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Dieser Artikel ist in der MSZ 7-1987 erschienen.

Systematik

Goethes Faust
BERICHT ÜBER EIN KULTURELLES ERBE

Daß vor 155 Jahren ein Schriftsteller namens Goethe gestorben ist, könnte einem ja auch egal sein. Weder seine Stoffe noch die Kunst ihrer Bearbeitung böten Anlaß zu mehr als historischem Zeitvertreib, wäre nicht die in ihnen ausgebreitete Gesinnung für die Intelligenz Anno 1987 so aktuell wie ehedem. Der Glaube n die Herrschaft des Guten n der Welt, das sich letzten Endes doch durchsetzen muß, beflügelt eben nicht nur den Durchhaltewillen des kleinen Mannes, der sich für einiges hergibt. Im Sinnhunger der geistigen Elite der Nation wird er sogar anspruchsvoll: Die Verwalter des ideologischen Überbaus möchten sich getrennt von ihren hoffnungsfroh abstrakten Deutungen der Zwecke und Subjekte, die tatsächlich die WVelt beherrschen, auch noch das Selbstbewußtsein einer besonderen Rechtschaffeinheit dieses Tuns leisten. In der Wertschätzung "großer Werke" der Kunst und Literatur genießen und problematisieren sie die prinzipielle Sinnhaftigkeit der Realität als letzte Berufungsinstanz des moralischen Idealismus, den sie an alles herantragen.

Diesem Bedürfnis intellektueller Selbstgerechtigkeit genügt Goethe "klassisch" - ihm ist es nämlich treibendes Motiv und vornehmliches Thema seiner poetischen Einbildungskraft geworden. Sein "Faust" ist ein wahres Bilderbuch der Techniken, mit deren Hilfe ein moralisches Denken die Geistesfreiheit als Problem, ihre verantwortliche Zügelung als lohnend und diesen Lohn als guten Grund zur Ergebenheit begreift.

Ein Blick in die Dichterwerkstatt

Ein Drama, das ist zum Verständnis seiner Handlung hilfreich, beginnt für gewöhnlich mit einer Exposition, in der die dramatis personae, ihre Umstände und Motive etc. vorgestellt werden. Der "Faust", dieses Meisterstück der deutschen Dramatik, beginnt damit nicht. Statt dessen läßt Goethe vor die eigentliche Handlung drei methodische Expositionen zu stehen kommen, die nicht in das dramatische Geschehen, dafür aber in seine Bedeutung einführen - was die künstlerische Absicht zugleich widerlegt und einige Aufklärung über sie verschafft. Wer es für nötig befindet, mittels einer "Zueignung" seine Person, durch ein "Vorspiel auf dem Theater" sein poetisches Handwerkszeug und mit einem "Prolog im Himmel" schließlich auch noch seine Fragestellung als Verständnisgründe des folgenden Werks anzumelden, der gibt ja zu erkennen, daß die literarische Bebilderung seines Themas für dessen "eigentliche" Botschaft unzureichend ist. Noch mehr: Wer im Vorgriff schon alles ausplaudert, worauf es ihm ankommt und warum, der ist mit seiner Mitteilung doch fertig und kann es sich sparen, seine Phantasie zur umständlichen Wiederholung dessen anzuspornen, was er offensichtlich ohne das kunstvolle Handlungsgemälde auch zu sagen weiß. Die Leistung seiner freien Subjektivität, einen Gegenstand in einer ganz besonderen Auffassung durchzugestalten, ist damit von vornherein als durchaus mittel-mäßig charakterisiert: Der bloße Entschluß zur Vorstellung eines "Eigentlichen " soll den Leser oder Hörer auch schon von der exquisiten Qualität der dichterischen Wahrnehmung überzeugen.

Auf welche Maßstäbe der künstlerischen Aussage wird man von Goethe nun verpflichtet?

1. Unergründliches Dichterleben

In der "Zueignung" führt Goethe sein Werk erst einmal als Teil seiner Lebensgeschichte vor. Das bliebe ihm unbenommen, würde er nicht unter der Hand diesen Lebensweg in einen Teil des Werks verdrehen. So aber inszeniert er, weil er schon zwanzig Jahre früher ein "Faust"-Fragment und anderes verfaßt und vorgetragen hat, sowohl die Erinnerung an die Jugendwerke -

"Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten,

die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt." -

als Andeutung eines geistigen Reifevorgangs (was heißt hier "trüber Blick"?), wie er auch vergangene Teestunden als hingeschwundene Seelengemeinschaft betrauert -

"Sie hören nicht die folgenden Gesänge,

Die Seelen, denen ich die ersten sang..." -,

womit suggeriert werden soll, daß die Heutigen womöglich gar nicht nachempfinden können, was für mancherlei Beziehungen in das letztlich vorliegende Resultat Eingang gefunden haben. Fürchterliches schwant ihm:

"Mein Lied ertönt der unbekennten Menge,

Ihr Beifall selbst macht meinem Herzen bang..."

Du liebe Güte, was werden die Unbekannten nur wieder aus dem eigentlich nur Gleichgesinnten so recht zugänglichen Opus herauslesen! Diese Jeremiade zeugt zwar keineswegs von sonderlichen Fortentwicklungen der Dichterseele, da schon der "jugendliche Busen " des Johann Wolfgang in Gestalt seines "Werther" von ähnlichen Betrachtungen "erschüttert" wurde:

"Und doch, mißverstanden zu werden, ist das Schicksal von unsereinem." (Werther, 1. Buch)

Aber charakteristisch für das poetische Selbstverständnis ist die als gereimte Kunsttheorie im Tonfall persönlicher Betroffenheit vorgetragene Mahnung zur Vorsicht im Umgang mit dem Werk durchaus. Daß zu dessen angemessenem Verständnis im Grunde das Hineinhorchen in das bewegte Innere des Autors und das Einfühlen in das Ach und Oh seines Ringens um den wahren Ausdruck des Gemeinten nötig sein soll - eine unerfüllbare Bedingung -, hat mit einer "schmerzlichen" Einsicht Goethescher Altersweisheit ja wirklich nichts zu tun. Es ist die geradezu repertoirehafte Manier (selbst der Wissenschaft als hermeneutische Forderung seit altersher geläufig), mit der Dichter ihre einmalig - individuelle Empfindsamkeit so sehr zur Schau stellen wie dementieren: Kaum werfen sie sich in die Pose dessen, der einer tumben Welt ihre subtilsten Geheimnisse mitzuteilen hat, verteilen sie Eintrittskarten wie Faust seinem Wagner - "Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen!" - und nötigen ihrem Publikum als Verständnisgrund von allem, was sie so zu sagen haben, den voraussetzungslosen Glauben daran ab, daß ihre Mitteilungen außergewöhnlicher Natur sind. Angeberei ist die eine Seite dieser haltlosen Tour; die andere Seite ist, daß die penetrante Feier der eigenen Sensibilität nur eine (nicht einmal auf Literaten beschränkte) Methode der Untertänigkeit darstellt: Ein Nachdenken, das bei allem, was ihm so aufstößt, immer wieder auf sich, seine Fähigkeiten und Wahrnehmungsweisen zurückkommt, gehorcht Geboten und stellt solche zu seiner eigenen Würdigung auf. Aus lebensgeschichtlichen Betrachtungen geht das nicht hervor; vielmehr daraus, daß ein Behagen der Art

"Ein Schauer faßt mich, Träne folgt den Tränen,

Das strenge Herz, es fühlt sich mild und weich"

bei freier Betrachtung einer unerquicklichen Realität eben nicht zu haben ist.

2. Idealistische Ironie

Die "eigentliche" Botschaft der Dichtung dem Adressaten mit dem Hinweis auf dessen fragwürdige Fähigkeit zum empfindsamen Nachvollzug zu entziehen, ist ein gewisser Widerspruch.

Goethe, den das Selbstgefühl der nun wirklich total exklusiven Bedeutsamkeit seiner Botschaft aber mächtig umtreibt und zu einer methodischen Reflexion nach der andern bewegt, widmet diesem "Problem" Exposition Nr. 2, das "Vorspiel auf dem Theater". Der dort auftretende Dichter nimmt bis in einzelne Formulierungen hinein das Gesäusel der "Zueignung" auf, beschwört abermals "Lieb und Freundschaft ", das Lebenselement des dichterischen Schaffens; äußert seinen Horror vor dem Publikum, der "Menge", der er um des Augenblickserfolgs willen nicht die "vollendete Gestalt " seines Produkts opfern will; die "erst durch Jahre" herangereift; beruft sich endlich auf das poetische "Menschenrecht", in "aller Wesen unharmon'sche Menge" das spezifisch Künstlerische zu bringen, nämlich Rhythmus und Akkord; - kurz, er ist ein rechter Phantast des poetischen Ideals. Ihm antwortet ein Theaterdirektor als Realist der Aufführungsbedingungen, worunter das schnöde Unterhaltungsbedürfnis des Publikums ebenso fällt -

"Man eilt zerstreut zu uns, wie zu den Maskenfesten,

Und Neugier nur beflügelt jeden Schritt" -

wie dessen fatale Neigung, immer nur das zu verstehen, was es gerade versteht -

"Was hilft's, wenn Ihr ein Ganzes dargebracht?

Das Publikum wird es Euch doch zerpflücken."

Ersichtlich agieren die Figuren auch hier als Sprachrohre Goethescher Literaturtheorie und tragen gemeinsam zu einer neuen Idealisierung des "Eigentlichen" bei, das zum Herzen der Menschheit kommen soll und doch nicht so einfach kommt. Ja, wenn "ein Ganzes " aus irgendwelchen Begebenheiten erst durch "des Menschen Kraft, im Dichter offenbart" wird, - wie soll es sich dann vom gewöhnlichen Verstand begreifen lassen, der ohne poetische Ader nur "ein Ganzes" wahrnehmen kann, das auch eins ist? Wenn es um Begreifen aber sowieso nicht zu tun sein sollte, sondern wieder ums Hineinfühlen in süße Ahnungen von "reiner Freude", "Herzens Segen", "tiefer Brust" und "schönen Frühlingsblüten", dann existiert schon gleich kein Problem, ob das Publikum mit seiner Auffassungsgabe an den Gehalt dieser Absicht heranreicht. Der Wunsch nach Harmonie als moralisches Ideal aller Gegensätze, die einem so das Leben versauern, ist ja bereits dem angeblich so minderwertigen Anspruch auf Unterhaltung und Zerstreuung innewohnend und führt die Fähigkeit u harmonischen Vorstellungen von Kindesbeinen an mit sich, - wo soll da die dichterische Besonderheit liegen? Den Unterschied der poetischen zur kindlichen Einbildungskraft, daß ein Dichter dem Glauben an die Wirhlichkeit der moralischen Weltordnung fortgesetzte Anstrengungen zuteil werden läßt, wenn das Kind schon bei der Einsicht in die Heuchelei dieses Glaubens angelangt ist (was nicht heißt, daß es ihn aufgibt: er wird nur nicht als das Hauptinteresse der Welt festgehalten), schenken wir Goethe allerdings gern; er spricht gegen sich.

Mit der dritten Figur des Vorspiels, einer "lustigen Person", wird den Auslassungen über die Fähigkeit der Kunst, sich verständlich, und den Anlagen der Menschheit, sich "sinnfähig" zu machen, dann aber die Krone aufgesetzt - der Dichterfürst bekennt sich zur ironischen Vermittlung der fiktiven Kontrahenten:

"Greift nur hinein ins volle Menschenleben!

Ein jeder lebt's, nicht vielen ist's bekannt,

Und wo Ihr's packt, da ist's interessant.

... Dann wird bald dies, bald jenes aufgeregt:

Ein jeder sieht, was er im Herzen trägt."

Dieser humorvolle Ratschlag ist ein dichterischer Offenbarungseid in doppelter Hinsicht. Erstens belegt er die tatsächliche "Eigentlichkeit" der literarischen Botschaft: Wer sich nämlich wirklich mancherlei ihm vorher nicht bekannte Fülle und Interessantheit von Dichtern heraus"greifen" und in sein "Menschenleben" "packen" läßt, der ist längst idealistisch und auf der Suche nach Gesichtspunkten, die seinem Alltag einen höheren Sinn geben. Der will alles, was ihm widerfährt, als Auskunft über sich selbst ("was er im Herzen trägt") deuten können, wozu er nur die Idee irgendeiner Ordnung braucht, die sich durch "bald dieses, bald jenes", also beliebig auffüllen läßt. Und für dieses Herzensbedürfnis eines moralischen Subjekts, das sich seinen Lebensweg auf keinen Fall einfach als die Summe der Pflichten vorstellen mag, die ihm abverlangt werden, - nein, es müssen immerfort aufregende Knoten geschürzt und wieder gelöst, interessante Umstände eingegangen und frei zu neuen Ufern verlassen werden! -, dafür taugt die Kunst so gut, wie sie dafür überflüssig ist. Jeder Sportverein leistet denselben Dienst!

Zweitens kennzeichnet Goethe mit seiner Zweckbestimmung aber auch den Schein der poetischen "Eigentlichkeit" sehr treffend: Wer sich nämlich auf den ironischen Hintergedanken einläßt, daß das bald so, bald so beim Publikum "Aufgeregte" nicht die Mitteilung ist, zu der es den Dichter aus einer viel grundsätzlicheren und "ganzes"mäßigen Aufregung drängt, der ist zwar ebenso ein sinnbedürftiger Knilch - jedoch um die Besonderheit seiner Übereinstimmung mit der prästabilierten Harmonie der Welt besorgt, also ein ambitiöser Moralist. Der wünscht sich eingeordnet in einen exklusiven Ideenhimmel, wo er sich jeden Griff "ins volle Menschenleben", den er sich erlaubt, als Erledigung eines gerade ihm erteilten höheren Auftrags vorstellen kann. Wer wird nicht zugeben, daß zum Interessant-Machen einige Kunst gehört! Nur leider: Es gehört nicht mehr dazu als einiger Glaube an die eigene Vortrefflichkeit, der seine Nahrung weiß Gott nicht aus der "Innigkeit des Herzens" bezieht.

3. Methodische Kunstreligion

Zum Wesen der idealischen Ironie gehört es, daß sie die Umkehrung der wirklichen, also gar keine ist; das Uneigentliche, bloß auf Dahinterliegendes Deutende des "vollen Menschenlebens", mit dem die Dichtung nur (auf das Wahre an-) spielen soll -

"In bunten Bildem wenig Klarheit,

Viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit" -,

ist von Goethe bitter ernst gemeint. Die Berufung auf die in der Darstellungsweise kenntliche Distanz zum dargestellten Inhalt, der noch etwas anderes sein soll, als er zu erkennen gibt, macht an diesem Inhalt nämlich überhaupt keinen bestimmten Mangel geltend, sondern erklärt ihn methodisch zum Geheimnis, zum Schein seiner selbst. Diese der Dichtkunst moderner Zeiten bis zu Thomas Mann immer neue Anstöße gebende Tour ist das Hilfsmittel, den Köhlerglauben an den moralischen Charakter jedes Ereignisses gerade angesichts eines bürgerlichen "Lebens" immer noch hoffähig zu halten, das mit seinen Idealen längst ziemlich funktional umgeht. Ein Mysterienspiel wie der "Faust" findet nur deshalb Anklang, weil sein gebildetes Publikum die Idee des Strebens nach Sinn zwar selbst praktiziert, sich aber ihren religiösen Inhalt nicht als solchen vorstellen möchte, sondern dabei eine besonders tiefsinnige Verstandestätigkeit am Werk sehen will.

Der "Prolog im Himmel", Abschluß des Dreigestirns von Hinführung zum "Faust", ist Goethe auch genau deswegen eingefallen und gilt aus demselben Grund als besonders originell. Denn an und für sich ist es ja ein Witz, ein dramatisches Bildwerk mit dem Fingerzeig einzuleiten, den der "Chorus mysticus" mit freiwillig unfreiwilliger Komik als Auflösung des ganzen Theaters gegen Ende von Faust II darbietet:

"Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis;

Das Unzulängliche, / Hier wird,s Ereignis..."

Mit diesem Schluß und seiner Vorwegnahme im himmliichen Szenario, das die Wahrheit des Faust-Gleichnisses und selbst natürlich auch nur ein Gleichnis sein will, bekennt sich Goethe bereits zum dritten Mal dazu, daß es die Vorstellung eines höheren Hintergrunds, einer Bedeutungshaftigkeit aller irdischen Dinge, erst einmal als rein willentliche Leistung braucht, damit man dann das kunstfertig vorgetragene Geschehen als Vordergrund richtig verstehen und sich die Deutung des faustischen Strebens als Ausdruck der tiefen Humanität sinngeiler Bemühungen, also auf einen allgemeinmenschlichen Hintergrund des Daseins "verweisend", als theoretische Tat zugute halten kann.

Zwischen dem "Prolog im Himmel" und dem "Faust", seinem Epilog auf Erden, waltet also ein drolliges Verhältnis: Ohne seine Funktion für das ihm folgende Stück wäre der Prolog nur lächerlich. Welcher aufgeklärte Miensch glaubt schon ernsthaft daran, daß ein munteres Hin und Her zwischen Engel, Teufel und Herrgott der Ausgangspunkt seiner irdischen Geschicke ist? Zwar ist dies nur ein Bild der ihm durchaus geläufigen -nahme, daß die Welt sich nach moralischen Prinzipien richtet, - aber gerade in dieser Bildhaftigkeit ist der Irrationalismus zu deutlich erkennbar. Zu einer bloßen Einbildung mag sich mit seiner Moral ja auch keiner bekennen, - objektiv soll der Idealismus schon sein. Und diesen Schein der Objektivität besorgt der hingedrehte Umstand, daß das Himmelstheater "nur" der Hindergrund für eine ihrerseits irdisch motivierte Handlung ist. Die Entschlüsselung der religiösen Symbolik - intellektuell überaus anspruchsvoll da sich die himmlischen dramatis personae sowieso nur wechselseitig ihren Begriff an den Kopf werfen - ersetzt so den Glauben an ihren Inhalt; was freilich nur eine etwas umständliche Art des Glaubens ist. Um gekehrt: "Faust" ohne Prolog hätte den Mangel, daß dann zwar menschliches Sinnstreben Gestalt annimmt, aber ohne daß dessen Sinn anders als durch Beteuerungen des Protagonisten kenntlich würde. Und wer möchte sein moralisches Ideal schon in blossen Schrullen eines intellektuellen Sonderlings wiedererkennen? Für die Vorstellung des zutiefst humanitären Charakters solcher Idiotien, die keine sein dürfen, ist ein über die eigentliche Handlung hinausgreifendes Szenario in der Tat als Vorspiegelung von Allgemeinheit und Tiefe vonnöten. Die moderne Aufführungspraxis beweist nur, daß man die sinngebenden Deuter des himmlischen Hokuspokus auch durch sonstige Kulissenschieberei ersetzen kann; ein schönes Zeichen dafür, wieviel Mühe freie Geister darauf verschwenden, sich des Lohns ihrer Sehnsucht nach einem Beitrag zum sittlichen Kosmos zu versichern - der "Schweiß", den der Glaube an die Sinnträchtigkeit der Welt seiner Gemeinde und seinen Propheten kostet, ist noch immer das beste Argument dafür.

Wie leicht beides, die Illusion und die Tiefe des Sinns, zu haben ist, lehrt ein Blick auf den Inhalt des "Prologs im Himmel": Da geht es vielleicht zu!

- Erst posaunen drei Erzengel, die einer Naturreligion entsprungen sein müssen, Sonne, Erde, Mond und Sterne (nicht zu vergessen das Wetter) als "unbegreiflich hohe Werke" des Herrn aus, bei dem sie zugeben müssen gern ihre Jubeldienste zu verrichten:

"Der Anblick gibt den Engeln Stärke,

Da keiner dich ergründen mag..."

Ein Engel müßte man halt sein! - Diesem Neid verleiht ein Teufel namens Mephistopheles Ausdruck, der sich wenigstens darüber befriedigt, daß er ein gewissenhafterer Moralist als die hohlen Lobhudler ist:

"Verzeih, ich kann nicht hohe Worte machen,

...Mein Pathos brächte dich gewiß zum Lachen"

Aber woher denn; der jesuitische Höllensohn beherrscht sogar die zwiefache Heuchelei, sich erstens nur m andere zu sorgen (blamiert daneben die Herren Erzengel, die sich an der eigenen "Stärke" erbauen) -

"Von Sonn' und Welten weiß ich nichts zu sagen;

Ich sehe nur (!), wie sich die Mernschen plagen." -,

wenn er zweitens danach schielt, mit einem Tritt ans Schienbein des Herrn die eigene Lauterkeit als besserer Vertreter der himmlischen Harmonie zur Geltung zu bringen:

"Ein wenig besser würd' er leben (sc. der Mensch),

Hätt'st du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben;

Er nennt's Vernunft und braucht's allein,

Nur tierischer als jedes Tier zu sein."

Heißt man das, "nur" die menschlichen "Plagen" zu sehen, wenn man die Objekte der moralischen Besorgnis gleich ihrer Sündhaftigkeit zeiht? Dieser erlesene Grund aller Mißstände auf Erden geht natürlich auf den Mißbrauch eines Gottesgeschenks zurück, die "Vernunft", die der vertrauensselige Herr seinen Schäfchen dummerweise ohne die nötige Zugabe der Milch der frommen Denkungsart vermacht hat - man sieht, der Teufel ist in der Tat ein gefallener Engel, ein frustrierter Jubelperser und wie jede ihm darin gleichgesinnte Oma mit der Weltordnung solange nicht zufrieden, wie Sitte und Anstand nicht die Regentschaft innehaben.

- Der Herr, als Dritter im Bunde, ist vor menschlichen Schwächen zwar auch nicht gefeit, wenn seine "hohen Werke" so angepinkelt werden, und vermißt das Konstruktive in der teuflischen Kritik:

"Kommst du nur immer anzuklagen?

Ist auf der Erde ewig dir nichts recht?"

Aber letzten Endes ist er sich der Wohlgeratenheit seiner Schöpfung auch in moralischer Hinsicht so sicher, daß er sich selbst an der sittlichen Funktion des "Schalks" vergnügt:

"Des Menschen Tätigkeit kann allzu leicht erschlaffen,

Er liebt sich bald die unbedingte Ruh;

Drum geb ich gern ihm den Gesellen zu,

Der reizt und wirkt und muß als Teufel schaffen."

Bei jedem illiterarischen Austausch derartiger Moralbetrachtungen wäre nun der Dialog erschöpft; der eine sieht alles aufs Sinnreichste geordnet, der andere klagt über den Sittenverfall, und der dritte meint, daß auch ein Regentag sein Gutes hat und die Unmoral überhaupt der Stachel des Gerechten ist. So bestätigt jeder dem andern, daß die ganze Welt ein einziger Gottesdienst ist, zu sein hat und unvermeidlich so bleibt.

- Hier tritt allerdings der Autor als heimlicher Vierter auf den Plan, der mit seinem Szenario zwar die Alternativen schon vorgestellt hat, wie flink man zur jeweiligen Selbstzufriedenheit mit der Einrichtung der Welt (= Sinn) gelangt, diesem Ziel aber partout die Anstrengung einer verwirrungsvollen Suche beigesellen will. Diesem Bedürfnis einer gesonderten Vergewisserung des moralischen Ideals folgend, läßt er seine Figuren aus der Rolle fallen. Obwohl Mephisto und der Herr sich des Stellenwerts ihrer wechselseitigen Auffassungen durchaus bewußt sind, schließen sie eine Wette darüber ab und erküren sich den Doktor Faust zum Exempel. Dabei hält der eine ihn sowieso für seinen "Knecht", kennt sich aus -,

"Weiß doch der Gärtner, wenn das Bäumchen grünt,

Daß Blüt' und Frucht die künft'gen Jahre zieren." -

und wiederholt in der Wettbedingung (unter welchen Umständen er den Faust verloren gibt), daß der Sündenfall erstens selber auf die Existenz der Moral zurückgeht -

"Es irrt der Mensch, solang er strebt." -,

sowie todsicher zweitens zu deren glanzreicher Wiedererringung hinführt:

"Ein guter Mensch, in seinem dunklen Drange,

Ist sich des rechten Weges wohl bewußt."

Und der andere willigt darin ein, die menschliche Unvernunft ausgerechnet an einem Musterexemplar von Idealisten in Versuchung zu führen, bei dem von vornherein nicht abzusehen ist, womit er eigentlich versucht werden soll - nachdem sein Herz schon an rein gar nichts hängt:

"Nicht irdisch ist des Toren Trank noch Speise!

Ihn treibt die Gärung in die Ferne;

... Und alle Näh und alle Ferne

Befriedigt nicht die tiefbewegte Brust."

Diese Wette, soviel läßt sich voraussehen, ist entweder gar nicht zu entscheiden, da sie auf reine Definitionssache hinausläuft, was die beiden Wettpartner jeweils als Beweis des "rechten Weges" bzw. seines Gegenteils zu betrachten wünschen. Oder derjenige entscheidet die Angelegenheit per Handstreich, der das Sagen hat - was denn ja auch geschieht; Ende des Dramas:

"Wer immer strebend sich bemüht,

Den können wir erlösen."

Man erinnert sich, daß das "Streben" vorhin der einzig erlaubte Zugriff der "Versuchung" war!

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Mit diesen methodischen Präliminarien, die 353 Verse des Dramas ausmachen, ist der Gegenstand des "Faust" im Prinzip abgehandelt. Wie ihr Inhalt aber zeigt, ist dem Dichter dieses Prinzip jedoch zuwenig, so daß weitere 11.758 Verse das feststehende Gedankengut in die Breite ziehen. Es war ja auch eine Handlung versprochen! Wenn wir unseren, von Goethe so vollständig gebotenen Blick in die Dichterwerkstatt freilich zusammenfassen

- das Ringen um und die Befriedigung des Poeten an seinem Werk

- den Schein der Verantwortlichkeit, den er sich in der Wahl seiner Mittel zulegt und von dessen Unwahrheit er weiß,

- schließlich das moralische Ideal eines sittlichen Strebens, das seinen Dank in sich selbst trägt, nämlich in seiner Zugehörigkeit zu einem guten Weltplan,

dann steht jene Handlung als bloßes Material, gleichgültiges Bilderwerk dieser immer wieder auf das dünne Prinzip zurückführenden poetischen Interessen fest. Getreu seinen Regeln schildert Goethe im eigentlichen Drama sein Ideal von sich; erzählt keine Geschichte, sondern bietet Geschehnisse so dar, daß sie seiner Weltanschauung entsprechen. Das hinzukriegen, ist Kunst: die Instrumentalisierung nicht des Verstandes (wie in der Wissenschaft), sondern der Vorstellungskraft für die Vergegenwärtigung eines befriedigenden Sinns der Welt. Daß es sich bei dieser öden Anstrengung um ein "freies Schweifen seliger Genies" "handeln soll, ist ihr Ideal oder eben: ihre Botschaft.

Das faustische Streben

Ein Drama besonderer, für die ästhetische Moralität durchaus gewollt exemplarischer Art ist der "Faust" nun auch in der Durchführung. Davon abgesehen, daß seine eigentliche Handlung (die des I. Teils) von dem alternden Goethe nach den diversen Hinführungen auch noch als II. Teil eine ganze Wegführung erhalten hat, die die Handlung in das mit ihr Gemeinte auflösen und tatsächlich in die höheren Sphären des "Prologs" zurückführen will, ist schon der Tragödie erster Teil ein ziemlich theoretisches Schauspiel. Als hätten seine Personen durch ihre Taten nicht einfach die dichterische Botschaft vor die Sinne zu stellen, sondern immer noch für ihr Existenzrecht im Reich des Geistes zu argumentieren, laufen sie mit wenigen Ausnahmen ständig als Sprachrohre ihres eigenen Begriffs herum und geben zu erkennen, daß ihr Schöpfer seiner Phantasie Gewalt antun muß, um sie in den Dienst seines Ideals zu zwingen.

1. Erkenntnis und Interesse

Das beginnt schon damit, daß der Held des Stücks über alle Seiten seiner Existenz endlose Monologe hält. Der berühmte erste:

"Habe nun, ach! Philosophie, (usw.)...

Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.

Da steh' ich nun, ich armer Tor,

Und bin so klug als wie zuvor!"

Wie das? Hat er nicht aufgepaßt? Nein, das Problem liegt tiefer. Gerade weil er soviel weiß, sieht er,

"...daß wir nichts wissen können!

Das will mir schier das Herz verbrennen."

Da man aber sehr wohl etwas weiß, wenn man etwas herausgekriegt hat, und umgekehrt der prinzipielle Zweifel an der Möglichkeit des Wissens nicht gut selbst ein Resultat von Erkenntnis sein kann, scheint Doktor Faustus zwei Sorten von Wissen zu kennen. Die Sorte, die er studiert hat, befriedigt ihn nicht, er ist auf eine andere aus:

"Daß ich erkenne, was die Welt

Im Innersten zusammenhält,

Schau' alle Wirkenskraft und Samen

Und tu' nicht mehr in Worten kramen."

Dieses Interesse ist in der Tat wissenschaftlich nicht zu verfolgen. Es zielt ja auf ein Wissen ab, das der Erkenntnis die Mühe von Erklärungen abnimmt, indem es dem Gelehrten ohne den Umweg über sein Nachdenken die Wahrheit frei Haus liefert. Sein Grund liegt daher nicht in einer bestimmten Kritik der Theorien, die Faust vorgefunden hat, sondern in seiner intellektuellen Psychologie: Weil Faust seinem Denken das Resultat vorschreibt, daß es ihn befriedigen, zum Einklang mit der Welt bringen, seinem Dasein als Geistesriese also einen Sinn geben soll - und es das nicht leistet, deshalb ergibt er sich der Magie, um den Stein der Weisen zu finden. Die Moral ist der Ausgangspunkt seiner Sinnsuche, die Sehnsucht nach Rechtfertigung seines Geistes vor Maßstäben, die nicht umfassend genug sein können, damit dem Doktor auch ein würdiger Platz in der Weltordnung zuteil werde: ein so elitäres wie demütiges Ideal. Das Denken, das er ausgiebig praktiziert, mag Faust sich nur als eine einzige Last vorstellen und seufzt den Mondschein an:

"Ach! Könnt' ich doch...

Auf Wiesen in deinem Dämmer weben,

Von allem Wissensqualm entladen,

In deinem Tau gesund mich baden!"

Derselbe Gesundungsgedanke, nun wieder als Ziel seines Übergangs zur Magie vorgetragen:

"Erkennest dann der Sterne Lauf,

Und wenn Natur dich unterweist,

Dann geht die Seelenkraft dir auf,

Wie spricht ein Geist zum andern Geist."

Offenbar hieße Faust mit Vornamen am liebsten Johann Wolfgang, imaginiert er sich doch als Wunschidee der Erkenntnis, was die Kunst zu verschaffen vorgibt - die über allem Irdischen schwebende Harmonie, die ihren Jüngern ein Glückserlebnis nach dem andern bereitet. Anspruchsvoll ist die Idee der Seelenkraft im Wiesentau schon; wessen höchstes Problem nämlich im "Wissensqualm" liegt, der ihm nicht auch noch ein idealistisches Wohlsein vermittelt, der ist ja überaus zufrieden mit allen sonstigen Gegenständen der Welt und möchte sich einbilden, ausgerechnet im Vergleich mit immer weiter denkbaren Graden des Hochgenusses den Grund zur allerschlimmsten Unzufriedenheit zu haben. Dem Famulus Wagner, der ihn beim Deklamieren von Beschwörungsformeln stört, wirft er die Bemerkung hinterher:

"Wie nur dem Kopf nicht alle Hoffnung schwindet,

Der immerfort an schalem Zeuge klebt,

Mit gier'ger Hand nach Schätzen gräbt,

Und froh ist, wenn er Regenwürmer findet!

Darf eine solche Menschenstimme hier,

Wo Geistesfülle mich umgab, ertönen?"

Diese Tirade zieht Wagner sich zu, weil er dauernd etwas zu "profitieren", zu "fragen" und zu lernen sucht! Das verdient die Verachtung des Moralisten Faust, der nichts mehr schätzt als die Besonderheit seiner Erkenntnistätigkeit, unter einem veritablen Schatz als Ziel seiner Bemühung das Denken gar nicht erst anfangen will - und sich sehr konsequent einem kindischen Irrationalismus hingibt.

Den Kanon der Außergewöhnlichkeit seines Strebens inszeniert dieser ideale Problem-Geist (mit dem sich freudig all jene identifizieren dürfen, denen die tiefe Humanität, d.h. Problematik ihrer Wissenschaft selbst ein Anliegen ist) im folgenden

- in einem Versuch des Selbstmords als sinnstiftender Tätigkeit:

"... Ich fühle mich bereit,

Auf neuer Bahn den Äther zu durchdringen

Zu neuen Sphären reiner Tätigkeit.

Dies hohe Leben(?), diese Götterwonne!"

- woraus er durch Ostergesänge gerissen wird, deren sinnstiftende Qualität ihm, obwohl er sie offenbar empfindet, doch komplett unzugänglich sein soll:

"Die Botschaft hör' ich wohl, allein mir fehlt der Glaube;

... Zu jenen Sphären wag' ich nicht zu streben,

Woher die holde Nachricht tönt."

(das Ausgefallenste wagen, das Allergewöhnlichste aber scheuen: so ein Sinnbedürfnis macht es sich nicht leicht!)

- schließlich auf einem Osterspaziergang; wo er nochmals demonstriert, daß er erbtens die Kunst der moralischen Erbauung sehr unproblematisch beherrscht, indem ihm zu den übrigen Spaziergängern sogleich die Lehre einfällt:

"Hier ist des Volkes wahrer Himmel, Zufrieden jauchzet groß und klein:

'Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein!'"

"Darf" jauchzt bestimmt keiner! Zweitens muß Faust unmittelbar darauf Gelegenheit erhalten, seine Erbaulichkeit wieder als Problem hinzustellen, damit er den Anstoß zum Suchen des längst gefundenen Sinns nicht verliert. Weshalb er sich auf bürgerlichen Beifall für seine ärztliche Tätigkeit. -

"Gesundheit dem bewährten Mann,

Daß er noch lange helfen kann!" -

mit der Bejammerung seiner dummen Absicht bedankt, die Pest "mit Beten und mit Fasten" zu bezwingen, und auch aus der Einsicht, den Kranken manches Gift verabreicht zu haben, nicht den Schluß zieht, in Zukunft ein besserer Arzt zu werden, sondern beim Anfangsproblem landet, daß alles Wissen "nichts Rechts" taugt und eben ein "Zaubermantel" nötig wäre.

2. Versuchung und Schuld

Zu Faustens Glück - und damit endlich so etwas wie eine Handlung in Gang kommt begegnet ihm dann Mephisto in Pudelsgestalt, streift sie ab, bietet einen Pakt an und schließt ihn mit Blutstropfen. Der Inhalt des Paktes entspricht der himmlischen Wette: Mephisto garantiert die Erfüllung jedes faustischen Begehrs, und Faust macht geltend, daß er überaus schwer zufriedenzustellen ist -

"Doch hast du Speise, die nicht sättigt? hast Du rotes Gold, das ohne Rast,

Quecksilber gleich, dir in der Hand zerrinnt?

Ein Spiel, bei dem man nie gewinnt?

Ein Mädchen, das an meiner Brust

Mit Äugeln schon dem Nachbar sich verbindet?"

u. dgl. mehr.

"Des Menschen Geist in seinem hohen Streben" so, wie's gemeint ist, zu charakterisieren, fällt nicht durch Zufall schwer. Natürlich sind die Beispiele kurios, weil es zu der Erfüllung solcher Wünsche keineswegs einen Teufel braucht; im Gegenteil ist all das ja sehr leicht zu haben. Aber man muß - wie Faust und Goethe - zu ihrer rechten Auffassung auch nicht an sie, sondern an ihr Prinzip denken. Und das Prinzip ist die Idee einer Zufriedenheit, die "des Menschen Geist" aus allen Gegenständen und Tätigkeiten getrennt von ihrem Nutzen ziehen möchte - also rein aus der Methode seines Verhältnisses zu ihnen. Unerfüllbar und strebensbedürftig kommt Faust dieses ideelle Interesse nur deswegen vor, weil ganz offensichtlich der Wunsch nach Befriedigung und die Befriedigung selbst hier ein und dasselbe ist - was einzusehen, die moralische Attitüde des Strebers nicht zuläßt: Wie jeder "hohe Geist" will er den Umstand, daß für seine Geschäfte gesorgt ist, als in seiner Tugend, mithin einer ideellen Leistung begründet wissen.

Der Schalk Mephisto steht seinem Gegenüber in nichts nach. In seinem Urteil über Faust wendet er dessen Sinn-Kriterium gegen ihn:

"Verachte nur Vernunft und Wissenschaft,

Des Menschen allerhöchste Kraft,

... So hab' ich dich schon unbedingt!"

Der Teufel ist also der Meinung, die Vernunft selbst sei dazu da, mit ihrer "Kraft" (die sogar die "allerhöchste" sein soll) den Sinn zu schaffen, den Faust gerade woanders sucht; die Hochachtung vor der Theorie ist nichts als die passende moralische Umkehrung ihrer Verachtung. Beidemal geht es nicht um den Inhalt von Erkenntnissen, sondern um den "Wert", den sie für die Einbildung einer höheren Notwendigkeit und Aufgabenstellung der Geistesfreiheit haben. (Dort, wo Mephisto nicht selbst positiv ist, was für einen "Geist, der stets verneint", die unselige Folge seiner auf die Idee des Negativen angelegten Natur ist -, sondern seine Kritik an der faustischen Idealisierung der Theorie im Dialog mit einem "Schüler" ausführt, weiß er diese beiden Seiten übrigens hübsch zu widerlegen!) In diesem abstrakten Gefilde fallen dann auch, wie die faustischen Gelüste, die mephistophelischen Versuchungen matt aus: Weder Auerbachs Keller noch die Walpurgisnacht als Beispiele irdischer wie höllischer Lustbarkeit machen sonderlich den Eindruck, als könnten sie dem Sinnstreben den fatalen Ankerplatz des "Augenblicks" bieten, der "so schön" ist, daß Faust vom Teufel geholt werden muß.

Die einzige wirkliche Versuchung tritt erst in Gestalt des Gretchens auf; nachdem es zunächst so aussieht, als gewönne der philosophische Held wenigstens in diesem Fall einige menschliche Züge -

"Beim Himmel, dieses Kind ist schön!

So etwas hab ich nie gesehn.

... Der Lippe Rot, der Wange Licht,

Die Tage der Welt vergeß ich's nicht!" -,

weil der Idealismus hier glaubhaft wirkt, ist er wenig später jedoch schon wieder dabei, das Liebesabenteuer in sein christliches Weltbild einzureihen und an der Holden besonders den tiefen Sinn ihrer dümmeren Seiten zu schätzen:

"Ach daß die Einfalt, daß die Unschuld nie

Sich selbst und ihren heil'gen Wert erkennt!

Daß Demut, Niedrigkeit, die höchsten Gaben

Der liebevoll austeilenden Natur -"

Genau dieser Moral wegen stirbt Gretchen zum Schluß, aus Scham über verletzte Unschuld, unter Selbstbezichtigungen für den Tod der Mutter und des Bruders, etc. Was fällt Faust dazu ein?

"Mich faßt ein längst entwohnter Schauer,

er Menschheit ganzer Jammer faßt mich an."

Wie teilnahmsvoll! Schöner kann sich das humanistische Pathos des "Sinns" nicht ad absurdum führen. Nicht deshalb, weil Faust eine Mitschuld an Gretchens Unglück träfe; diese moralische Qualifizierung hat Goethe schließlich nur durch des Teufels Hinterlist in Szene gesetzt. Aber deshalb, weil hier sehr anschaulich wird, daß etwas zu wissen, zu wollen oder zu empfinden nicht dasselbe ist wie sich nach dem "Wert", dem "Umfang" oder der "Tiefe" des Wissens, Wollens und Empfindens zu erkundigen. Im letzteren Fall besteht die ganze Welt nur aus einem Sinn: Sie bereichert, was auch immer passiert, das Innenleben ihres Liebhabers ungeheuer. Soll man sich auf ein Unterwerfungsdenken dieser Art etwas zugute halten?