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Dieser Artikel ist in der MSZ 5-1987 erschienen.

Systematik

Zum Abgang des SPD-Vorsitzenden
ÜBLE NACHREDE AUF WILLY BRANDT

Leute, denen bereits zu Lebzeiten nachgesagt wird, ihnen wäre ein Platz in der Geschichte sicher, haben bei ihren Zeitgenossen einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Bei einem Staatsmann geht das am schnellsten, weil sein Geschäft, mit dem er seinen Freunden und Feinden imponiert, die Gewalt ist - und die gebietet Respekt. Wenn einer es schafft, als Politiker auch noch be-, gar geliebt zu werden, dann muß er es verstanden haben, den Zwang als Wohltat, die Rücksichtslosigkeit als Gewissen und die Charaktermaske als persönliches Schicksal vor dem betroffenen Publikum zu repräsentieren. Gegen einen von dieser üblen Sorte im folgenden 7 Argumente und ein unversöhnlicher Epilog.

1. Fanatiker Berlins: Bürgermeister in der Frontstadt

"Für jeden, der ein Herz für die Menschen dieser Stadt Berlin hat, war es bewegend zu sehen, wie sie in Kälte und Schnee die Nacht durchstanden, um zum Bruder, zum Vater, zur Mutter, zum Sohn im anderen Teil zu kommen... Selten ist so deutlich wie in diesen Weihnachtswochen dokumentiert worden, daß wir ein Volk und eine Nation sind."

So schlachtete der sozialdemokratische BRD-Statthalter in Westberlin die "Leiden der Menschen" in seiner geteilten Stadt anläßlich des Passierscheinabkommens von 1964 aus, nachdem ihm die Bürger durch Schlangestehen dafür dankten, daß sein Senat sie endlich hinüberließ. Die DDR hatte nämlich noch während des Mauerbaus in den S-Bahnhöfen Passierscheinstellen erichten lassen, die Brandt von seiner Polizei abräumen ließ, weil sie einen "Hoheitsakt" der damals noch so genannten Ostzone auf dem Freiheitsboden der Frontstadt dargestellt hätten. Brandt war immerhin nicht zuletzt deshalb 1957 "überraschend" von seinen Berliner Genossen als Bürgermeister nominiert worden, weil er als Vertreter der "harten Linie" Ernst Reuters galt, die bereits mit der Westintegration Adenauers sympathisierte, als die SPD in Bonn noch vom "Kanzler der Alliierten" sprach. Als "besonders militärfreundlicher Sozialdemokrat" und "weit weniger von ideologischen Skrupeln geplagt als viele Genossen" (R. Zundel), die noch nicht begriffen hatten, daß der demokratische Sozialismus nur in der NATO und in einem (wieder-)bewaffneten (West-)Deutschland zu verwirklichen geht, begriff der Regierende Bürgermeister, daß sich in Berlin mit der Kommunal- nichts weniger als Weltpolitik machen ließ. Der Scharfmacher im Schöneberger Rathaus schalt die Reaktion der USA beim Mauerbau als "schlapp", weil sie nur den Vizepräsidenten schickten und nicht ihre Militärpolizei demonstrativ in den Ostsektor. Der Vater der Ostverträge brachte als junger Staatsmann den großen Alten in Bonn in den Geruch des Vaterlandsverräters, weil Adenauer den Bau der Mauer "mitten durch Berlin" nicht sofort zum Anlaß nahm, Brandt politisch aufzuwerten durch einen gemeinsamen Inspektionsgang entlang der Baustelle. Und der bereits zum Kanzlerkandidaten aufgerückte (Publikums-) Liebling der Partei feierte seinen größten Triumph an der Seite des obersten Führers der Freien Welt, John F. Kennedy, dem er hunderttausend fanatische Frontstadtbürger vorführte, worauf dieser freudig ausrief: "Ick bin oin Börlina!" Gleichzeitig muß Brandt aber auch klar geworden sein, daß mit der Durchsetzung ihrer Staatsgrenze auch in Berlin die DDR von Westberlin aus nicht mehr zu knacken war, und daß der Neu-Berliner aus Washington dafür nicht den Weltkrieg III riskieren wollte. Deshalb entdeckte Brandt früh die Möglichkeit und die Mittel einer Subversion des Feindes über die Mauer hinweg. "Im Bewußtsein um die Stärke des Westens" knüpfte er Kontakte mit dem "Unrechtsregime". Und von da an gibt es auch eine an der Sache völlig vorbeigehende, aber dafür um so gehässigere Kritik, die das "mit einer weichen Welle gegenüber der Sowjetunion oder gar dem Ulbricht-Regime verwechselt. Das darf man nicht." (Brandt am Beginn der ersten Passierscheinverhandlungen). "Fest in den Grundsätzen, beweglich in den Methoden" benutzte Brandt den politisierten Familiensinn seines frontstädtischen Fußvolks: Gegen die DDR, weil es nicht hinüberdurfte, und gegen die CDU-Konkurrenz im eigenen Lager, weil er dreimal in seiner Amtszeit zur Weihnachtszeit der DDR gestattete, die Brüder und Schwestern in Ost-Berlin einfallen zu lassen.

2. Ein sozialdemokratischer Führer: Opportunismus aus Engagement

An diesem politischen Talent wollte die Partei bereits 1961 nicht mehr vorbeigehen und proklamierte Willy Brandt zum Kanzlerkandidaten unter dem weiteramtierenden Vorsitzenden Erich Ollenhauer. Mit dieser Kür bewies die SPD, daß sie im Gegensatz zu allen interessierten Verleumdungen ihrer Gegner zur alternativen demokratischen Volkspartei in der BRD geworden war: Ihre Wahlniederlagen erklärte sie sich aus der mangelnden Attraktivität des Kanzlerkandidaten Ollenhauer fürs Stimmvieh, und deshalb wurde dem eine Machtbesetzung angeboten, die "Charisma" ausstrahlte - und das produziert in der demokratischen Politik nur der Erfolg: Im Fall Brandts seine absoluten Mehrheiten in Westberlin. Ollenhauer wurde wegen seines zu penetranten sozialdemokratischen "Stallgeruchs" abgehalftert und durch den Duft der großen weiten Welt ersetzt.

Über zwei Flügel verfügte die Partei Anfang der sechziger Jahre vorübergehend nicht mehr: Der Gewerkschaftslinken hatte die Justiz durch den Schauprozeß gegen den IG-Metalleoretiker Agartz den Prozeß wegen "Landesverrats" gemacht. Die SPD schloß den Freigesprochenen aus der Partei aus, ebenso wie ihren Studentenverband SDS, der von der Berufung auf Marx nicht lassen wollte, Beziehungen zur DDR forderte, also auch so etwas wie Landesverrat trieb. Brandt beförderte innerparteilich beide Säuberungen und trat nach dem Tode Ollenhauers für den Parteivorsitz an. Selbstverständlich, mit dem Schwur, jetzt alles in seinen Kräften Liegende für die Einheit der Partei zu tun. "Versöhnen statt Spalten", mit sinngemäß dem gleichen Spruch scharte der neue Vorsitzende die Partei nach den Wahlniederlagen von 1961 und 1965 hinter sich, die an ihm festhielt, weil sie erstens auf keinen erfolgversprechenderen Stimmenfänger kam, und weil Brandt zweitens in der Großen Koalition jene Tour ein- und zufiel, wegen der er 1987 als "eine der großen Gestalten in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie" gefeiert wird: das eigenhändige Spiel auf zwei Flügeln. Keinem der beiden ließ r sich rechnen, und auf ihn durften alle setzen: von den Jusos bis zu den "Kanalarbeitern", von Eppler bis Apel, von den Arbeitsgemeinschaften für Arbeitnehmer- bzw. Frauenfragen bis zu den intellektuellen Hiwis um G. Grass und jetzt, beim Abgang, Vogel und Lafontaine. Der Große Vorsitzende ließ bei jeder Mannschaft der parteiinternen Konkurrenz den Willy raushängen - und dann den Brandt im Fernsehen verkünden, da@ die Sozialdemokratie sehr für Diskussion sei, was sie auszeichne; daß aber ausschließlich getan werde, was im Vorstand bzw. im Kabinett beschlossen wird. Der Journalist K. Harpprecht, lange Jahre fürs Fernsehen im Arsch des SPD-Vorsitzenden, dann Ghostwriter des Kanzlers Brandt, lobt den Charakter des Objekts seiner Verehrung:

"Was Brandt charakterisiert, ist nicht Entscheidungsscheu, sondern der sparsame, ökonomische Gebrauch seiner Führungsautorität... Er versteht die Kunst, die Dinge sich entwickeln zu lassen, gibt unmerklich Anstöße in der von ihm gewünschten Richtung... er setzt bewußt auf den liberalen Prozeß der Meinungsbildung, nicht zuletzt auch deshalb, weil auf diese Weise erreichte Entscheidungen stabil und von einer soliden Mehrheit getragen sind."

So hat er sich eisern zwischen den in der Partei entwickelten Positionen gehalten, einmal dem rechten gegen den "linken" Flügel wg. "Sachzwang" leider rechtgeben müssen, dann bei Personalentscheidungen wieder das Parteiestablishment durch seine Lanze für einen müpfigen Nachwuchsstar düpiert, und bis zuletzt über den Parteiquerelen. Bis zuletzt, denn wegen der Griechin ist er selbst Opfer einer personalpolitisch ausgetragenen Parteirancune geworden, so daß er jetzt nur noch als Gallionsfigur über den Niederungen des Gezänks fungieren kann. Aus dem Vorsitzenden wird wohl im Juni der Ehrenvorsitzende der SPD werden.

3. Erbschleicher des CDU-Staats: Die Sozialdemokratie mit Macht

"Wirtschaftlich nahezu ein Riese, verhält sich die Bundesrepublik Deutschland politisch wie ein Zwerg. Gewisse Eierschalen müssen weg. Wir kommen nicht durch als Musterschüler, der jeweils nickt, wenn der amerikanische Präsident sich räuspert... Wenn wir uns selbstbewußt zu Wort melden, so gehört dies zu einem Prozeß der inneren Gesundung."

Beachtenswert an dieser Bilanz der ersten 20 Jahre BRD ist das fröhliche Bekenntnis des Vorsitzenden einer immer noch als "Arbeiterpartei" geltenden SPD zum expandierenden Kapitalismus, dem es jetzt nur noch an internationaler politischer Durchschlagskraft mangelt. Mit dem Godesberger Programm hatte sich die SPD auch deklamatorisch zur freien Marktwirtschaft bekannt. Das Ja zu Bundeswehr und NATO folgte. So trugen die "Erben von 125 Jahren Arbeiterbewegung" das Ihre dazu bei, daß aus den christdemokratischen Prinzipien, wie der westdeutsche Klassenstaat einzurichten, zu verwalten und zu effektivieren sei, das unbezweifelte, also unbezweifelbare Kriterium für hierzulande zulässige Politik wurde.

Die Große Koalition, mit der die SPD den C-Parteien aus einer Koalitionskrise mit den Liberalen half, war für Brandt mehr als nur ein taktischer Schachzug auf dem Wege zur (vollen) Macht: Mit ihr konnte die Daueroppositionspartei SPD nicht nur ihre Staatsloyalität praktisch beweisen, vielmehr spielte sich der neue Vizekanzler und Außenminister von Anfang an nicht als Juniorpartner des Ex-Nazis Kiesinger, sondern als der direkte Rechtsnachfolger des Nazi-Gegners Adenauer auf, der deutsche Politik im Geiste des Alten zu neuen Grenzen zu führen versprach.

Das Bündnis mit der SPD ging in die Nachkriegsgeschichte ein als die reibungsloseste Koalition, die es je in Bonn gegeben hat. An ihrem Ende, im Wahlkampf 1969, stritten die Koalitionäre nur darüber, wer in der Koalition am meisten geleistet hat. Die persönliche Leistung Brandts, der im In- und Ausland als der gleichsam natürliche Außenminister der BRD gefeiert wurde, bestand darin, nach innen zu demonstrieren, daß zwei Jahrzehnte SPD-Gemosere über den"CDU-Staat" dadurch Makulatur geworden waren, daß die SPD sich anschickte, eben dieses Monstrum zu übernehmen. Mit Brandt haben die Sozialdemokraten geschafft, was der durch sie - und eben dadurch - initiierten ApO nicht gelang: Machtübernahme mit dem "Marsch durch die Institutionen"! Die Kanzlerschaft verdankte Brandt 1969 nicht einer Wahlniederlage von CDU/CSU, sondern dem Schwenk der FDP, der er ein Angebot machte, das sie nicht ablehnen konnte. Die christlich-kapitalistische NATO-Republik wurde in sozialliberaler Besetzung weitergespielt.

4. Der radikale Demokrat: Totaler Friede nach Innen

"Und wenn ich vom inneren Frieden spreche, dann denke ich an etwas, worauf ich ehrlich stolz bin, nämlich die enge Verbindung zwischen Regierung und den Bürgern, die früher am Rande des staatlichen Geschehens standen oder sich dorthin gestellt sahen: Arbeitnehmer, geistige Schichten, die kritische junge Generation in diesem unserem Volke."

Sie wurden alle bedient: In der Großen Koalition sogar alle diejenigen auf einmal, die irgendwann einmal die "enge Verbindung" zwische Staat und Volk in Gefahr bringen könnten: Willy Brandt hat seiner Partei das Ja zu den Notstandsgesetzen als Dienst am Ausbau der freiheitlich-demokratischen Grundordnung beigebracht. Im Gegensatz zum Protest aller enttäuschten SPD-Wähler in der "kritischen jungen Generation", die sich auf Demonstrationen die Frage mit Antwort vorskandierten: "Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!" ist sich die SPD treu geblieben. Sie hat sogar aus ihrer Geschichte gelernt: Während Noske noch außerhalb der Legalität die Weimarer Republik mit einem Blutbad unter ihren linken Gegnern konsolidierte, hat die SPD 1968 mit dafür gesorgt, daß sich die Bonner Republik bereits in der Verfassung ein Ermächtigungsgesetz auf Abruf bereitstellt. Die Demokratie wurde damit auch nach innen wehrhaft und mit den gesetzmäßigen Waffen ausgerüstet. So konnte der Kanzler Willy Brandt in seiner ersten Regierungserklärung noch "Mehr Demokratie wagen".

Er engagierte sich persönlich für die passende Sortierung der in der Studentenbewegung engagierten Jugend. An ihr gefiel das Engagement für Demokratie, d.h. die ihm zugrunde liegende Sehnsucht nach einer Regierung, mit der man als Untertan zufrieden sein kann. Nicht geduldet werden durfte jedoch der Mißbrauch von Widerstand für radikale Opposition gegen diese Republik. Das Kabinett Brandt schüttete folglich eine Amnestie für alle unter der Großen Koalition straffällig gewordenen Protestierer aus -, und der Kanzler schlug den Ministerpräsidenten aller Bundesländer den Erlaß zur Reinhaltung des öffentlichen Dienstes von Extremisten vor. Diese nahmen an, und seitdem geht der Staat den Inhabern abweichender Meinungen vornehmlich unter seinen Akademikern an die berufliche Existenz. Berufsverbot will Brandt das bis heute nicht nennen, dennoch setzte er sich als Oppositionspolitiker an die Spitze einer Forderung in der SPD, den Radikalenerlaß abzuschaffen. Der hat nämlich a) seine Aufgabe übererfüllt (d.h. nicht nur echte Verfassungsfeinde rausgesäubert, sondern auch Unschuldige getroffen und gänzlich Unbeteiligte verschreckt), und b) wird die nach wie vor unbestrittene Funktion des Verfassungsschutzes von den geltenden Vorschriften des StGB und des Beamtendienstrechts geleistet. Vor allem 1987, wo es in der Republik so gut wie keinen Staatsgegner mehr gibt.

Beide Maßnahmen zusammen kamen der SPD als Partei zugute: Sie "integrierte" leider einen großen Teil der APO, und die neuen Sozialdemokraten fanden als Parteilinke gleich ein Betätigungsfeld im kritischen Auseinanderhalten von Reformideal und der sozialliberalen Regierungspraxis.

5. Der West-Ost-Diplomat: Antikommunismus vertraglich

"Aufgabe der Politik in den jetzt vor uns liegenden Jahren ist es, die Einheit der Nation dadurch zu wahren, daß das Verhältnis zwischen den beiden Teilen Deuutschlands aus der gegenwärtigen Verkrampfung gelöst würd. Eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesregierung kann nicht in Betracht kommen."

Die Formel für seine Ostpolitik nannte der erste SPD-Kanzler der BRD "Wandel durch Annäherung", wobei sich die DDR ändern sollte als Preis dafür, daß Bonn bereit war, sich ihrer de-facto-Anerkennung ein Stück zu nähern bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Wiedervereinigungsanspruchs! Für eine "ständige Vertretung" in der Bundeshauptstadt hat die DDR damals ein permanentes Mitspracherecht der BRD in ihren inneren Angelegenheiten akzeptiert: Unter dem Titel "menschliche Erleichterungen" sind die Paß- und Visabestimmungen der DDR ein Tagesordnungspunkt bei jeder "innerdeutschen" Begegnung über der Staatssekretärsebene. Selbstverständlich ist Brandt damals nicht nach Erfurt gereist, damit Omas, Opas und andere Rentner ihre Verwandten heimsuchen können: Die alten Leute sollten einen auch östlicherseits anerkannten Anspruch auf Westbesuche kriegen, damit die bundesdeutschen Ansprüche auf Volk und Land der DDR in der rührenden Form eines nationalen Familienlebens bleiben und wachsen konnten. Brandts Deutschlandpolitik nutzte so in erpresserischer Weise das Interesse der DDR, überhaupt in Beziehungen mit dem Westen als anerkannter Staat treten zu können. Mit dem Grundlagenvertrag konnte der Kampf gegen den kommunistisch regierten deutschen Staat auf Vertragsbasis fortgesetzt werden. Willy Brandt hatte kapiert, daß die Nichtanerkennung der DDR und das ständige Herumreiten auf einer offenen Grenzfrage entlang der Oder und der Neisse mit dem Aufstieg der BRD zur westlichen Vormacht in Europa seine Schuldigkeit getan hatte und als Verhandlungspfand nichts mehr hergab.

Das ist ihm als "Ausverkauf deutscher Interessen" von der rechten Opposition in der BRD bis heute nicht verziehen worden. Zu Unrecht, wie mittlerweile die Fortsetzung der sozialliberalen Ostpolitik durch die "Wende"-Regierung bestätigt. Die Aufnahme "normaler" Beziehungen zu den Ostblockstaaten stellte die Souveränität der BRD endgültig her, weil jetzt mit den Staaten im Lager des Hauptfeindes Sowjetunion so verkehrt werden kann, daß diesem die Alleinzuständigkeit für seine Verbündeten bestritten wird. Das hat zu durchschlagenden Erfolgen geführt: Jetzt weiß man, daß das vorläufige happy-end des Kniefalls von Warschau 1970 zehn Jahre später mit der Polen-Krise von 1980 begann. Damals wurde die Geste, mit der sich Brandt zerknirscht und die Tränensäcke übervoll im ehemaligen Getto aufs Knie begab, eines deutschen Staatsmanns für "unwürdig" empfunden - von denen, die immer noch nicht begriffen hatten, daß man mit der moralischen Anerkennung deutscher Schuld sich die halbe Welt zum Schuldner in harten DM machen konnte. Dazu bedurfte es allerdings eines glaubwürdigen Charakters in Gestalt eines deutschen Politikers, der seine Gegnerschaft zum Naziregime nicht erst umständlich nachweisen mußte. Stellvertretend für seine Landsleute tat er Buße, wozu gerade r keinen persönlichen Grund hatte, und als er sich wieder erhob, stand mit ihm das neue Deutschland anders da vor der Welt: Diese schenkte ihm den Nobelpreis, und jenes bescherte der SPD den größten Wahlsieg ihrer Geschichte.

6. Der Nobelpreisträger: Friede als Flair eines imperialistischen Staatsmanns

"Nach der langen Periode des fruchtlosen kalten Kriegs war und bleibt es notwendig, daß die BR Deutschland alle in ihrer Macht stehenden Schritte tat und weiterhin tun muß, die den Charakter des Konflikts zwischen Ost und West verändern helfen."

Brandt hat das Erbe Adenauers angetreten und genützt: Die BRD war unter diesem zu einer starken Nation geworden mit allen Voraussetzungen für die Be- und Ausnützung anderer Nationen und Völkerschaften. Der Sozialdemokrat im Palais Schaumburg sorgte nun dafür, daß die BRD sich auch so aufführen kann, ohne immer gleich die drei angezettelten Kriege vorgehalten zu bekommen. Seit dem sprichwörtlichen Friedens-Willy geht von (wes-t)deutschem Boden grundsätzlich nur noch der Friede aus, selbst wenn er die Gestalt von Pershing 2 annimmt, und die Amtsnachfolger mittlerweile einer veritablen Raketenrepublik vorstehen, auf die sie auch um keinen Preis mehr verzichten wollen, den die Sowjetunion zahlen kann. Seit Brandt tritt der Nationalismus in Deutschland wieder als ehrenwerter Patriotismus auf und muß sich nicht gleich gegen den Vorwurf des Revanchismus verteidigen.

Die Kritik Brandts am "Kalten Krieg", der fruchtlos gewesen sein soll, mißt ihn am Ziel einer Auflösung des Sozialistischen Lagers, also an dem maßlosen Anspruch des Westens auf die Kontrolle über den ganzen Globus ohne jedwede Behinderung durch die Sowjetunion. Die Friedenspolitik ist also eine konstruktive Selbstkritik, und "Friede" als Parole des Imperialismus ist der Ersatz des Kriegs gegen den Hauptfeind durch andere Mittel. Das will keiner der Friedensfreunde wahrhaben, die nicht umsonst bis weit ins Lager der Grünen hinein Willy-Fans geblieben sind. Dabei fallen in die Ära Brandt die größten und entscheidenden Aufrüstungsschritte der Bundeswehr: Der imperialistische Staatsmann weiß natürlich, daß eine "Veränderung des Konflikts zwischen Ost und West" weder seinen "Charakter" verändert noch und erst recht nicht seinen Grund. Aber das Attribut "friedlich", das noch jeder Drohung und Erpressung gegen den Osten angehängt wird, wurde zum Titel einer eigenständigen Rolle der BRD an der Seite der USA in der Auseinandersetzung mit dem Osten. Dafür hat Helmut Schmidt nachrüsten und sich vom Parteivorsitzenden Brandt die Zustimmung der SPD-Mehrheit sichern lassen. Deswegen ist Brandt als Ex-Kanzler noch ein paar Mal nach Moskau gejettet, um Breschnew die neuesten Varianten sozialdemokratischer Friedenspolitik zu "erläutern". Und darum ist die SPD als Oppositionspartei unter Führung Willy Brandts vom Stationierungsbeschluß abgerückt, nachdem sichergestellt war, daß das Zeug aufgestellt wird. Jetzt ist der Friedens-Willy seit fünf Jahren sauer, weil der neue Kanzler des Friedens Kohl heißt und nicht von der SPD gestellt wird.

7. Der Nord-Süd-Politiker: Internationale Solidarität per Kapitalexport

"Der Süden kann sich ohne den Norden nicht angemessen entwickeln; der Norden kann nicht florieren oder seine Lage verbessern, wenn es nicht größere Fortschritte im Süden gibt."

Angemessen "entwickelt" wurde der Süden, in dem die "Dritte Welt" des Imperialismus vorwiegend angesiedelt ist. Die erste SPD-geführte Bundesregierung hat z.B. das Lome-Abkommen mit zahlreichen afrikanischen Hungerleiderstaaten abgeschlossen, mit dem der Abtransport brauchbarer Rohstoffe bzw. ihre Veredelung durch EG-Kapital vor Ort geregelt und das Massenelend gesichert wird. Willy Brandt war Ende der 60er Jahre der Staatsmann von Ansehen und Prestige auf der Welt, dem man als Entwicklungshilfe abnahm, was der Kapitalexport in aller Herren Armutsländer leistete. Und zwar deswegen, weil der Sozialdemokrat nie müde wurde, die Wirkungen einer erfolgreichen Investition auf die Lebensumstände der Einheimischen in den damit beglückten Ländern öffentlich zu beklagen. Das macht auch die Caritas, und die Herren von der CDU/CSU zögern nicht, den Bürgern ein Notopfer für den "Hunger in der Welt" abzubetteln. Brandt hingegen verband den Vormarsch des BRD-Kapitals in Asien, Afrika und Lateinamerika mit einer politischen Mission: Seine Administration erfand die soziale Demokratie als das Hauptlebensmittel für hungrige Schwarze und obdachlose Latinos.

Die Christlichliberalen, die jetzt den Etat des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit gemäß ihren parteipolitischen Vorstellungen neu sortieren, machen im Gegensatz zu anderslautenden Vorwürfen von Entwicklungshilfeidealisten das Gleiche wie die Sozis. Mit Sicherheit läßt snch auch feststellen, daß die Resultate ebenfalls die selben sind: Eine satte Rendite für die Investitionen, ein flotter Reibach für die herrschenden Klassen in den Empfängerländern und jede Menge neues Anschauungsmaterial zum Thema "Das Elend in der Dritten Welt."

Noch an der Regierung nutzten die Sozialdemokraten, namentlich die deutschen, ihre Staatsmacht, um dem europäischen Süden eine für EG-Zwecke maßgeschneiderte Herrschaft zu verpassen: Im spanischen Staat und in Portugal wurden sozialdemokratische Parteien durch die Friedrich-Ebert-Stiftung, die Sozialistische Internationale (und manchmal auch in Zusammenarbeit mit dem CIA) "aufgebaut", d. h. die Mutterparteien zahlten die Spesen und sorgten für kompromißlosen Antikommunismus. Heute, und darauf ist Willy Brandt ganz besonders stolz, regieren seine Patenkinder dort: Felipe Gonzalez in Madrid als oberster Zuchthausdirektor über mehr politische Gefangene als während der Endphase des Faschismus; und Mario Soares als Präsident über ein europäisches Armenhaus Portugal, in dem den land- und arbeitslosen Massen ebenfalls auf die harte Tour beigebracht wird, daß die Freiheit nichts zum Abbeißen ist. Aber unlaublich demokratisch und mindestens ebenso sozial wie die westdeutsche Arbeitslosenverwaltung.

So richtig i Hochform geriet der Nord-Süd-Willy als Ex-Kanzler der westlichen Großmacht BRD: Stirnerunzelnd und voller "compassion" übernahm er den Vorsitz einer "Nord-Süd-Kommission", gebildet aus ebenfalls retirierten Himmelsrichtungsspezialisten der internationalen Politikermafia. Und als Vorsitzender der SI widmete er sich der Aufgabe, die Opfer des Imperialismus auf die Solidarität mit ihren Ausbeutern zu verpflichten, damit die Not nicht zum Aufstand führt, sondern dank sozialdemokratischer Betreuung ohne häßliche Vorkommnisse verwaltet wird.

Als Sachwalter nationaler Interessen und der europäischen Konkurrenz gegen das US-Monopol auf Südamerika spielt er einen besonders dreckigen Part im Falle Nicaraguas: Mit der Selbstverständlichkeit eines imperialistischen Politikers behandelt er den Sandinismus als Problem, das die USA mit ihm haben. Und entsprechend wird er bei den Comandantes vorstellig: Sie sollen es aus der Welt schaffen. Brandt ist gegen eine Invasion der Marines, die SI unterstützt nicht die Contras, weil diese keine Sozialdemokraten sind, und weil eine US-Okkupation das Land zur amerikanischen Kolonie machen würde, in der die deutscheuropäischen Interessen ausgeschissen hätten. Diesen Vorbehalt trägt er dann auch in Washington vor: als guten Rat eines erfahrenen Verbündeten, der weiß, wie's besser geht - das Geschäft und die es befördernde Politik des demokratischen Imperialismus. Daß solche Meinungsverschiedenheiten garantiert nicht irgendwelchen Zimperlichkeiten in Sachen Brutalität und Gewalt geschuldet sind, demonstrierte Brandt durch den Bruderkuß mit seinem Musterschüler Alan Garcia in Peru, der ihm zu Ehren die Tagung der SI in Lima mit einem Massaker an meuternden Guerilleros in den Gefängnissen dieses sozialdemokratisch regierten Landes begrüßte.

Epilog: Ein deutscher Sozialdemokrat

"Wir wollen freie Menschen sein, wobei Freiheit nicht Schrankenlosigkeit sein soll. Wir wollen das Gesetz der Freiheit, Gerechtigkeit und Schönheit. Als Sozialisten, erfüllt mit dem Geist einer neuen Zeit... Wir haben Weg und Ziel vor Augen. Wir sind Revolutionäre: Pioniere der Gemeinschaft, des erlösenden Sozialismus."

Was der Jungsozialist Herbert Frahm 1930 im "Lübecker Volksboten" geschrieben hat, dafür stand und steht der Sozialdemokrat Willy Brandt als Regierender Bürgermeister von Westberlin, als Bundeskanzler, als Parteivorsitzender und ab Juni auch in seiner neuen Funktion als Über-Sozi der sich ebenfalls immer treu bleibenden deutschen Sozialdemokratie. Deshalb hat es Brandt wohl wirklich "tief verletzt", als die Christlichen die Wahlkämpfe 1961 und 1965 mit der "Herbert Frahm"-Kampagne bestritten, in der dem Kanzlerkandidaten der SPD eine vaterlandslose, gar anti-deutsche Vergangenheit nachgesagt wurde. Andererseits hat dies seine Partei und das komplette "bessere Deutschland" vor allem in den Kreisen der Geistesschaffenden - geradezu für Brandt fanatisiert. Der hatte nämlich nicht erst 1944 gemerkt, daß der Faschismus die Staatsideale des deutschen Volkes mißbrauchte. Der hatte es nicht nötig gehabt, sich die Staatsabträglichkeit des Hitler-Regimes von der siegreichen Roten Armee klarmachen zu lassen. Der wußte schon vor 1933, daß das Deutsche Reich mit den Nazis den Bach runtergehen mußte. Der trat nur deshalb einer Sozialistischen Arbeiterpartei SAP bei, weil ihm die SPD als antifaschistische Kraft zu schlapp vorkam, und der kämpfte auch in norwegischer Uniform für Deutschland gegen die Staatsverräter in deutscher Uniform. Andererseits läßt sich auch der ebenso echt empfundene Haß der "anderen Seite" nachvollziehen gegen einen Politiker, der mit seiner Biographie bewies, daß man von der Schädlichkeit des Faschismus für die Nation sogar eine Ahnung haben konnte, wenn man nicht als Chef der Propagandaabteilung im Rundfunk, als KZ-Architekt oder als Staatsanwalt seine NS-Dienste versehen hatte (Kiesinger, Lübke, Filbinger). Daß Willy Brandt an seinem sozialdemokratischen Patriotismus festhielt und dem Nazi-Staat den Rücken kehrte, verübeln ihm bis heute (und seit der "Wende" erst recht wieder!) die patriotischen Konservativen und Mitläufer, deren Ehre "Treue" hieß, weswegen sie mitmachen "mußten" - gerade weil sie, wie sie heute wissen, gar nicht "wollten". Willy Brandt hat sehr schnell gemerkt, dalß gerade für einen Politiker, der beim Wähler Vertrauen in Stimmen umsetzen muß, die Biographie immer ein Argument ist, aus dem man das Beste machen muß. So konnte er jeden Rechtsschwenk in seiner Politik mit seiner untadeligen antifaschistischen Vita absegnen, vor passendem Publikum und zu rechter Gelegenheit auch mal mit seinen Anfängen auf dem "linken Flügel der Arbeiterbewegung" kokettieren und selbst seine schlampigen Familienverhältnisse, die schon vor sein Geburtsdatum zurückreichen, den Spießern in und außerhalb der Partei liberal um die Ohren hauen. Andererseits gab er jungen Heißspornen unter Jusos und überhaupt in der "kritischen jungen Generation" seinen eigenen "lebensgeschichtlichen Lernprozeß" mahnend zu bedenken. Dabei liegt seine Stärke in der Sicherheit, daß jugendliche Ideale gebändigt und für die richtige Sache eingesetzt werden können. Beim Agitieren setzte er dazu auch gerne auf reaktionäre Spruchweisheiten wie: "Wer mit 20 kein Kommunist ist, hat kein Herz; wer es mit 40 noch ist, keinen Verstand." Diese Deutung des Verhältnisses von Herz und Verstand gibt immerhin Auskunft über die permanente Reformideologie der Sozialdemokratie und ganz besonders über die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, die inzwischen schon dreimal den Krieg verhindert hat, seit 130 Jahren dabei ist, den unmenschlichen Kapitalismus mit menschlichen Zügen zu versehen, die Arbeiterklasse zu braven Bürgern zu emanzipieren, und das alles aus lauter Liebe zu Deutschland. Darüber ist sie mit der Nation so intim geworden daß sie meint, ohne sie an der Macht sei Deutschland unregierbar. Auch diesen extremsten aller staatsfanatischen Gedanken verdankt die Partei ihrem scheidenden Vorsitzenden Willy Brandt. Er hat sich ohne jeden Zweifel um das Vaterland verdient gemacht. Das werden wir ihm nie vergessen.