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Gorbatschow schlägt Nullösung vor
VIEL ANGEBOT, NULL NACHFRAGE
"Die Null-Lösung" für Mittelstreckenraketen in Enropa: das war's doch, was die Westler immer wollten. Jetzt haben sie sie: Ihr Gegenspieler Gorbatschow hat sie vorgeschlagen.
Ohne die Bedingungen, die bisher noch immer im Wege gestanden haben sollen: Die Sowjetunion verzichtet auf diese Waffengattung in Europa, obwohl Frankreich und Großbritannien sie behalten und weiter pflegen; und sie verzichtet auf die Verknüpfung der Mittelstreckenraketenfrage mit dem Vorhaben der USA, den Atomkrieg mit Angriffsraketen und Raketenabwehrwaffen (SDI) auch im Weltall austragen zu können.
Und: Sind sie jetzt zufrieden, die Kohls und Reagans? Einfach "Ja!" haben sie nicht gesagt. "Atomraketen weg" - so haben sie sich die "Null-Lösung" nicht gedacht. Jedenfalls fällt ihnen als erstes ganz was anderes ein: Mehr "konventionelle" Waffen müssen her! Und: Die sowjetischen Kurzstreckenraketen müssen natürlich auch gleich weg! Und: Überprüfungsprobleme gibt's beim Waffenwegschmeißen - man glaubt es kaum! Und: Wer weiß überhaupt, ob die Welt ohne Atomwaffen des Europa-Kalibers nicht doch wieder unsicherer wird, weil auch der Westen ein paar Atomraketen verschrotten soll?! Statt an 'Friede, Freude, Eierkuchen' denken die Friedensfürsten der NATO zuallererst an den Krieg in Europa, der womöglich "wieder führbar" wird sie müssen's ja wissen; ihre Leos und Tornados haben sie ja für dieses Schlachtfeld bestellt.
Ein blankes "Nein" sagen die westlichen Rüstungsdiplomaten natürlich auch nicht zu Gorbatschows Vorschlag. Der wird zuerst einmal interpretiert. Und zwar überwiegend als erfreuliches Zeichen östlicher Nachgiebigkeit, die sie, die Führer der Freien Welt, durch ihre Unnachgiebigkeit erreicht hätten. Stolz verbuchen es die Kohls und Genschers als Erfolg ihrer "Nachrüstungs"-Beschlüsse, ihrer Sturheit beim Rüsten und ihrer Unbeweglichkeit beim Verhandeln, daß ihr Gegner jetzt ungefähr das vorschlägt, was vor ein, zwei Jahren noch westliche Verhandlungsposition war und was da noch die russischen Unterhändler abgelehnt hatten. Auch wenn diese sowjetische Nachgiebigkeit gar nicht der Erfolg ist, den die NATO-Chefs haben wollten und wollen: Ihre Erfolgsmeldung ist schon für sich genommen recht interessant. Immerhin gratulieren sie sich dazu, daß ihnen eine saubere Erpressung der sowjetischen Regierung gelungen wäre. Ihre Raketendrohung, behaupten sie, hätte Wirkung gezeigt und der Sowjetmacht eine neue Politik aufgezwungen - also genau den Effekt erzielt, den sie selber angeblich so sehr fürchten und auf gar keinen Fall einreißen lassen wollen, nämlich: durch gegnerische Waffen politisch erpreßbar zu werden. Ein bemerkenswertes Bekenntnis ist ihnen da gelungen: zur eigenen Skrupellosigkeit in Sachen militärischer Drohung. Und umgekehrt eine Aussage über ihren Feind die alles Gerede über dessen Gefährlichkeit Rüstungswut und Überlegenheit in Waffendingen einigermaßen zurücknimmt. Denn wenn das stimmt mit der erzwungenen Nachgiebigkeit, dann muß ja wohl die sowjetische Seite die Berechnung angestellt haben, daß ihr die Lage mit den westlichen Mittelstreckenraketen z u gefährlich geworden ist. Es ist gerade so, als wollten die NATO-Führer ihrem Gegner Gorbatschow Realismus bescheinigen, weil der sich endlich ihre Kriegsdrohung zu Herzen genommen hat.
Vielleicht ist das sogar tatsächlich der Fall. Fest steht jedenfalls die politische Linie, die die sowjetische Regierung seit dem Gipfeltreffen in Reykjavik und auch mit ihrem Vorschlag zur Verschrottung der Mittelstreckenraketen in Europa verfolgt. "Neues Denken" nennt das der Parteisekretär Gorbatschow. Die Sowjetunion will die alte Rüstungsdiplomatie nicht mehr, die das Aufrüsten begleitet und die Fortschritte in der Atomkriegsvorbereitung nicht behindert, sondern abgesichert hat. Ein Einvernehmen über die beiderseitige Feindschaft und deren Ausbau: diese Paradoxie der bisherigen "Rüstungskontrollverhandlungen" kündigen die Russen mit ihren Abrüstungsvorschlägen auf. Sie wollen dem Westen den Verzicht auf Kriegsoptionen abringen und so stückweise vom Standpunkt der Kriegsvorbereitung herunterkommen, den alle bisherigen diplomatischen Übereinkünfte nie in Frage gestellt haben.
Und sie legen den Westen auf die Frage fest, indem sie auf alle Forderungen eingehen, an denen die NATO-Staaten bislang Abrüstungsverhandlungen scheitern ließen. Sie beseitigen die Vorwände, die die NATO aufgebaut hat, was immerhin dazu führt, daß die NATO-Chefs erklären müssen, warum ihnen ihre eigene alte Forderung jetzt nicht mehr paßt.
Ein Abrüstungsangebot für Europa - Ein Gebot zu europäischer Aufrüstung
Nicht, daß denen die Argumente ausgingen - aber, das Verschwinden der Euro-Raketen auch nur diplomatisch vorstellig gemacht, schon werden i n der NATO lauter nationale Rechnungen gegeneinander aufgemacht. Vom deutschen, französischen, britischen oder US-Standpunkt nehmen sich nämlich die Pershings und Cruise Missiles sehr unterschiedlich aus. Und auf einen Streit in der NATO wird die Sowjetunion ihr Angebot wohl auch berechnet haben, obschon ihr dieser Streit kaum nützen wird.
Die Westdeutschen geben süßsaure Kommentare von sich und sorgen sich um ihre schöne, von den USA geliehene "euro"-strategische Wichtigkeit gegenüber der sowjetischen Atommacht. Sie haben sich an den Standpunkt gewöhnt, daß sie nicht bloß als Teil des Westens, sondern auch für sich genommen eine Militärmacht sein wollen, die der Sowjetunion fast gewachsen ist. Das wäre ohne sowjetische Mittelstreckenraketen zwar leichter, ohne amerikanische Atomraketen auf europäischem Boden aber schwerer zu haben - solange die BRD es noch nicht zu einer eigenen Rüstung dieses Kalbers gebracht hat. Vorläufig sind ja "bloß" nicht-atomare Waffen von gleicher Wucht in der Mache sogar der deutsche Kanzler weiß und hat es in der "Elefantenrunde" vor der Bundestagwahl zum Besten gegeben, da moderne "konventonelle" Waffen es an Gefährlichkeit mit den taktischen Atomwaffen durchaus aufnehmen können.
Die Briten und Franzosen, denen der sowjetische Vorschlag ihre nationalen Raketen konzediert, sind deswegen nicht weniger unzufrieden. Sie entdecken ebenso, daß deren Schlagkraft, auf sich gestellt, ohne die Ergänzung durch das US-Potential, sehr bescheiden ausfällt.
Die logische Antwort auf Gorbatschows Abrüstungsvorschlag aus Europas Hauptstädten heißt daher zuerst einmal: Vorsicht bei der Beseitigung der Mittelstreckenraketen und "konventionell" aufrüsten. Und das findet auf alle Fälle statt, egal was aus den Atomraketen im Endeffekt wird. England und Frankreich - haben prompt die Notwendigkeit einer intensiveren militärischen Zusammenarbeit entdeckt, und der EG-Präsident verlangt, daß das Wirtschaftsbündnis endlich auch die Frage seiner Verteidigung in die eigenen Hände nimmt.
In der Kalkulation der USA stellen die europäischen Raketen dagegen nur eine unter vielen Optionen dar, was nicht heißt, daß sie deswegen überflüssig wären. Die USA können es sich aber durchaus leisten, deren strategisches Gewicht auch einmal zu überprüfen und sie als rüstungsdiplomatisches Spielmaterial zur Disposition zu stellen. Die Wortführer in Washington genießen sichtlich die Lage, in der sie mit einer möglichen Abrüstungsbereitschaft kokettieren und die Europäer mit ihren "Besorgnissen" vor einem "denuklearisierten Europa" antreten lassen. Das Eingeständnis der europäischen Juniorpartner, daß die sich vorläufig noch - ihrer Abhängigkeit in Kriegsdingen bewußt sind, läßt man sich gerne vorhalten. Gerade nachdem in Europa zunehmend der Standpunkt eingenommen wird, daß die Bündnispartnerschaft in der NATO längst nicht mehr als europäische Unterwürfigkeit in allen sonstigen Streitfragen, wie Dollar und Handelskriegen, einzufordern ist und daß sich auch die Gewichte i n der NATO einigermaßen verschoben haben, die Europäer keinesfalls mehr als bloße Fußtruppen unter US-Befehl fungieren. Neuerdings muß die periodisch von den USA wiederholte Erinnerung an die Abhängigkeit der Europäer, die mit dem Abzug der US-Truppen droht, mit der Antwort rechnen, daß sich die Europäer dann eben selbst verteidigen und dazu schon in der Lage sind. Das Thema Mittelstreckenraketen dagegen taugt hervorragend dazu, sich von Europa aus an die Verantwortung als Schutzmacht erinnern zu lassen. US-Politiker behaupten glatt, vom US-Standpunkt aus wäre die "Nachrüstung" gar nicht notwendig gewesen, sondern nur eine Gefälligkeit gegenüber den Europäern, um sich dann über die Winkelzüge zu belustigen, zu denen die rüstungsdiplomatische Heuchelei die Kohls und Thatchers jetzt nötigt.
"Die Null-Lösung bringt besonders Politiker wie Margaret Thatcher und Helmut Kohl in eine schwierige Lage. Sie nahmen die Null-Lösung in Kauf, als sie sie für einen Public-Relations-Trick hielten, aus dem nichts werden würde. Jetzt, da sie als eine echte Möglichkeit erscheint, murren sie insgeheim, obwohl sie sie öffentlich widerwillig unterstützen müssen." (Les Aspin)
Die schwierige Lage wird sich schon bereinigen lassen weil die NATO-Partner auch bei ihrem nationalistischen Streit über die Gewichte im Bündnis wohl kaum den Zweck ihres Bündnisses aus den Augen verlieren werden. Und schließlich haben auch die USA mit ihren Cruise Missiles und Pershings nicht bloß eine diplomatische Manövriermasse in Stellung gebracht.
Die amerikanischen Unterhändler tun jedenfalls alles, um die sowjetischen Vorschläge erst einmal wieder auf die Ebene der alten Rüstungsdiplomatie zurückzuführen. Sie "begrüßen" den neuen Plan; stellen zusätzliche Bedingungen in Aussicht legen einen Gegenvorschlag vor, arbeiten sich langsam zu dem Standpunkt hin, daß eine Überprüfung des Waffenwegwerfens unerläßlich ist, letztlich aber gar nicht möglich sein dürfte; wollen dabei natürlich nichts einfach abgelehnt haben, aber auch nicht einfach zugestimmt haben, weil sie sich erst noch mit allen ihren Bündnispartnern abstimmen müßten, die sich wiederum gar nicht einig seien. Was aber nicht heißt, daß man nicht in Genf unbedingt darüber verhandeln sollte. Reden beim Rüsten: Das ist noch immer das NATO-Konzept der Kriegsvorbereitung.
Enorm glaubwürdig
Damit befriedigen die regierenden Demokraten zugleich ihre "Weltöffentlichkeit", die ein sehr aufschlußreiches Problem entdeckt hat. Mehr oder weniger offen fragt sich die Journalistenwelt, wie die Chefs des Westens es diesmal wohl anstellen wollen, von dem sowjetischen Anspruch auf ein wirkliches Abrüstungsabkommen wieder herunterzukommen, der die alten Abrüstungsideologien der NATO einfach konsequent beim Wort nimmt. "Geht eine Ablehnung ohne Glaubwürdigkeitsverlust?" - diese heiße Frage bewegt sowohl die hartgesottenen Kalten Krieger, die in dem sowjetischen Vorgehen nur den Anschlag auf den westlichen Willen zur Übermacht erkennen, als auch die "Liberalen", die an einen demokratischen "Sachzwang" zur Einhaltung von ideoiogischen Abrüstungsversprechen glauben wollen.
Gerade die vielen neuen Russenfreunde, denen Gorbatschows "Beweglichkeit" so gut gefällt, tun sich jetzt damit hervor, der Sowjetunion vorzurechnen, daß sie das "Ungleichgewicht" ihrer Kurzstreckenraketen und Panzerarmeen doch sicher genauso großzügig bereinigen wird wie den Abzug der SS 20. Gerade mit dem schönen Argument, daß man selbst die Friedenswilligkeit der Sowjetregierung sehr ernst nimmt und über alles schätzt, wird der Sowjetunion beliebiges weiteres Entgegenkommen abverlangt. Sie soll immer noch einmal "über ihren Schatten springen", den Westen rüstungsmoralisch beschämen und einseitige Volleistungen erbringen, weil ihr die neuen Freunde treuherzig versichern, daß von einem Europa mit soviel Sympathie für die Russen doch nie und nimmer eine Bedrohung ausgehen kann. Und gegen die wirklichen Macher von diesem Europa fällt den Abrüstungspropagandisten als höchstes der Gefühle die Drohung ein, sie könnten, wenn die Bundesregierung sich nicht für die Null-Lösung stark macht, doch wahrhaftig Zweifel bekommen, ob ihre Regierung auch ernsthaft um Abrüstung bemüht ist.
Als wäre irgendeine demokratisch gewählte Regierung um Begründungen verlegen, warum man dem Feind nicht trauen kann! Als hätte ausgerechnet eine so dienstbeflissene Mannschaft wie das deutsche Volk sich je beschwert und eine Kümdïgung eingereicht, wenn seine Regierung mal auf Abrüstung macht,und dann doch wieder noch mehr Waffen beschafft, um damit "Frieden zu schaffen". Und als hätten brave Leute nicht allemal Verständnis dafür, wenn ihre Regierung ihnen verklickert, daß "Null-Lösung" eben gar nicht einfach heißen kann: "Raketen weg!" Wer gelernt hat, an den Krieg und an immer mehr und wirkungsvollere Waffen als, Mittel der Friedenssicherung zu glauben, der schluckt allemal auch solche Lügen.