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Der GaU feiert sein 1-jähriges
TSCHERNOBYL UND SEINE BEWÄLTIGUNG
Wie bei jedem anderen Großereignis werden auch beim einjährigen Jubiläum des "Super-GAU"s in der Ukraine serien-, seiten- und fernsehminutenweise die Bilder und Kommentare von damals zum hundertsten Male hervorgekramt. "1 Jahr danach" heißen durchweg die Serien. Für die einen sind sie sowieso nichts anderes als "Panikmache", wie z.B. für die "Bild"-Zeitung, die ihre Meinung dadurch zum Ausdruck bringt, daß sie gleich gar nichts dazu vermeldet; "Verharmlosung" ist es für die anderen, die jede Menge problemorientierte Fragen an jede Menge Wissenschaftler stellen. Doch mal ganz ohne Panik und unverharmlost gefragt:
Was hat es "uns" denn gebracht?
1. ein neues Amt
Wir haben jetzt nämlich einen Bundesumweltminister. Schnell und entschlossen hat Helmut Kohl gehandelt und dem GAU einen Wallmann entgegengesetzt. Von da an stellte der sich täglich vor die Mikrofone und Kameras zum Beweis dafür, daß jeder Umweltdreck von Insektengift über dioxinhaltige Lebensumstände bis zu leicht strahlenden Nahrungsmitteln - unter seiner Aufsicht bestens aufgehoben ist. Ebenso schnell und entschlossen hat der neue Mann nämlich herausgefunden, daß effektiver Umweltschutz "nur mit der und nicht gegen die Industrie" zu machen ist. Die sicherste Atompolitik ist folglich die mit jeder Menge Kernkraftwerken, allerdings nur, wenn sie das Markenzeichen "Made in Germany" tragen. Da vor dem GAU das Tschernobyl-AKW als todsicheres Modell galt, tut obigem Grundsatz keinen Abbruch - ebensowenig wie die nunmehr laufend gemeldeten Störfälle in deutschen oder anderen Atomfabriken. Gerechterweise hat Wallmann seine Landtagswahlen gewonnen und darf in Hessen die von der SPD eingeleitete Plutoniumwirtschaft weiter vorantreiben. Und den da produzierten Strahlenopfern bescheinigen, daß sie einwandfrei nicht am deutschen Sicherheitsdenken, sondern an "Pannen" und "Rechtsverstößen" krepieren.
2. total einheitliche und verbindliche Grenzwerte
Tschernobyl kann nie wieder passieren, jedenfalls nicht die sträfliche "Verunsicherung" des Bürgers durch länderpolitische Extravaganzen bei der Grenzwertfestsetzung. Von Flensburg bis zum Allgäu ist amtsoffiziell geregelt, wieviel Cäsium bekömmlich ist. Und die Milch-, Futtermittel- und anderen Molke-Verwerter haben klare Vorgaben, bis zu welchen Werten sie ihre Produkte durchmischen und den Nahrungsmittelkreislauf anreichern dürfen. Zumal ja das verantwortungslose Ausland bekanntlich ganz andere Grenzwerte angesetzt hat, unter denen doch die geschäftstüchtige Vermarktung bei uns nicht leiden darf.
3. ein internationales Meldesystem und eine mobile ärztliche Eingreiftruppe
für die Störfälle, die eigentlich gar nicht passieren können bzw. nur im Ausland. Davoß haben wir dann im Zweifelsfall die pünktliche Mitteilung, daß die Dosis, die man abbekommt, gestiegen ist, und neue medizinische Erfahrungen im Umgang mit Strahlenkranken.
4. bombige Geschäftsperspektiven für die deutsche Atomindustrie
Da die Sowjetunion im Unterschied zu unserer Regierung aus ihrem GAU nichts lernen will und weiterhin auf die Atomenergie setzt, machen wir immerhin hervorragende Geschäfte daraus. In der riesigen Sowjetunion läßt sich ausgezeichnet mit einem neuen Reaktortyp experimentieren, und vielleicht dürfen die deutschen Kraftwerksbauer ihre Bilanzen mit der "Nachrüstung" der sowjetischen AKWs aufbessern.
5. ganz viel Bewußtsein
gibt es seit letztem April in der Bevölkerung hinsichtlich ihrer Stellung zur Radioaktivität. "Als begeisterter Fischesser denke ich, man sollte die essen, die am tiefsten im Wasser stecken." (Ein Teilnehmer an einer Telefonaktion der Münchner Abendzeitung). Es gibt also nicht nur einen Minister, der sich auskennt, sondern auch mächtig viel schlaue Leute, die genau wissen, wie ihnen nichts passiert. Mit ein bißchen "Gewußt wie" kann jeder auf sich aufpassen. Wenn "wir" aus Tschernobyl etwas lernen können, dann: "sinnlosen Umgang mit Radioaktivität vermeiden", genauso, als hätte sich jemals einer aus lauter Spaß an der Freude in einen Röntgenschirm gestellt und könnte sich aussuchen, ob er in einer weniger oder stärker verstrahlten Gegend wohnt.
Eine eminente Leistung der Demokratie, die liefert ihren Bürgern nämlich zu jeder Katastrophe
6. enorm viel Information
für die alltägliche Bewältigung. Der zivile Selbstschutz wird nicht im Stich gelassen: Meßstationen und eine ganz neue Rubrik in den Zeitungen sagen uns, "wieviel Cäsium im Salat sitzt" oder wann die radioaktiven Werte (wie kürzlich im März) wieder einmal ansteigen. Das ist doch Service am Bürger: Anstatt wie vor Tschernobyl ahnungslos Becquerels zu fressen, weiß man jetzt genau, wieviele! Und man ist nunmehr auch überaus gründlich mit "Informationen" darüber versorgt, wie eine "differenzierte Betrachtung" der Atompolitik zu gehen hat: nämlich als Würdigung des "Problems der Energieversorgung". Die ergibt sich keineswegs aus staatlichen Beschlüssen, sich eine kriegswichtige Technologie zur Verfügung zu bringen, Abhängigkeiten vom Ausland zu vermindern, indem man selber Preise diktieren kann, und die nationale Wirtschaftskraft mit billiger Energie zu stärken. Das "Problem" ergibt sich vielmehr aus lauter Sachzwängen namens Knappheiten, einer widrigen Welt und einem großen Bedarf an geheizten Wohnungen, der merkwürdigerweise, wenn überall AKWs stehen, nur mit Atomstrom gedeckt werden kann. Ferner ist man nunmehr mit "Informationen" über die "Gefahren" jeglicher Energiequelle bestens versorgt. Daß Energieerzeugung ohne entweder ein bißchen Strahlung oder Luftverschmutzung, Waldsterben usw. technisch nicht machbar ist, hat der Bürger gelernt. Gelernt hat er damit auch einiges über die Normalität von "Störfällen", die seitdem die Nachrichten anreichern. Die damals noch als "künstlich" bezeichnete Radioaktivität ist ab sofort genauso wie die von Kernwaffenversuchen oder den ständigen Austritten aus bestehenden AKW's "natürliche" Strahlung. Das gibt zwar eine "rechnerische Erhöhung der Krebstoten", "statistisch gesehen" fallen die aber überhaupt nicht ins Gewicht.
Bleibt schließlich die Information, die das Jahr nach Tschernobyl gebracht hat: Das Leben ist ein Risiko. Und diese Auffassung sorgt endgültig für aufgeklärte Gelassenheit auf seiten des geschädigten Bürgers. Obwohl im Lauf des Jahres die Becquerelwerte in den Lebensmitteln die gleiche Höhe wie unmittelbar nach dem GAU erreichten - die Bauern verfütteren das verseuchte Futter des Frühsommers bekanntlich an das Vieh -, war von der anfangs gemeldeten Gefährlichkeit nicht mehr viel zu hören. Der Sandoz"unfall" und Aids waren in die Schlagzeilen gekommen. Für "unsere" Politiker beides wiederum Ereignisse, um sofort auf ihre Zuständigkeit zu verweisen. Obwohl sie erklärtermaßen vor weiteren Giftunfällen genausowenig Schutz bieten wollen wie sie die Heilung Aids-Kranker bewerkstelligen können, verdienen Staatsmänner mit jedem Ereignis dieses Kalibers immer nur noch mehr Vertrauen. Auf Katastrophen stellt man sich ein. Die "Betroffenheit", die noch vor einem Jahr die Leute quälte, ist mittlerweile längst durch Gewöhnung ersetzt: Becquerels werden gezählt und gegessen, über das Für und Wider von Atomenergie darf diskutiert werden, während nebenbei laufend weitere Atomkraftwerke geplant und gebaut werden. Mit Recht hat der Kanzler vor einem Jahr im Bundestag verkündet, daß nach Tschernobyl nichts mehr so sein wird wie vorher. Neben vielen AKWs verfügt die Republik nämlich seitdem über ein paar weitere Bereicherungen ihres politischen Innenlebens.
7. die Ausstiegsphrase
für Parteitage, Grundsatzreden und Gedenktage. Damit versichern die Träger der politischen Verantwortung ihrem Volk, daß es auch ihnen gar nicht recht wäre, wenn ein geplatztes Restrisiko die saubere Republik in eine atomare Müllkippe verwandeln würde. Und eben weil sie dieses Bedenken mit sich herumtragen, steht ihnen zweifellos und exklusiv die Zuständigkeit zu, es mit all den anderen Erfordernissen ihrer Republik ins rechte Verhältnis zu setzen.
8. eine Bewegung
Erschrockene Menschen nehmen seit einem Jahr unabhängige Messungen vor, widmen sich der Lebensmittelbeschaffung als Hauptaufgabe, machen sich kundig in der Frage von Energiebeschaffungsprognosen und Mißgeburtsstatistiken und veranstalten immer wieder einmal Demonstrationen ihrer Betroffenheit. Aufrütteln wollen sie und warten immer noch auf ein Wunder: auf Politiker, die "dazulernen". Sie selbst haben also nichts dazugelernt über die Politik, die mit Gesundheit geschäftstüchtig kalkuliert - in der Atompolitik wie an allen normal giftigen Arbeitsplätzen; die mit der rentablen Energieversorgung von "Großabnehmern" befaßt ist und die "Energieverschwendung" der privaten Haushalte allenfalls als Vorwand für Preiserhöhungen hernimmt; die ihr Volk und seine natürliche Umgebung eben nicht als heilige Güter, als Erbe für die kommenden Generationen behandelt, sondern als Quelle ihrer Macht und deshalb auch mit einer Plutoniumwirtschaft und Raketen ausstattet.
9. eine Herausforderung für den Rechtsstaat und dessen Bewährung mit Hilfe von ein paar neuen Gesetzen
Umweltgifte als Lebensrisiken sind nicht zu vermeiden; Proteste, die sich nicht von Haus aus auf die Zurschaustellung ihres ohnmächtigen guten Glaubens an eine bessere Welt bescheiden, gehören ausgerottet. Die Leute, die der Erfolglosigkeit des "friedlichen" Protestierens das Recht entnommen haben, vor Ort den Staatsorganen ebenso aussichtslose Scharmützel zu liefern, hat der Rechtsstaat zum Anlaß genommen, seiner Abneigung gegen Proteste ein paar weitere Hilfsmittel zu verschaffen. Waffentechnische Weiterentwicklungen für die Polizei, neue Taktiken, um Demonstrationen von Beginn an zu unterbinden, neue Gesetze zur genauen Erfassung und Überwachung des "Gewaltpotentials" - und der Gesetzgebungsbedarf ist noch lange nicht zu Ende.
Keine Rede also davon, daß "wir" aus der Katastrophe nichts dazugelernt haben, daß alles so weitergeht wie vorher. Zuguterletzt haben wir jetzt nämlich auch noch
10. einen neuen Jahrestag
An dem bescheinigen sich reihum alle Beteiligten - von den Politikern bis zu den Müttern, von der Atomindustrie bis zu den nach Wackersdorf delegierten Polizeiverbänden, von den grünen "Verantwortungsträgern" bis zu Mißgeburtsstatistikern -, wie richtig sie liegen, und daß sie genauso weitermachen wie bisher.