Info

Dieser Artikel ist in der MSZ 12-1987 erschienen.

Systematik

Korrespondenz
"WIRKLICHE UMGESTALTUNG GEGEN DIE HERRSCHENDE KASTE"

Betr.: "Polemik gegen die Generallinie der KPdSU"

(MSZ 10-11/87 - "Mit Hebeln geplant")

Eure Kritik an der in der SU praktizierten Wirtschaftslenkung (einschließlich der jüngsten Maßnahmen im Rahmen der perestroika) läuft im Kern darauf hinaus, daß die KPdSU mit immer neuen Varianten von (Pseudo-) Marktmechanismen (Profit, Rentabilität etc.) operiert, anstatt "einfach" umfassend und zentral die Produktion und den Konsum zu planen.

Daran ist soviel richtig, daß die SU mit Sicherheit nicht weniger, sondern mehr gesellschaftliche und wirtschaftliche Planung benötigt, wenn wirklich die Bedürfnisse und Wünsche der Bevölkerung umfassend befriedigt werden sollen (was ihr der KPdSU-Führung durchaus als gute Absicht unterstellen wollt).

Mit dieser Überlegung ist die Sache aber nicht einmal zur Hälfte durchdacht. Das zeigt sich nirgends deutlicher als an Eurer Aufforderung, anstelle der umständlichen Hebelwirtschaft doch einfach "nachzuzählen und die Kommandos zu geben". Aber erlaubt mal, eine solche "Kommandowirtschaft" hat es doch in der SU gegeben, und zwar seit Ende der 20er-Jahre, d.h. in der Stalin-Ära. Damals glaubte die Parteiführung durchaus, auf alle "Hebel" verzichten und die Wirtschaft aufgrund ihrer eigenen weisen Einsichten und Entscheidungen zentral steuern und entwickeln zu können. Und was war das Resultat? Eine grandiose Verschwendung ökonomischer Ressourcen, eine ruinierte Landwirtschaft, Reallohnsenkungen, ein "perfektes" System der Schweißauspressung in den Fabriken (daß jeder Kapitalist seine helle Freude daran gehabt hätte) und schließlich die Herausbildung einer privilegierten bürokratischen Kaste, die sich über die Arbeiter erhob und ihre ureigenen materiellen Interessen glänzend zu vertreten verstand. Diese besteht, wenn auch in wesentlich veränderter Form, auch heute noch, und gerade darin liegt der Kern des Problems: Denn die Planung der Wirtschaft stellt sich nicht bloß als technische Frage, als Methodenproblem (indirekt, mit Hebeln, oder zentral, per Anweisungen?), sondern als Kampf soozialer und politischer Interessen.

Denn solange KPdSU-Politiker "unabhängige Wirtschaftsfachleute" und Planungsbürokraten die Ziele des Wirtschaftens, der Produktioon und des Konsums festlegen, enthalten diese unabhängig von den Methoden - immer im Kern ihre ureigenen politischen und materiellen Interessen, wenn auch gekleidet in schöne Worte von "immer umfassenderer Bctriedigung der Bedürfnisse der Werktätigen" und "Hebung des Volkswohlstands" (wäre es das erste Mal, daß materielle Interessen und ihre ideologische Rechtfertigung auseinanderklaffen?).

Was in den Ländern des realen Sozialismus not tut, ist mithin weder mehr "Markt" und Profitdenken, noch schlicht und einfach Wirtschaftslenkung mittels "Anweisungen und Kommandos", sondern umfassende Planung von Wirtschaft und Gesellschaft m Interesse der Werktätigen, und das kann wiederum nichts anderes heißen als: durch die Werktätigen selbst mittels entsprechender Organe, von Fabrikräten bis hinauf in die politische Führung hinein. (Oder könnt ihr einen vernünftigen Grund angehen, warum die Artikulation der Bedürfnisse und Interessen der Arbeitenden nicht durch diese selbst, sondern für sie durch Politiker und Ökonomen erfolgen sollte?)

Das bedeutet nichts anderes als eine einschneidende, wirkliche "Umgestaltung" von Staat und Gesellschaft in der SU, bei der die herrschende Kaste ihre Macht abtreten muß. Das wiederum wird sie natürlich nicht freiwillig tun (eher hört sie noch auf Eure gutgemeinten Ratschläge zur Wirtschaftsplanung), sondern dazu muß sie gezwungen werden - genau wie die Mächtigen im Westen. Und insofern stellt sich die Aufgabe der Arbeiterbewegung in Kapitalismus und "real existierendem Sozialismus" so unterschiedlich gar nicht dar.

U. H., Tübingen

Mit Bürokratie und Privilegien ist der reale Sozialismus nicht zu erklären

Zu Stalin:

Für jemanden, der sich für Geschichte und Begriff des realen Sozialismus interessiert, wartest Du mit einer ziemlich billigen Sorte Stalin-Kritik auf: r habe diktiert und nicht das Proletariat. Lohnt es nicht die Mühe, einmal nachzusehen, welcher Art die Kommandos und Vorschriften waren, die das sowjetische Volk als Arbeits- und Lebensbedingung zu spüren bekam? Wie hat Stalin die Produktion und Verteilung des Reichtums denn herbeidiktieren wollen? Mit nichts anderem als dem grundsätzlichen Fehler, von dem unser Artikel handelt. Und er war auch nicht verlegen darum, dieses Programm gelegentlich in aller Priinzipienhaftigkeit zu verkünden und durchzusetzen. Auf Ware und Gcld, auf "passende" Preisverhältnisse, die dem Staat seinen Ertrag und den Arbeitenden ihren Dienst ganz gerecht und effektiv garantieren sollten, ließ der gute Mann nichts kommen (vgl. seine Polemik innerhalb der Partei und den "Gegenstandpunkt: Stalin" in dieser Ausgabe der MSZ).

Zur Frage der "bürokratischen Kaste":

Festzustellen, daß ein Funktionär in der Sowjetunion angenehmere Lebensumstände genießt als ein Arbeiter, ist einfach. Die Interessen einer "privilegierten bürokratischen Kaste" zum Grund der Sorte Planung zu erklären, ist verkehrt.

ist es allein deswegen schon ziemlich unglaubwürdig, weil die KPdSU selbst zur Zeit die (falsche) Kritik an ihren Funktionären exekutiert, deren Versagen inkl. Pfründenwesen und Bequemlichkeit trage die Hauptverantwortung für die wirtschaftlichen Mißstände. Wohlgemerkt: Die Herrschenden haben sich das einfallen lassen und nicht die Arbeiter. Eine Erklärung der Sowjetökonomie als Mittel zur Sicherung von Privilegien der Herrschenden ist nicht gerade plausibel, wenn dieselbe Partei periodisch die "Privilegierten" reihenweise absägt.

Glaubst Du wirklich, daß die sowjetische Hebel-Ökonomie das beste und direkteste Mittel zur Beschaffung von Funktionärsvillen wäre? Wer nur an seine private Bereicherung denkt, dem fallen unter Garantie ergiebigere Methoden ein als das umständliche Hebelwesen mit seiner dauerhaften Selbstkritik und Reformdebatte. Was Du als Erklärung der neuen Produktionsweise anbietest, ist deswegen in einem kurzen Brief vollständig zu erledigen, weil Deine Theorie nur in einem Abziehbild des matten bürgerlichen Gedankens besteht: arm und reich - oben und unten. Wie die Interessen der KPdSU beschaffen sind und wie sie sich durchsetzen, weiß man nicht, wenn man sie als die "herrschenden" Interessen dingfest macht.

Gerade weil Du meinst, mit "neuer Klasse" usw. die KPdSU viel grundsätzlicher zu kritisieren als die MSZ - Du bist gar nicht so weit entfernt von deren Standpunkt: An der Frage, wie geplant wird, ob mit Hebeln oder "direkt" - so daß das Planen keine anderen als technische Probleme bewältigen muß -, entscheidet sich nämlich, ob die Interessen der Arbeiter zum Zug kommen oder nicht. Umgekehrt: Daß es vor allem darauf anzukommen hätte, wer in wessen Interesse plant und nicht was, genau das ist der Fehler der KPdSU. Der Standpunkt, daß das Revolutionsprogramm auch schon damit erledigt wäre, wenn "die Wirtschaft" statt für die Interessen der Bourgeoisie für die Interessen der Arbeiter benützt wird, hat sich in der Sowjetunion schöpferisch verwirklicht. Mit der Auffassung ist zwar das Privateigentum abgeschafft und die Bourgeoisie entmachtet worden. Aber in bemerkenswerter Ignoranz gegenüber den Erkenntnissen von Marx, daß die Produktion abstrakten Reichtums den Gegensatz zu den Bedürfnisscn der Produzenten enthält, haben die sowjetischen Revolutionäre geglaubt, der kapitalistische Produktionsapparat mitsamt seinen Rechnungsweisen, die allesamt dem Zweck der Vermehrung von Kapital gehorchen, ließe sich im Prinzip für andere gute Zwecke einspannen. Die schöne Mischung, am Kapitalismus einerseits dessen produktive Leistungen zu bewundern und es andererseits für höchst ungerecht zu befinden, daß die Arbeiter davon so wenig haben, genau die hat es in der Sowjetunion zum Staatsprogramm gebracht. Dieser Standpunkt will alle Wertkategorien als Mittel einer mächtigen Produktion, eben als "Hebel" benützen und vermittels der politischen Festlegung und Aufsicht "im Interesse der Arbeiter" deren gerechten Nutzen garantieren. Was das für eine Ökonomie ergibt, weder Kapitalismus noch Planwirtschaft, und daß davon weder die Arbeiter etwas haben noch die Partei damit besonders zufrieden ist, steht in der letzten MSZ.

Die Interessen der Arbeiter geltend zu machen, ist ohne eine richtige Kritik der kapitalistischen Ökonomie und deren praktische Konsequenzen nicht zu haben, und das ist keine Frage der politischen Formen oder Organe ihrer Artikulation - Räte, Basis usw. Weil die Erfinder und Verwalter des Sowjetsystems sich den Widerspruch leisten, ihre Herrschaft dem Wohlergehen des Proletariats zu widmen und mit ihrer Art Planung lauter Gegensätze gegen dessen Interessen zu etablieren, deshalb blüht ja gerade a auch die einschlägige politische Phantasie, die in lauter Vertretungs- und Mitsprache- und Volksbefragungspraktiken immer wieder die Einheit von Volk und Staat reklamiert. Angefangen von dem merkwürdigen Programm, daß jede Köchin das Regieren lernen soll - als ob das das Handwerk wäre, auf das es in einem Sozialismus vornehmlich anzukommen hätte! -, bis zur heutigen Gorbatschow-Kampagne, die nun wirklich das ganze Sowjetvolk im Namen der Ungleichung von Moral und Interesse mobilisieren will. Und gerade daran ist festzustellen, daß die sowjetischen Werktätigen überhaupt gar nicht daran gehindert werden, ihre Interessen zu "artikulieren". Vielmehr fällt ihnen leider gar nichts anderes ein als der staatsmoralische Unfug und die drei bis vier Weisheiten über gutes Wirtschaften, die sie in ihrem System gelernt haben. Daß es keine Frage der "politischen Organe" ist, beweist z.B. der arbeiterselbstverwaltete jugoslawische Sozialismus aufs schönste: Dort gibt es erst gar keinen Plan, die Arbeiter dürfen bzw. müssen bei jedem Scheiß in ihrem Betrieb mitbestimmen. Davon haben sie nicht das geringste, weil nämlich auch da das Wirtschaften zum Zweck der Gewinnerzeugung und gerechten Verteilung abgewickelt wird. Da mag die Basis noch so viele Rechte haben und sich noch so oft artikulieren, solange ihr der Fehler an dem merkwürdigen sozialistischen Derivat kapitalistischer Ökonomie nicht auffällt, nützt ihr das alles nichts.

Eine Planwirtschaft stellen wir uns im übrigen gerade so vor, daß man sich nicht pausenlos überall darum kümmern muß, ob die eigenen Interessen auch "gesichert" sind, weil die ökonomisch bedingten Interessengegensätze eliminiert worden sind. Sozialismus kann doch schlecht bedeuten, daß sich jeder immerzu mit Fragen der Wasserversorgung, der Getreidezucht, Textilproduktion, Automation usw. befassen muß. Es ist nun wirklich kein theoretisches Problem, Interessen zu ermitteln. Dann bleiben aber auch nur noch technologische, ingenieurwissenschaftliche und organisatorische Fragen. Und laut Marx ist Arbeitsteilung auch eine Produktivkraft.

Wenn jemand in der Sowjetunion eine solche Planung durchsetzen wollte, bekäme er sicherlich Streit mit der Partei. Aber nicht wegen Privilegien und Pfründen: Man könnte ja den Bürokraten glaubhaft zusichern, daß auch sie wie der Rest der Mannschaft von einer solchen Planwirtschaft weitaus mehr Annehmlichkeiten zu erwarten hätten. Streit gäbe es wegen des politischen Standpunkts, der glaubt, ohne eine durchgreifende Inszenierung von Sachzwängen, ohne das Regime der Wertproduktion über die Gebrauchswertproduktion keine produktiven Leistungen für und gegen die Arbeiter durchsetzen zu können.

MSZ-Redaktion