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DIE ZWEITSTIMME ZUM REDEN GEBRACHT
Viel läßt sich mit ihr nicht sagen. Das Alphabet, das zur Sprache gehört, in der die Zweitstimme redet, besteht aus einem schlichten Kreuz. Es drückt in seiner Einsilbigkeit die Befürwortung einer Partei aus, die sich für die Ausübung der politischen Macht bereithält. Dabei hat diese Befürwortung für sich erst einmal gar keine Wirkung. Praktische Bedeutung bekommt eine Stimme erst, wenn nachgezählt wird; die Anzahl von Kreuzen, die eine Partei auf sich vereinigt, entscheidet darüber, ob sie oder eine andere Mannschaft regiert. Das famose Mehrheitsprinzip beruht eben auf der Gleichgültigkeit der Stimmen, was zuerst einmal die Wähler erfahren, die eine Minderheit angekreuzt haben. An ihnen läßt sich beobachten, was demokratische Reife heißt. Sie lassen sich nämlich von denen regieren, zu denen sie in der Wahl nein gesagt haben. Die anderen haben die Genugtuung, mit ihrer Stimme ihren Favoriten im politischen Geschäft zur Macht verholfen zu haben. Den Gebrauch der Macht können sie bis zur nächsten Wahl beobachten, und aus den Wirkungen, die das Regieren auf ihren Lebenswandel ausübt, können sie sich Gründe für die nächste fällige Stimmabgabe zurechtlegen.
So banal geht Demokratie. Sie funktioniert auf Grundlage einer regelmäßig wiederholten Technik der Ermächtigung, deren Ergebnisse von den Beteiligten, den aktiven wie passiven Wahlrechtlern anerkannt werden. Das darf man aber so nicht sagen. Statt dessen ist Anteilnahme verlangt am ach so spannenden Umgang mit den ausgezählten Stimmen. Darüber erfährt dann jeder, daß es sich bei den freien Wahlen nicht nur um eine äußerst schematische Ermächtigungstechnik handelt, sondern auch, daß die Herren und Damen Politiker das unablässig unterstreichen.
Der "Wählerauftrag"
Ihn lieben die Sieger über alles. Natürlich behauptet keiner, sein Programm in Sachen Waffenexport, Steuern, Renten, Krankenversicherung, die geplanten Staatsbesuche und Bundespressebälle seien haargenau das, was die Wähler auf ihren Wahlzettel geschrieben haben. Nein, die Zufriedenheit erstreckt sich pur auf die Anzahl der Kreuze; und als Wunsch "des Wählers", der nach der Abrechnung in der Einzahl zur Berufungsinstanz wird, gilt nur eines: daß "wir" - die mit der Mehrheit eben - bestimmen, was aus Deutschland wird. Wenn aufgrund des Fehlens einer absoluten Mehrheit, dem Ideal aller aktiven Demokraten, wieder einmal
Koalitionsverhandlungen
ins Haus stehen, so kommt selbstverständlich "des Wählers" Wunsch in der einen oder anderen Frage überhaupt nicht vor. Er erschöpft sich in der Erteilung des Rechts, sich durchzusetzen. Was kümmert es einen mit 9% oder 10% zu Buche schlagenden Koalitionspartner, daß es sich bei ihm um eine Splittergruppe handelt, die für sich gar nicht "mehrheitsfähig" ist - die Tatsache, daß CSU und FDP zum Regieren gebraucht werden, verleiht ihnen auch das Recht, ihre Vorstellungen vom Gang der Politik in den nächsten vier Jahren durchzusetzen. Einen Wähler jedenfalls fragen sie nicht, wenn sie ihre Ansprüche auftischen, die ohnehin zu vergebende Ämter betreffen und deshalb als
Sachfragen
in die Presse gelangen. Deren Vertreter, gegen die man manches einwenden kann, sind ehrlich genug, gleich am Wahlabend die einzig spannende Frage aufzuwerfen, die es gibt: "Wer wird was, welche Partei stellt welche Minister?" und dergleichen. Und was müssen sie sich von den Parteiobmännern sagen lassen? Daß zuerst "Sachfragen" zu besprechen seien und danach die Posten verteilt würden! Und daß diese schwierige Aufgabe die Presse und den Mob erst einmal gar nichts anginge. Das gibt den Presse- und Fernsehfritzen enorm zu denken und Mut zur Spekulation - darüber, wie sich die hohen Herrschaften denn wohl streiten und einigen dürften. Der Herr Wähler kommt da nicht vor - er darf beobachten, mit Hilfe der demokratischen Meinungsbildung, ob Strauß nach Bonn geht. Vielleicht hat er sogar in gewohntem demokratischen Schlendrian beim Machen seines Kreuzes haargenau solche "Alternativen" im Auge gehabt. Wenn ihn nicht
Das Wetter
von seinem ziemlich belanglosen Eingriff in die Verteilung der Macht abgehalten hat. Jedenfalls ist diese Befürchtung während des Wahlkampfes laut geworden. Zur Vermeidung von Enthaltungen, die nach Auffassung wichtiger Führungspersonen allemal den anderen, den Falschen also, zugutekommen, ist extra ein Argument erfunden worden. Nein, nicht der Hinweis, man könne den Gang der Dinge beeinflussen oder gar bestellen. Vielmehr der Spaß, daß die drüben allemal und bei jeder Temperatur ihre Moonboots satteln täten, bloß um einmal so richtig in den Genuß der höchsten Freiheit zu kommen. Dabei lassen sich die Brüder und Schwestern zur Akklamation ihres Staatswesens längst ohne die Wahl zwischen Kohl und Rau herbei! Dennoch bildet seit dem unvergeßlichen Wahlabend der Verweis auf die Wahlbeteiligung ein bevorzugtes Element der
Analyse
für die es erst einmal nicht "die Stunde" ist. Unter "Analyse" verstehen Politiker demokratischer Schulung die Beantwortung der Frage, wieso sie nicht so viele Stimmoen gekriegt haben, wie sie gebraucht hätten. Daneben und folgerichtig auch die Antwort auf die Frage: "Wer ist schuld?" Außer dem Wähler, der wieder einmal nichts gespannt hat, wird dann auch dem eigenen Auftreten einiges in die Schuhe geschoben. So intelligente Einfälle wie der, daß man einfach ein anderes Thema hätte in den Vordergrund stellen sollen, machen die Runde. Und diese Selbstkritik verwechselt in einer fertigen Demokratie kein Mensch mit der Aussage, man hätte ich beim Politik-Werbungs-Geschäft an den Interessen der Bürger orientieren müssen. Schon eher wissen da Presse und Volk, daß "der Wähler" ein wählerisches Subjekt ist und betört sein will - z.B. von so Sachen wie "Weiter so Deutschland!" oder "Ein Kanzler, dem man vertrauen kann!" Und daß er vor allem Streit in der Führung nicht leiden mag, aber auch keine Laschheiten. So "analysieren" sich die C-Schwesterparteien "den Wähler" unter wechselseitigen Schuldzuweisungen als gestandenen Faschisten zurecht.
Die Zweitstimme
war denselben Interpreten des Wahlergebnisses ein paar Tage zuvor noch die aufklärerische Mitteilung wert, daß es auf sie ankommt. Dem Wählervolk, dem Souverän, meinten sie die gewichtige Eröffnung schuldig zu sein, er solle sich mit seinem Zettel nicht vertun. Dazu die an Opfermut gemahnende Parole: "Wir kämpfen um jede Stimme.", bzw. "Wir haben keine Stimme zu verschenken! " Wen will damit eigentlich wer wovon überzeugen? "Der Wähler" hätte zumindest merken können, daß dieses Interesse an ihm ein wenig an das böse Wort vom "Stimmvieh" erinnert - also an die Wahrheit über das Wählen. Diese Wahrheit wollten wohl auch jene aufs Korn nehmen, die ohne die geringste Achtung vor dem Sakrament der Demokratie ein Plakat aufhängten, das die "Frankfurler Rundschau" vom 27.1 für "ironisch" hielt:
"Hallo Stimmvieh!
Ihr hattet die Wahl.
Wir haben die Macht.
So war's gedacht!
Dankeschön!
gez. Eure Regierung
nebst Opposition
Spätere Reklama-
tionen zwecklos"
Beim aufgeregten Beschimpfen dieses Plakats sind die Zweitstimmen noch einmal zu Wort gekommen, obwohl die Wahl schon vorbei war. Sie waren beleidigt, weil sie sich noch nicht einmal von dem Staat unterscheiden können, der ihnen den Unterschied tagaus tagein klarstellt.