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Dieser Artikel ist in der MSZ 4-1987 erschienen.

Systematik

Beruhigendes aus Bonn
DIE ANTWORT AUF SACH- UND PERSONALFRAGEN: ES WIRD REGIERT

"Auch daß Kohl aus der Kanzlerwahl nicht strahlend hervorging, wird bald vergessen sein. Wir haben eine Regierung. Sie ist fein ausbalanciert wie ein Mobile, und falls keine Stürme kommen, mag sie vier Jahre halten." (Süddeutsche Zeitung, 12.3.)

Die öffentlichen Meinungsmacher haben selbst dementiert, was sie in den vier Wochen bis zur Regierungsbildung für ziemlich spannend ausgegeben haben: das Ringen der Koalitionsparteien um ein Regierungsprogramm. Am Ende befanden sie etwas anderes für viel aufregender: "Kohl mit knapper Mehrheit wiedergewählt - Strauß lehnt Kabinettsposten ab - Der Bundeskanzler erhält mit 253 Ja-Stimmen nur vier mehr als für die Wahl erforderlich" (Süddeutsche Zeitung, 12.3.). Da sind Erinnerungen - sogar von Kanzler Kohl selbst - an Adenauer laut geworden. Der wurde nämlich mit dem denkbar knappsten Ergebnis 1949 erster Bundeskanzler der Republik: eine Stimme, seine eigene. Das hat zwar damals nichts ausgemacht, wie auch die Stimmenknappheit des Kanzlers heute nicht gerade umwerfend ist: Er und seine Regierung sind im Amt; aber zum Spekulieren darüber, wie denn Kohls Sterne noch stehen, eignet sich so etwas immer gut. Schließlich fällt den mündigen demokratischen Deutschen und ihren öffentlichen Vormündern sowieso nichts Besseres ein als mmerzu auf den Erfolg und stilvollen Glanz ihrer politischen Führung zu glotzen. Fragt sich, ob nicht die Sachfragen, die einen Monat lang in Bonn gewälzt wurden, damit ein zündendes Regierungsprogramm herauskomme, und die sich reger öffentlicher Anteilnahme erfreuten, durch diesen untertänigen Beschauerstandpunkt der Herrschaft einfach erschlagen werden. Oder es ist schwieriger, weil Sachfragen etwas anderes sind als sie lauten und sich vielleicht mancher noch denkt.

Die Sache

Kleinen Schulkindern wird zuweilen der Begriff der Sache als Ding beigebracht, das man anfassen kann, und deshalb groß schreibt. Sie dürfen dann nicht den Fehler machen, brennend heiße Sachen klein zu schreiben. Sachen sind ziemlich verbreitet und liegen in verschiedenen Formen, mehr oder weniger aufgeräumt überall rum. Meistens gehören sie auch jemandem. Dabei ist Geld so eine Sache; offenbar, weil man dem Papierfetzen seinen Wert nicht anfühlt.

Im Regierungsprogramm kommen Sachen nur in Verbindung mit Sachzwängen vor, stehen also nicht zur Debatte: Bauernhöfe, die man retten will, aber nicht kann; Fabriken, die nicht pleite gehen sollen, aber müssen; Arbeitsplätze, die zu schaffen sind, aber verloren gehen; viel Geld, das immer zu wenig ist; weniger Schulden, die wachsen. Bei den Embryos, die man nicht abtreiben soll, ist die Sachlage noch schwieriger; genauso wie das Dämpfen der Gesundheitskosten und der Renten. Das Eigenartige ist, daß im Regierungsprogramm, um das sich die Koalitionsparteien gestritten haben, alles mögliche Zeug vorkommt, obwohl es darauf gar nicht ankommt, weil alle wissen, was herauskommt.

Was ist denn Sache, wenn Umweltschutz in die Verfassung geschrieben werden soll, Umweltsünder härtere Strafen zu erwarten haben? Wo bleibt da die Sachlichkeit, wenn der Staat eine Steuerreform veranstaltet und am Ende, so gegen 1990, doch rauskommt, daß der Staat seine Steuern ein bißchen anders einzieht, ohne daß sich die meiste über neue Sachwerte freuen können. Kann sich eine werdende Mutter denn von dem symbolischen und in Geld bemessenen Appell ans Kinderkriegen etwas kaufen? Wird den Bauern etwa etwas versprochen, wenn im Regierungsprogramm steht liest man genau nach -, daß nur rentable und konkurrenzfähige Betriebe der deutschen Wirtschaft nützen, also die Überproduktion und das Bauernlegen weitergehen? Und wo ist die Sache, wenn neue Sicherheitsgesetze vorgesehen sind, die die Verfolgung und Ausmerzung von Widerstand effektivieren sollen? Die Sache ist offenbar die, daß die staatliche Gewalt wie eh und je mit Gesetzen dafür sorgt; daß sie auf ihre Kosten kommt, die Wirtschaft nicht durch Unkosten, die arbeitende Bevölkerung betreffend, am Wachstum gehindert wird und die öffentliche Ordnung immer fester. Die Interessen, die zählen und gefördert gehören, aber auch die anderen Interessen, die ebenfalls anerkannt sind, aber immerzu geopfert gehören, stehen nicht zur Debatte. Aus gutem Grund: Auf diesem Gebiet kennt die Politik nämlich keine Alternativen. Die fangen erst beim Regieren an, und dieses Geschäft duldet sowieso keine, wenn einmal gewählt ist. Wo schlicht weiterregiert werden muß, ist über das Was entschieden und selbst das Wer eine matte Sache.

Die Sachfragen,

denen man sich so intensiv gewidmet haben will, können bei der Materie 'Regieren' nur deplaziert sein. Was soll denn fragwürdig sein, wenn "Weiter so Deutschland! " das Programm ist: Der Gegenstand - staatliches Handeln steht fraglos fest, und von einer Alternative für Deutschland war auch nicht die Rede - für Arbeiter, Arbeitslose, Rentner und Kranke sowieso nicht. Warum haben sich dann aber die Koalitionsparteien, die doch unbedingt zusammen regieren wollen, vier Wochen lang gestritten: Hier hilft nur eine exakte Bestimmung der demokratischen Erfindung 'Sachfrage' weiter: Sachfrage ist, wenn Politiker so tun, als bräuchten sie für ihr Regieren eine Begründung. Da das Regieren aber kein Schluß ist, sondern selbstverständliche Herrschaft über Land und Leute, löst sich der ganze Humbug mit den Sachfragen in die Banalität auf, daß bei im Grunde feststehender Regierungslinie die beteiligten Parteien mit Scheinalternativen, originellen Einfällen, Beharren auf einer Position, mit Themenschwerpunkten usw. etwas für ihr wahlwirksames Image tun, ohne daß sie die Regierungsbeteiligung damit gefährden würden. Die Machthaber machen bei der Regierungsbildung und beim Regieren, also immer und überall Wahlkampf. So ergibt sich der feine Unterschied zwischen Sach- und Personalfragen, daß auf beiden Gebieten der Konkurrenzkampf der Parteien und in diesem Sinne der Personen sei Unwesen treibt, so, daß der Wähler irgendwie etwas davon mitbekommt.

Die demokratische Emanzipation der Politik von irgendwelchen Rücksichten auf Interessen oder Ansprüche der Mehrheit des Volks ist ohne Frage gelungen, wenn auf der Grundlage, daß das Regieren souverän läuft, die Parteien frei konkurrieren, sich also nur nach der Stimmung des Wählers umschauen müssen. Kritik an diesem demokratischen Totalitarismus, in dem nicht die Herrschaft, sondern lediglich die Konkurrenten an der und um die Macht auf des Bürgers Stimme Rücksicht nehmen müssen (wobei der schon so mündig ist, sich sein Stimmungsbarometer vom Erfolg seiner Politiker einsagen zu lassen), gibt es auch. Leider nicht am Totalitarismus der Herrschaft, sondern an seiner vermeintlich mangelnden Souveränität. Politiker (wie Jenninger) oder Figuren der Medienöffentlichkeit halten den Dauerwahlkampf in Bonn für eine schlechte Beeinträchtigung eines souveränen Regierens und das - wg. Wahlen - Taktieren der Regierungsparteien für eine Störung ungeteilter und starker Machtausübung. Sie mutmaßen, daß so auch nicht mehr die besten Politikerfiguren nach ganz oben kommen. Sie entdecken eine "schlappe Regierungsbildung" (Spiegel), ärgern sich über da "Sitzfleisch eines Pfälzers, ... der beschlossen hat, Kanzler zu werden und es um den Preis allseitiger politischer Lähmung zu bleiben". (Spiegel 12/87) Und sie fordern, daß "der Bundeskanzler aber mehr sein muß als ein Buchhalter, der Gruppeninteressen addiert oder ausbalanciert" (Süddeutsche Zeitung, 14./15.3.). Warum nur haben gute Demokraten immerzu das Ideal von Adolf selig im Kopf? Das kann kein Zufall sein.