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Dieser Artikel ist in der MSZ 2-1987 erschienen.

Systematik


DIE LEISTUNGEN DER NATURWISSENSCHAFT (2. Teil)

Technologie

Von der Technik ist zunächst einmal nichts geläufiger als ihre Zusammengehörigkeit mit der Naturwissenschaft; unter der Formel "Naturwissenschaft und Technik" wird ein Bereich verstanden, der erstens allen anderen geistigen und praktischen Aktivitäten der Menschheit entgegengesetzt ist und zweitens als diese Einheit eine erstaunliche Macht darstellt, die heute auch alles übrige, man mag sich streiten, ob zu Fluch oder Segen, aber jedenfalls unwiderruflich beherrscht. Über die Natur dieser bemerkenswerten Verbindung herrscht noch weniger Einigkeit als über ihren Wert. Naturwissenschaft und Technik stehen irgendwie in Relation; sie befruchten sich offenbar wechselseitig und lassen sich wohl auch unter das Kategorienpaar Theorie und Praxis subsumieren, was aber schon deshalb nicht so ganz einfach ist, weil die Technik nicht nur als Automobil über Land fährt, sondern auch als eine Wissenschaft den Technischen Hochschulen ihre Existenzberechtigung verschafft und als solche ein philosophisches Problem darstellt; denn schließlich wird da, oder vielleicht auch nicht, mit denselben Sachen jongliert wie an den Naturwissenschaftlichen Fakultätet. Hören wir einen Fachmann:

"Während bei den Naturwissenschaften das primäre Interesse der theoretisch ausgerichteten Erkenntisgewinnung gilt, steht bei der Technik also immer die praktische Anwendung im Vordergrund. In einem sehr allgemeinen Sinne kann man deshalb sagen, Naturwissenschaften und Technik verhalten sich zueinander wie Theorie und Praxis. Dabei handelt es sich aber nur um eine bedingte und partielle Zuordnung: Als Einsicht ingesetzmäßige Zusammenhänge, aus denen entsprechende Vorhersagen ableitbar sind, k ö n n e n - prinzipiell gesehen - alle naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse technisch genutzt werden. Damit es tatsächlich zur technischen Anwendung kommt, müssen darüber hinaus aber auch noch Werkstoffe und Verfahren bekannt sein, die es erlauben, ein Projekt mit ökonomisch vertretbarem Aufwand in der geforderten Größenordnung zu realisieren." (Rapp in: Lenk/Moser, Techne - Technik - Technologie, 1973, S. 123f)

Der Verfasser dieses Zitats lehrt Philosophie an einer Technischen Hochschule und tut deshalb nur seine Pflicht, wenn er esals Spezifikum der Technik ansieht, daß sie manchmal zuviel Geld kostet und deshalb gar keine Technik wird. Er hat ganz recht, so wenig er damit auch zu einer Definition der Technik beiträgt. "Prinzipiell gesehen" sind dem Professor eh alle Katzen grau und Unterschiede Ansichtssache. Die Naturwissenschaft liefert Prognosen, und:

"Von entscheidender Bedeutung für die systematische Beziehung zwischen Technik und Naturwissenschaften ist nun die Tatsache, daß ebendieselben Vorhersagen - durch eine bloße Änderung der Interessenrichtung - in der Technik dazu benutzt werden können, um praktische Aufgabenstellungen zu lösen. ...Methodologisch gesehen sind also die Vorraussagen, die sich aus einem erkannten Naturgesetz ableiten lassen, indifferent gegenüber der Funktion, die sie erfüllen sollen: Innerhalb der naturwissenschaftlichen Forschung dienen sie zur allgemeinen Überprüfung des theoretischen Ansatzes, und innerhalb der Technik stehen sie im Dienst einer konkreten Aufgabenstellung.." (ebd., S. 122f)

Auch dem Autor dürfte es noch nicht gelungen sein, mit Hilfe der abendlichen Wetterprognose ganz konkret die Sonne scheinen zu lassen, so groß auch wochenends das Interesse daran sein mag. Um den erkenntnistheoretisch malträtierten Einsichten der Naturforschung ihre Brauchbarkeit für eine praktische Zielsetzung zu attestieren, begründet er ihre Funktionalität mit der Indifferenz, also dem Gegenteil dessen, quod erat demonstrandum. So wenig in der Tat Naturgesetze durch "eine bloße Änderung der Interessenrichtung" Schaden erleiden können, so wenig kann auch ihre Bedeutung für die Technik durch den frommen Wunsch des Anwenders zustandekommen.

Aller Rekurs des Technikers auf die Naturgesetze wäre ein zum Scheitern verurteilter Selbstbetrug, wenn ihm diese nicht ihrem wahren Inhalt entsprechend bekannt wären. Es wird nicht mit einer falschen oder wie auch immer bloß wahrscheinlichen Theorie erfunden, sondern allenfalls trotz und neben falschen Vorstellungen eine richtige Konstruktion entwickelt, was auch das immer wieder gern zitierte Beispiel eine richtige Konstruktion entwickelt, was auch das immer wieder gern zitierte Beispiel von

der Erfindung der Dampfmaschine im Zeitalter der falschen Lehre vom Wärmestoff nicht anders demonstrieren kann.

"Denn", um einen besseren Philosophen der Technik zu zitieren, "der Natur bemächtigt man sich nur, indem man ihr nachgibt, und was in der Betrachtung als Ursache scheint, das dient in der Ausübung zur Regel."

Das Erarbeiten wirklicher Kenntnisse, wie sie Bacon vor Beginn der modernen Naturforschung forderte, ist heute eine selbstverständliche Vorraussetzung der Technik. Dazu ist neben der Gewißheit, daß nicht gegen die Natur verfahren werden kann, die nicht minder große Einsicht vorhanden, daß den einschlägigen Kennnissen ihr nützlicher Charakter immanent ist. Das allgemeine Resultat, zu dem die Erforschung der Naturgegenstände gelangt, ist ihre Bestimmtheit von außen. Die Naturwissenschaft ist eine Anweisung auf die praktische Beherrschung der Natur, indem sie zeigt, welche Zusammenhänge existieren, welche Prozesse ablaufen - also auch, wie modifizierend, den beabsichtigten Wirkungen entsprechend, eingegriffen werden kann. Weil also die theoretische Befassung mit der Natur Möglichkeiten der Nutzbarmachung formuliert, steht sie in der Vollendung ihrer Aufgabe zugleich wieder an ihrem Anfang. Um das, was in der sich selbst überlassenen Natur nur zufällig realisiert ist, planmäßig herbeizuführen, oder absichtlich solche Konstellationen zu erzwingen, die in der gewünschten Form nicht vorgefunden werden, müssen die disparaten Gegenstände in eine Verbindung gebracht werden, die vom angestrebten Ziel diktiert ist, und zugleich von von anderen störenden Einflüssen geschieden werden. Es ist also eine Wissenschaft nötig, die von den bekannten Eigenschaften der Dinge ausgehend darüber nachdenkt, wie ihr möglicher Nutzen zu realisieren ist: die Wissenschaft der Technologie.

Die Fächer, in denen man seinen Ingenieur machen kann, verweisen denn auch schon in ihrem Namen darauf, daß sie in der Befriedigung irgendwelcher menschlicher Bedürfnisse ihren Grund haben - es gibt das Bau-, Brau-, Raumfahrts- usw. -wesen. Aber nicht die Frage, was gemacht wird, sondern wie und mit welchen Mitteln das möglich ist, gibt den Anlaß zu diesen Wissenschaften, so daß die führenden technischen Disziplinen in ihrem Titel davon künden, daß sie - wie der Maschinenbau - die Universalien der moderenen Industrie behandeln und daß diese heutzutage, man denke an dei Elektrotechnik, schon hinreichend definiert zu sein scheinen durch den bloßen Hinweis auf etwas, was einmal besonderer Inhalt der Naturforschung war. Die Abgrenzung der einzelnen Fachrichtungen, wie sie eine TU ausmachen, enthält im Unterschied zu den Naturwissenschaften historisches Moment - sie stehen in Relation zur Entwickeltheit der Produktion und dem Stand der bereits verfügbaren Erkenntnisse. Ihnen allen gemeinsam ist auf jeden Fall der konkrete Charakter ihrer Forschungen, der freilich nichts mit "größerer Realität" zu tun hat, wie ein Ingenieur sich das als Unterschied zu den reinen Naturwissenschaften vorstellt - als ob die Elektronen weniger wirklich wären als eine Schaltung, die vielleicht erst auf dem Papier existiert.

Vielmehr verlangt es die Aufgabe der Technologie, an und für sich disparate Gegenstände ins Verhältnis zu setzen und dabei die verschuedensten Umstände zu bedenken. Eine Maschine mag auf der Anwendung simpelster mechanischer Prinzipien beruhen; was ihre Konstruktion zu einer eigenen Aufgabe macht, ist die vielfache Wiederholung des Elementaren und die geschickte Zusammenfassung der einzelnen Wirkungen. Hinzu treten Fragen des Antriebs, der Realisierung des ganzen Gebildes in geeigneten Materialien, der dauerhaften erhaltung der Funktion usw. Ein Maschinenbauer muß so auch auf die Kenntnisse der Thermodynamik, Elektrizitätslehre oder Chemie, weiter der abgeleiteten Fächer wie der Werkstoffkunde zurückgreifen.

Die Bewältigung dieses Konkreten gibt Anlaß zu den verschiedensten Formen der Arbeitsteilung. Der Sache nach tendiert die Lösung technologischer Probleme zur interdisziplinären Forschung, und wenn auch ein Katalog von Kenntnissen verschiedener Gebiete, ob sie nun explizit als Hilfswissenschaften auftreten oder in tradierten Methoden aufgehoben sind, zum festen Bestandteil einer Ingenieursdisziplin gehört, so wird doch immer wieder die Zusammenarbeit von unterschiedlich spezialisierten Fachleuten nötig. Umgekehrt können an und für sich technische Probleme, wie z.B. die Entwicklung "maßgeschneiderter" synthetischer Stoffe, im Rahmen der reinen Chemie bearbeitet werden und schließlich dort eine Hauptaufgabe bilden, während sich daneben die Verfahrenstechnik beispielsweise um allgemeine Methoden zur Behandlung der großen Gasmengen kümmert, wie sie die Realisierung der chemischen Prozesse in industriellem Maßstab fordert.

Die Technologie, die also Erfindungen macht, und das Allgemeine daran zu einem Lehrgebäude ausarbeitet, hält sich mit Recht etwas darauf zugute, nicht nur als Nutznießer die Ergebnisse von Physik und Chemie zu rekapituklieren, sondern auf der gegebenen Grundlage eine Forschung eigener Art zu betreiben. Charakteristisch für den Ingenieur, der etwas Neues entwickelt, ist es zunächst einmal, daß er seine Elaborate testet. Das klassische Beispiel eines Messerschmidt, der auf den selbstgebastelten Flugzeugen herumsprang und -trampelte, um ihre Haltbarkeit zu testen, zeugt von einem originellen Verhältnis der Technologie zum Experiment, auch wenn dieses im allgemeinen kanonischere Formen annimmt als in der Anektode. Der Stolz des Ingenieurs, ganz unwissenschaftlich und ad hoc die nötigen Maßstäbe zu setzen, hat in Wahrheit peinlich genaue Meßreihen zur soliden Grundlage und beweist damit ein spezielles Bedürfnis der Technologie.

Der Grund ist hierbei nicht allein, so auffällig dies auch erscheint, daß die Technologie mit der Fehleranfälligkeit der eigenen Überlegungen rechnet. Eine Fehleranfälligkeit, die mehr als etwas zu tun hat mit dem gefeierten Praxisbezug, d.h. dem Zwang, auf ökonomische Weise zu einem selbst wieder ökonomisch beschränkten Resultat zu kommen. Solche Tests können auch nie die Richtigkeit der Konstruktion beweisen, sondern nur, wenn man Glück hat, Fehler zeigen, die so - mit womöglich geringem Aufwand - zu finden allerdings eine gängige Praxis der Zunft ist. Der springende Punkt ist aber hier vielmehr wieder der konkrete Charakter technologischer Gegenstände. Naturwissenschaftlichen und technologischen Experimenten ist gemeinsam, daß das Objekt der Forschung aus seiner störenden Verwicklung in den allgemeinen Naturzusammenhang befreit werden muß. Aber wo es dem ersten allein darum geht, die Sache für die Erkenntnis aufzuschließen, ist das zweite an den Verwicklungen selbst interessiert, um sie praktisch zu bemeistern und den intendierten Prozeß ins Werk zu setzen. Der Physiker negiert die Reibung als eine Kraft unter anderen, wo es ihm nur um den mechanischen Effekt zu tun ist; sie liegt jenseits der gerade untersuchten Gesetzmäßigkeit, und sie als nicht dazugehörig abzutrennen, ist die hier erstmal fällige Einsicht. Der Techniker, insofern er mit Mechanik ein nützliches Ergebnis anstrebt, muß mit der Reibung kalkulieren, sich also positiv auf sie einlassen, wo er sie, so gut es geht, ausschalten möchte. Der Betriebszyklus einer Verbrennungsmaschine mag vom Standpunkt der Thermodynamik eine klare und gut verstandene Sache sein; seine Realisierung erfordert jedenfalls eine Vielzahl von Versuchen, die über Zusammenhänge von Geschwindigkeit des Ablaufs,

Materialbelastung, erforderlicher geometrischer Präzision der Teile usf. quantitativen Aufschluß geben und den Ingenieur mit den Daten ausstatten, die für eine brauchbare Auslegung des ganzen Apparats entscheiden sind. Im Unterschied zum Physiker und Chemiker nimmt also der Technologe in seinen Experimenten die wirkliche Nutzbarmachung der Natur vorweg. Indem er seine Prototypen testet, Modellversuche macht usw., prüft er, durch welche Konstellation sich der erstrebte Zweck am günstigsten ergibt. Solche Untersuchungen mögen wiederum ihre Fortsetzung in der Naturwissenschaft finden; ihr nächstes Ergebnis ist jedoch der brauchbare Apparat oder Vorgang zusammen mit dem Wissen um seine Beschaffenheit.

Hören wir nochmal unseren Gewährsmann in Sachen Philosophie der Technik:

"Im Gegensatz zu den weitgespannten, deduktiven Aussagensystemen der Naturwissenschaften, die eine möglichst präzise mathematische Beschreibung liefern sollen, gibt man sich in den technischen Wissenschaften mit relativ isolierten Feststellungen zufrieden, die dafür aber von vornherein auf konkrete Aufgabenstellungen bei der Realisierung oder Benutzung technischer Geräte zugechnitten sind. Deshalb zeichnen sich die in den technischen Wissenschaften auftretenden Begriffe im allgemeinen durch eine größere realitätsnähe aus, denn das eigentliche Ziel besteht hier ja darin, für die praktisch relevanten Parameter, die z.B. die Dimensionierung eines technischen Gebildes oder die Ausbeute eines bestimmten Verfahrens betreffen, hinreichend genaue Zahlenwerte zu erhalten." (Rapp, a.a.O., S. 129)

Weil der Autor die Meinung verfechten will, daß sich "über ein und denselben Gegenstand - nämlich die Gesetzäßigkeiten der materiellen Welt -" verschiedene Wissenschaft betreiben läßt, verwandelt er den Unterschied technischer und naturwissenschaftlicher Forschungen in einen Gegensatz, dem zuliebe die einen idealisieren, während die anderen "dafür aber" den Trost praktischer Erfolge haben. Was er leugnen will, spricht er jedoch aus, indem er seine beiden Beispiele anführt: Zahlenbestimmungen des Konkreten zu gewinnen, ist eine wesentliche Aufgabe für die Technologie. Daß dies ein eigenes Geschäft ist, kann nur denjenigen stören, der darin, daß die Technik in ihren Erfindungen von vorhandenem Wissen ihren Ausgang nimmt, nun gleich einen Anlaß findet für den Argwohn, alles weitere müsse, insofern es überhaupt stattfindet, nicht in der Adäquatheit der Ausgangsvorstellungen, sondern in der Notwendigkeit ihrer Korrektur seine Rationalität haben.

Trennung und Unterordnung von Naturwissenschaft und Technologie

Die Techniker, die ihre eigenen geistigen Taten als Musterbeispiel von Praxisnähe zu apostrophieren sich bemüßigt fühlen, drücken gerade in diesem ihr Eigenlob aus, daß sie mitnichten die Praxis der Naturwissenschaften darstellen. Auch ihre Leistungen sind theoretischer Natur, und daß sie die materielle Produktion betreffen, heißt ganz im Gegensatz zu ihrem Selbst verständnis, daß sie sich in einem ziemlich verrückten Verhältnis zu ihr bewegen. Denn die Technologie ist eine Wissenschaft der Maschinen und produktiven Verfahren nicht in der Weise, daß die existente Produktion Gegenstand ihrer Betrachtung wäre: Sie beschäftigt sich vielmehr mit deren Möglichkeiten - wie kann man etwas machen, was kommt dabei heraus, wenn man...

Kurz, die Technologie ist die bloß ideelle, vorgestellte und im Kopf ausgeführte Auseinandersetzung mit der Natur, und ihre praxisgeilen Vertreter müßten sich von daher für die größten Phantasten, Spekulanten und Projektmacher halten.

Die Zeit der armen und verkannten Erfinder, der Chemie in der Waschküche ist allerdings ganz ebenso vorbei wie die der reichen Diletanten und Königlichen Gesellschaften, und wenn sich die Natur- und Technikwissenschaftler vom kleinsten Werkstudenten bis zum Sach- und Personalmittel verbrauchenden Ordinarius so intim mit Siemens und Co. fühlen, so haben sie ihre Gründe, als welche ihnen allerhand lukrative einfallen werden, aber nie die Tatsache, daß sie durch ihre Selbstständigkeit aufs schönste der Industrie in die Hand arbeiten.

Technologie und Naturwissenschaft nehmen in ihrer Arbeit die wirkliche Produktion vorweg bzw. schaffen die theoretischen Voraussetzungen dafür, ohne sich anders darin einzumischen, als daß sie ihre Resultate anbieten. Undenkbar ohne ihr gänzlich unakademisches Komplement, bilden sie eine eigenständige Sphäre gesellschaftlicher Arbeit, die schon durch die Exklusivität der einschlägigen Karrieren anzeigt, daß es bei ihrer Abtrennung um mehr geht als eine Konsequenz aus der schlichten Tatsache, daß Gedanken zu fabrizieren etwas anderes ist als in der Fabrik beispielsweise Blech zu stanzen. Naturwissenschaft und Technologie beweisen durch ihre separate Existenz, daß ihre Leistungen in dieser Produktion als notwendiges Mittel für den Reichtum anerkannt und gebraucht werden, daß die Erarbeitung des Wissens dort aber als das glatte Gegenteil von wirtschaftlichem handeln gilt und tunlichst vermieden wird. "Einmal entdeckt, kostet das Gesetz über die Abweichung der Magnetnadel im Wirkungskreis eines elektrischen Stroms oder über die erzeugung von Magnetismus im Eisen , um das ein elektrischer Strom kreist, keinen Deut." (Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, S. 407) So daß sich mit dergleichen Entdeckungen auch schlecht ein Geschäft machen läßt und alle eigenen Bemühungen um sie reiner Verlust sind. Der Betrieb von Forschung und Lehre an NatFaks und TUs, wie sie der Staat organisiert, ist eine Forderung der kapitalistischen Produzenten, gerade weil sie deren Ergebnisse privatissime et gratis nutzen wollen, und das immer wieder auflebende Gezeter um die mangelnde funktionalität akademischer einrichtungen beweist, eben weil der Nutzen gesteigert werden soll, daß sie als Mittel des Kapitals existieren.

Der scheinbar trivialste Aspekt aller entwickelten Technik, daß es nämlich zu ihren Segnungen gehört, vom Anwender nicht zu verlangen, daß er über ihr Funktionieren Bescheid weiß, bekommt hier eine spezifische Bedeutung. Mit ihrer Analyse der Produktion nach ihrem sachlichen Inhalt erlauben es Naturwissenschaft und Technologie, die Schranken von Kraft und Geschicklichkeit des arbeitenden Subjekts zu überwinden; an die Stelle des Werkzeugss, mit dem der Arbeiter den Gegenstand seinen Zwecken und Absichten gemäß zurichtet, treten Maschinerie und industrielle Verfahrensweise, also ein zweckmäßig organisierter Naturprozeß, der als solcher Leistungen der Handarbeiter in sich aufgenommen hat und ersetzt. Die geistigen Potenzen der Arbeit existieren so objektiv als Mechanismus, den sein Eigentümer als Mittel zur Realisierung seines Zwecks einsetzt. Wo dieses System eigentliche Arbeiter benötigt, sind sie vom Anwender durchaus verschieden, nämlich als Naturkraft sui generis unter die selbstständige Bewegung der Maschinerie subsumiert, und sie fungieren in dem Maße als ihre Handlanger, als ihre Mithilfe dem ökonomischen Zweck dient.

Davon, daß also die große Industrie "die Wissenschaft als selbstständige Produktionspotenz von Arbeit und Kapital trennt und in den Dienst des Kapitals preßt" (Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, S. 382), legen die Vertreter der Wissenschaft auf ihre Weise Zeugnis ab, wenn sie das Bedürfnis verspüren, den mehr oder meist weniger gebildeten Laien an ihren Erkenntnissen teilhaben zu lassen.

Der Versuch, naturwissenschaftliche Ergebnisse zu popularisieren, gereicht noch jedem großen alten Mann der Zunft zur Zierde und ist, um die Sache von seinem persönlichen Geschick unabhängig zu machen, als Veranstaltung der öffentlichen Medien institutionalisiert. Der Grundsatz, daß höhere Mathematik und ähnlich schwiereige Geschichten Begabungssache und damit nur für wenige sind, wird dabei freilich nicht umgestoßen. Man wendet ihn vielmehr an und klärt das Volk, das doof ist, weil es nichts gelernt hat, und sich über die Konsequenz ärgern muß, auf andere Weise auf. Populärwissenschaftliche Bemühungen beinhalten deshalb dreierlei: Zunächst wird den Betroffenen erklärt, daß die Technik und all das wissenschaftliche Zeugs nicht nur der Fortschritt überhaupt ist, sondern auch ganz speziell ihnen zugutekommt, sprich z.B. als "fall-out" der Raumforschung in Gestalt von Teflon-Pfannen und Taschenrechnern in ihre Küche segelt. Zum zweiten ist zu lernen, daß es mit der nützlichen Wissenschaft so einfach nicht ist; wenn wir schon vom viel gekrümmten Raum nebst schwarzen Löchern umgeben sind, ist es kein Wunder, daß sich auch trotz der Statistik nicht alle Unannehmlichkeiten dieser Welt beseitigen lassen. So daß man drittens aus der Natur Beispiele entnehmen kann für eine gute und menschliche Ordnung, wie wir sie haben - doch mehr darüber im nächsten Kapitel...

Korruption

Allen pseudomaterialistischen Theorien zum Trotz, die die Technik zum Motor der Geschichte machen - ob im Osten die Elektrifizierung den Kommunismus herstellen sollte oder bei uns eine alle 50 Jahre stattfindende Innovation einen Mordsboom im Schlepptau hat -, sind Naturforscher und Ingenieure noch nicht einmal die Subjekte des technischen Fortschritts. Was sie nicht hindert, sich als solche nicht nur zu wähnen, sondern auch aufzuspielen. Aber gerade damit zeigen sie, worauf es wirklich ankommt in der Welt.

Die Tatsache, daß naturwissenschaftiche und technologische Ergebnisse Anweisungen auf einen ökonomischen Nutzen sind, über dessen Realität anderswo nach keineswegs technischen Maßstäben entschieden wird, ist für einen modernen Naturwissenschaftler Grund genug, sich entsprechende Kriterien zur Beurteilung des eigenen Schaffens zuzulegen.

Studenten sind beflissen, eine nicht zu theoretisch anmutende Diplomarbeit - möglichst interaktiv am Computer! - zu erwischen; Die chemische Dissertation bei Professor C.C. Bindung gilt nach Form und Inhalt als identisch mit einer leitenden Position bei der BASF, und in Oberseminaren und bei Gastvorträgen hat die pluralistische Kritik Einzug gehalten mit den beiden Argumenten: Das bringt doch nichts, resp. das hat man doch vor fünf Jahren auch schon gekonnt.

Solche kleinen Peinlichkeiten der Konkurrenz um Posten und Geld, mit denen der ganze Stand sein Dienstverhältnis fürs Kapital, auf dem er beruht, auch noch zur Schau stellt, verblassen freilich vor der größeren Aufgabe, die neuen Einsichten und Einfälle, die man sich schwer erarbeitet, ins rechte Licht zu setzen. Schließlich kann man nicht erwarten, daß das Interesse an einer neuen Sache schon v o r dieser das Licht der Welt erblickt, und so muß man den maßgeblichen Leuten in den Ohren sitzen, damit man seine Projekte gefördert kriegt. Die Übersetzung ihrer Forschungsgegenstände und -resultate in ein Bedürfnis des Staats- und Wirtschaftslebens ist den Wissenschaftlern ein selbstverständliches Erfordernis, und jeder Blick in die Natur läßt sie eitel Nutzen sehen.

Kaum war z.B. die Spaltung des Atomkerns entdeckt, als sich schon die Physikergemeinde an die Propagierung ihrer ungeahnten Möglichkeiten machte:

"Damit ist das erreicht, was bisher noch nie gelungen war: Mit einem einzigen Neutron, das zündet, wird eine wägbare, ja beliebig große Menge von Uran umgesetzt und dabei Kernenergie freigemacht. ...Das Land, das als erstes Gebrauch davon macht, besitzt gegenüber den anderen eine nicht mehr einzuholende Überlegenheit." (Winnacker, Das unverstandene Wunder, S. 29)

Bevor man überhaupt wußte, was da eigentlich passierte, war man sich schon klar, was für ein gewaltiges Mittel der wirtschaftlichen und militärischen Überlegenheit man seinem Staat in die Hände geben will, und begann die Schwärmerei über das, was Wunder, "bisher nie Gelungene": "Mit einem einzigen Neutron, beliebig große Mengen..." usf.

Ensprechend fabelhaft geht es immer zu bei den Innovationsschüben, und "redliche" Vorbehalte unterstreichen nur, daß wirklich wissenschaftliche Wunder auf die Menschheit zukommen:

"Obwohl in der Praxis nutzlos, ist es mittlerweile möglich geworden, Gene von Mensch und Pilz, Ameise und Elephant, Eiche und Kohl miteinander zu vermischen. Somit steht der gesamte Genpool der Erde, das Produkt der Evolution von 3 Milliarden Jahren, zu unserer Verfügung: Jetzt ist der Schlüssel zum Königreich in unserer Hand." (Wade, Gefahren der Genmanipulation, S. 8)

Die den Tatsachen spottende Angeberei, mit der hier die Molekularbiologie staatliche Aufmerksamkeit und Gelder auf die Verfolgung des "Traums vom neu programmierten Leben" lenken will, ist natürlich nicht mehr als eine Absichtserklärung der beteiligten Forscher, aus ihren Ergebnissen etwas zu machen - in welchem Umfang man sie ihre Sache betreiben läßt und mit Geld und Ehren ausstattet, unterliegt noch der durch kritische Kollegenstimmen und Industrieinteressen gewitzten Entscheidung des Staats. Aber der erklärte Wille der Wissenschaftler hat es in sich.

Kommt nämlich der Entschluß, daß die neu gefundenen Möglichkeiten in die Praxis umgesetzt gehören, ohne nähere Kenntnis der Bedingungen und Folgen des angestrebten technischen Prozesses aus, so beinhaltet das Programm zu seiner Realisierung, die nötige Gegenliebe vorraussetzt, entsprechende Rücksichtslosigkeiten. An der Durchsetzung nicht nur der Kernkraftwerke springt ins Auge, daß es den beteiligten Wissenschaftlern völlig ausreicht, die projektierte Wirkung machbar zu machen. Es wird solange geforscht, bis man der Industrie einen kontinuierlich ablaufenden Kernspaltungsprozeß oder biochemisch modifizierte Bakterien liefern kann, und von den mit dem erreichten Effekt identischen unerwünschten Wirkungen wie der Freisetzung von radioaktiven Strahlen oder Krankheitserregern abstrahiert man als bloße Begleiterscheinungen. Die neue Technik teilt sich so auf in einen Fortschritt, der sie selber ist, und eine Sicherheitsproblematik, um die man sich leider auch noch kümmern muß, soweit man von Staat und Öffentlichkeit dazu gezwungen wird. Der Standpunkt, von dem aus diese völlig untechnische Zerlegung der Sache überhaupt rationell wird, ist der Profit des Anwenders.

"Der Brennstabradius ergibt sich als Kompromiß zwischen verschiedenen Gesichtspunkten. Bei gegebener Stableistung bedeuten dicke Stäbe einen großen Brennstoffeinsatz je Leistungseinheit und damit hohe Zinskosten, während bei dünnen Stäben die anteiligen Fertigungskosten zu hoch werden. Außerdem ist bei der Festlegung des Stabdurchmessers zu beachten, daß die maximale Wärmestromdichte unter der kritischen Wärmestromdichte bleibt. Man arbeitet hier im allgemeinen mit einem Sicherheitsfaktor 2." (Smidt, Reaktortechnik II, S. 90)

Das Handwerk von Naturforschern und Ingenieuren besteht eben nicht einafch darin, die mannigfachen Gebrauchsweisen der Dinge zu entdecken und zu realisieren. Sie schließen nämlich Kompromisse zwischen Zins- und Fertigungskosten und erinnern sich dann "außerdem" noch daran, daß ihr Kompromißreaktor nicht einfach explodieren darf. wer sich nun wundert, daß solch ein Naturwirt nicht nur Zentimeter gegen DM aufrechnet und umgekehrt, was in der Welt des Kapitals schließlich jeder irgendwie beherrscht, sondern daß hier auch noch eine so merkwürdige Größe wie ein Sicherheitsfaktor in der Rechnung auftaucht, sei beruhigt: Dieser Faktor ist auch nur aus der einen Grundgröße der Ökonomie abgeleitet, was sich z.B. der folgenden Begründung dafür entnehmen läßt, daß ein Reaktor einfach radioaktive Substanzen freisetzen muß:

"Das hat im allgemeinen zwei Ursachen: Entweder haben die Radionuklide besondere chemische Eigenschaften, wie z.B. Tritium, oder aber der technische oder wirtschaftliche Aufwand, die geringen Restmengen zu entfernen, ist so groß, daß er nicht gefordert werden kann."

Jeder besondere Stoff hat besondere Eigenschaften, und die sind kein Hindernis, sondern just das Mittel, ihn nicht nur theoretisch vom Rest der Welt zu scheiden. Das mag schwierig sein, aber dem Ingenieur ist nichts zu schwör, und so wird eben die hier als unlösbar behauptete Aufgabe, z.B. bei der Aufbereitung des Reaktorkerns lässig erledigt. Bloß ist das, was im einen Fall als Vorraussetzung fürs Geschäft gemacht wird, im anderen Fall reine Geldverschwendung: Die im Zitat aufgestellte Alternative ist also keine, sondern reduziert sich völlig auf das "Oder". Trotzdem oder gerade deshalb ist die hier ausgesprochene Entgegensetzung zweier Gründe, die ergo auch gänzlich gleichberechtigt sind, jedem Ingenieur aus der Seele gesprochen. Ihn beherrscht die Vorstellung vom Sachzwang, und so definiert er es sich als seinen Beruf, alle möglichen Schwierigkeiten der Profitmacherei zu überwinden, die unterschiedslos aus den Daten des Physikbuchs und des Börsenblatts erwachsen. Den Naturwirt unterscheidet vom Betriebswirt nur, daß ihm beim Stichwort 2,50DM gleich Schmieröl oder Kugellager einfallen, welche Sorge ihm das Management auch getrost überlassen kann. Man betrachte die Propaganda für die Kernkraftwerke einmal von diesem Gesichtspunkt! Erstens erfährt hier jeder, daß er sich vor der radioaktiven Verseuchung nicht zu ängstigen braucht, denn von sowas weiß die Wissenschaft überhaupt nichts, weil die diversen Strahlen doch bei jedem Menschen anders wirken. Zweitens also wird vorgeführt, daß die Energie knapp ist in der Natur und deshalb bald nicht mehr vorhanden - als ob es nicht am Ölpreis und dem Geschäft mit dem Atomstrom läge, daß man sich freudig auf die, noch ein Widerspruch, unerschöpfliche Kernenergie stürzen soll. Mit einem Wort:

"Ein gut aussehender Mann zu sein ist eine Gabe der Umstände, aber lesen und schreiben zu können kommt von der Natur."

Und damit sind wir schon beim nächsten Punkt. Daß so ein Naturwirt seine wissenschaftlichen Anstrengungen dem Kapital subsumiert, ändert nichts daran, daß, wie für jeden Zweck, eine ordentliche theoretische Befassung mit den beteiligten Naturgegenständen vonnöten ist, und die findet auch statt. Daß das Ergebnis solchen treibens hier und heute nichts mit rationeller Nutzung der Quellen des Reichtums zu tun hat, sondern die Zerstörung von Mensch und Natur einschließt, gibt allerdings schon der vorbereitenden Arbeit des Naturwirts spezifische Züge: Er überlegt sich eben, um welche wohlbekannten Nebenaspekte seiner Erfindung er sich sinnvollerweise nicht weiter kümmert, welche ursprünglich vorgesehenen Sicherheitseinrichtungen einer Anlage nach Recht und Billigkeit wieder abmontiert gehören, oder wieviel von der Last des technologischen Experiments man als Kinderkrankheiten eines neuen Geräts dem Publikum zuteil werden lassen kann. Selbst Flugzeugabstürze beruhen auf Naturbeherrschung.

Wissenschaftlich korrupt wird so ein Naturwirt dann, wenn er, einem Kanzlerwort folgend, seine "Bringschuld" gegenüber der Gesellschaft einlöst und die Menschheit mit falschen Argumenten von der Notwendigkeit der Schattenseiten des Fortschritts zu überzeugen sucht, den Staat und Kapital veranstalten. Die erste und am weitesten verbreitete Form dieser Abstraktion von der Wahrheit besteht einfach darin, daß die Naturwissenschaftler mit ihrer Autorität als erfolgreiche Gestalter der Welt wohlbekannte Ideologien unterstützen nach dem Motto: Auch der VDI befindet, weil er es wissen muß, daß die neuen Maschinensysteme nicht des Nachts ungenutzt in der Fabrik herumstehen können. Bei dem ebenfalls ziemlich technischen Farbfernseher des Arbeiter ist diesen Herren so ein Argument noch nie eingefallen.

Substantiellere Formen nimmt die Sache an, wenn die Männer der Exaktheit und Objektivität kurzerhand neu Pseudowissenschaften aufmachen, die, scheinbar nach dem Vorbild der Naturwissenschaft verfahrend, nichts anderes sind als die Apologie der praktizierten Zerstörung von Mensch und Natur. Prominente Beispiele liefert wieder die KKW-Technologie, wo sie an die Verharmlosung der ihr eigentümlichen "Gefahren" geht:

"Die in der Einheit rem gemessene Äquivalentdosis ist die Energiedosis unter Berücksichtigung des Qualitätsfaktors, also 1 rem = 1 rad x QF. Für reine Alphastrahlung ist der Qualitätsfaktor gleich 10, d.h. eine Energiedosis in Form von Alphastrahlen kommt an Wirkung dem Zehnfachen einer gleich großen Energiedosis in Form von Gammastrahlen gleich." (Michaelis, Kernenergie, S. 392)

Im Gegensatz zu wirklichen Naturkonstanten wird dieser Qualitätsfaktor "nach Maßgabe experimenteller Ergebnisse durch Übereinkunft festgelegt". Die Einheit rem dient zur Etablierung von Faustregeln, die nicht nur auf Wahrheit keinen Anspruch erheben können, sondern umgekehrt die kalkulierte Abstraktion von den Tatsachen zu praktizieren gestatten, um die man sich nicht ernsthaft kümmern möchte. Wo in allen Lehrbüchern steht, daß jede Art radioaktiver Strahlung schon für sich allein eine Fülle ganz verschiedener Schädigungen lebender Organismen bewirkt, beinhaltet die fiktive Kommensurabilität aller Strahlen im QF nichts anderes als den Entschluß der Physiker, ein bestimmtes Quantum an toten oder sonstwie unbrauchbaren Individuen als Durchschnittsschaden dem Gesetzgeber zur geflissentlichen Entscheidung zu offerieren. Klar, daß die Bezifferung dieses Durchschnittsergebnisses dem Streit der verschiedenen interessierten Forscherpersönlichkeiten unterliegt - die einen denken mehr an den billigen Atomstrom, die anderen auch noch an die Kosten staatlicher Fürsorge -, aber alle sind sich einig, daß Opfer in Kauf genommen werden müssen.

Bevorzugtes Medium solcher Streitereien ist die Wahrscheinlichkeitsrechnung, deren Anwendung hier z.B. so aussieht:

"Die bisher getroffene Annahme - daß die Ursachen für ungünstige Temperaturabweichungen alle an der gleichen Stelle auftreten - liegt zwar auf der sicheren Seite, ist aber sehr unwahrscheinlich. Deshalb ist eine genauere statistische Analyse erforderlich." (Smidt, Reaktortechnik II, S. 13)

Man setzt also Annahmen darüber in die Welt, was alles im Reaktor passieren könnte, und dann schimpft man dergleichen "unwahrscheinlich" und macht sich lieber neue Annahmen, weil einen die alten in der Praxis doch zu sehr einschränken würden. Das einzig Gewisse an diesen immer "genaueren Analysen" ist, daß die Unfälle, die man einschätzen will, sehr wohl in der Natur der Sache liegen und kein Zufall sind - sonst hielte nicht jeder Spekulationen dazu für angebracht. Im Unterschied zu den Urteilen höchst fragwürdiger Brauchbarkeit, die die Wahrscheinlichkeitsrechnung sonst produziert - was hat einer schon von einer genau bezifferten Chance für den Lottogewinn -, liegt der Nutzen hier in der irrationellen Anwendung dieser mathematischen Theorie. Die naturgesetzlichen Vorgänge im Reaktor werden zu einer Domäne des Zufalls erklärt, weil man sich nur bedingt damit beschäftigen will, und dann können die diversen Risikostudien mit dem Gestus der Wissenschaftlichkeit - alle Zahlen bis auf die x-te Kommastelle genau, wenn auch nur Produkt eines Ansatzes - dartun, daß das Menschenmögliche unternommen wird, die "hypothetischen" Gefahren zu bannen. Für den Staat kommt aus dem gelehrten Meinungsaustausch immer noch heraus, daß r wohl mit den KKWs leben kann, und das Volk kann den Trost gewinnen, daß ihm die Dinger auch nicht mehr schaden als anderthalb Zigaretten im Jahr.

Das praktische Ergebnis der Risikoanalysen, wie es dann gleichermaßen in Beton und Stahl wie in Gesetzesparagraphen existiert, heißt so vornehm wie passend Sicherheitsphilosophie. Wenn dergestalt bei der Technik die "Gefahren" ein anerkanntes und selbstverständliches Problenm bilden, dann erfordert diese Technik bei ihren ingenieursmäßigen Schöpfern auch eine Einstellung, die mit Wissenschaft nichts gemein hat. Den Übergang aus der ewig unvollkommenen Welt seiner Machwerke zu einem hohen Verantwortungsgefühl beherrscht noch jeder Naturwirt. Er mag sich dabei so unphilosophisch-einfältig geben, wie er will, auch ihm drängt sich sofort die logische Einteilung des Fortschritts in Segen und Fluch auf, und in beiden Abteilungen meint er der größte Realist zu sein, weil er die natürlichen Zusammenhänge aus dem Ärmel schütteln kann. Der Trick ist einfach der, daß so ein Ingenieurshirn, das Uranstäbe nach den Zinskosten zu dimensionieren gewohnt ist, sich auf den Standpunkt stellt, daß seine Technik ein Mittel überhaupt ist. Er schreibt deshalb denselben staatsbürgerlichen Besinnungsaufsatz wie alle anderen Leute:

Erstens - der Segen - was kann man nicht alles z.B. mit dem Atom anstellen? Die Energielücke unserer Wirtschaft wird gestopft, die Neger können endlich das Erdöl für eigene Zwecke konsumieren, aus den gespahrten Kohlen wird Aspirin gemacht usw. usf. Und selbst von den Neutronenbomben kann es nicht genug geben, weil damit ein Krieg erstens nichts mehr kaputt macht und zweitens auch noch verhindert wird.

Umgekehrt, umgekehrt, oder zweitens der Fluch: Die Menschheit bringt sich selber um. Die Polkappen schmelzen ab, alle Leute werden arbeitslos, wer noch arbeitet, findet keinen Sinn mehr, weil den der Computer an sich reißt, und das Vogelzwitschern geht im Lärm der Unterhaltungselektronik unter.

Fazit: DER MENSCH. Ewig irrational und hoffnungslos zurückgeblieben hinter seinem Mittel. Vielleicht könnte man ihm mit einer neuen Technik auf die Sprünge helfen?

Wir meinen: Soll doch ein Ingenieursmensch doch mal von der Abstraktion Mensch und Technik Abstand nehmen, also sich die Dummheit aus dem Kopf schlagen, daß jedes lumpige Individuum auf den roten Knopf im Weißen Haus drücken darf, sich persönliche Atomkraftwerke zulegt und überhaupt die ganze Maschinerie zu eigenem Nutz und Frommen erfunden hat.