungen, die die imperialistische Ökonomie uind Politik auf den polnischen Sozialismus ausübt. Aber sie demonstrieren auch wie wenig die Kirche die Gewaltfrage scheut wenn sie die absurde historische Chance geboten hekommt, in einem abgewirtschafteten Sozialismus und gegen ihn einen Gottesstaat auf kapitalistischer Grundlage aufzumachen.
Oben drauf ein Papst
Der Papst hat auf seiner sogenannten Pastoralreise sein Bestes gegeben, um für programmatische Klarheit und praktische Militanz bei dieser Offensive zu sorgen. Sogar einiges mehr als den ortsansässigen Kirchenfürsten lieb war. Folgende übersichtliche Glaubenssätze hat er in Polen verkündet:
1. Planwirtschaft ist unmenschlich. Denn sie kommt, ganz im Unterschied zum Kapital, das ein menschliches Bedürfnis ist, "von oben".
"Die Menschen streben danach, nicht Objekt von oben kommender Aktivität, sondern Subjekt im gesellschaftlichen Leben zu sein. Das gilt auch für das Arbeits- und Wirtschaftsleben." (Süddeutsche Zeitung, 9.6.)
2. Privateigentum ist christlich. Demgemäß hat er die polnischen Privatbauern aufgehetzt, daß die Regierung ihnen noch viel mehr Rechte schuldig wäre, wenn sie schon Privateigentum an Grund und Boden in ihre Verfassung aufgenommen hat.
3. Staatsfeindliche Gewerkschaften in Polen sind ein Gebot Gottes.
"Der Arbeiter hat ein Recht auf Selbstverwaltung, deren Manifestation unter anderem unabhängige und selbstverwaltete Gewerkschaften sind." (Frankfurter Rundschau, 15.6.)
4.Kein Frieden mit der gottlosen Obrigkeit. Alle polnischen Pfaffen sollen Popieluszko nacheifern, wenn ihnen Gott schon volle Kirchen und Kanzeln zum Hetzen gegen den Kommunismus geschenkt hat.
5. Es gibt keinen Frieden, solange der Antichrist lebt, und der lebt in der Sowjetunion. Dafür hat sich der Papst in seine Kaderschmiede in Lublin begeben, kurz vor der sowjetischen Grenze, um da über die brennende Frage der ehemaligen polnischen Ostgebiete zu predigen und über die "religiöse Problematik in Litauen, Weißrußland, der Ukraine und Kiew und den Weiten Rußlands". (Frankfurter Rundschau, 15.6.)
Vor seiner Ankunft haben 61 katholische Kunstdissidentengewerkschaftler und Untergrundspfaffen den Papst in einem Memorandum dazu aufgefordert, "für Polen neue Horizonte zu öffnen und die Bevölkerung aus der Apathie zu reißen" (Süddeutsche Zeitung, 2.6.). Er hat sie nicht enttäuscht und sein Bestes getan für ein paar zündende Massenaufmärsche. Er hat an sämtlichen symbolischen Stätten sämtlicher polnischer Arbeiteraautstände bedeutungsschwanger sein päpstlichcs Knie abgestellt. In Krakau hat er scine Hörer ermahnt, "nicht den Mut zu verlieren" ( Süddeutsche Zeitung, 11.6.), es hätte ja noch Aufgaben vor sich. Und siehe da, das Publikum hat ihn auf Anhieb verstanden und der Polizei gleich anschließend eine Straßenschlacht geliefert. In Danzig hat er die obligatorischen Rufe nach der "Solidarität" stimmungsvoll beantwortet:
"Das ist genau das, worüber ich zu euch sprechen will. Ihr habt ein Recht... Ich bete für das spezielle große Erbe der polnischen Solidarität. Ich werde nicht aufhören, dafür zu beten, weil dies eine Angelegenheit von großer Bedeutung ist." (Frankfurter Rundschau, 15.6.)
Und siehe da, im Anschluß ergab sich eine spontane Massendemonstration unter Führung der Ex-Solidaritätschefs Lis und Bujak.
Aber eben deshalb, weil das alles eine "Angelegenheit von großer Bedeutung ist", weil die Frage, wem Polen gehört, innerpolnisch nicht entschieden werden kann, eben deshalb haben die polnischen Amtsbrüder ihren Primus auch wieder zurückgepfiffen. Gegen Ende seiner Reise hat er deshalb auch wieder den regierenden General loben müssen und die polnischen Arbeiter zu ehrlicher Arbeit aufgefordert. Denn die polnische Kirche läßt den Staat zwar gerne ihre Macht spüren, demonstriert gerne, daß sie die Massen aufwiegeln kann, aber ein wirklicher Bürgerkrieg ist auch wieder etwas sehr Unhandliches. Und außerdem gibt es für die Kirche gar keinen Grund, ihre ohnehin ständig wachsenden Erfolge durch Unruhen zu gefährden, die dann doch nicht ohne eine größere Flurbereinigung abgehen.