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Dieser Artikel ist in der MSZ 10-1987 erschienen.


TOLERANZ

I.

An Aufrufen zur Toleranz gibt es keinen Mangel. Wir leben in einer Gesellschaft, die sich vor und in allen Banalitäten des Wirtschaftslebens, den von oben verkündeten und ins Werk gesetzten Staatsnotwendigkeiten und dem damit umrissenen Glück der privaten Entfaltung als "menschliches Zusammenleben" preist. Dafür wird schon kleinen Kindern Verständnis beigebracht, selbst für die Ohrfeigen, die sie verpaßt bekommen. In der Schule heißt das Toleranz und dient der Herzensbildung und Besinnung. In deren Namen werden Aufsätze verfaßt, an denen sich der Intellekt angehender Bürger schärft. So hat die Schule doch mehr zu bieten als das kleine Einmaleins.

Täglich melden sich Menschenfreunde zu Wort - mit dem überzeugenden Argument ihrer amtlichen, kirchlichen oder persönlichen Autorität im Rücken -, die zu Rücksichtnahme auf Alte, Ausländer, Krüppel, ledige Mütter und Aids-Kranke auffordern. Die Liste, die da zusammenkommt, haben die an ihre Vergeßlichkeit erinnerten Mitbürger merkwürdigerweise dauernd im Kopf: In den Figuren, die der Toleranz anheimgestellt werden, erkennen brave Deutsche alle die wieder, bei denen sie ein erlaubtes Recht auf herzliche Verachtung und grundsätzliche Mißbilligung haben. Der Personenkreis, der zum Prüfstein dafür erhoben wird, wie ernst wir es mit der menschlichen Qualität unserer Gesellschaft meinen, macht offenbar Erfahrungen, die mit Intoleranz nur matt umschrieben sind. Wo dagegen auch einmal das Wort fällt 'Auch Türken sind Menschen' und eine Spende abgeliefert wird, da sind Verachtung und gutes Gewissen eine innige Gemeinschaft eingegangen.

Gute Gründe für die Tugend der Toleranz gibt es natürlich. Die werden vom Bundespräsidenten verkündet, zu Silvester, und von der Wissenschaft, das ganze Jahr über Sie lauten: Du mußt tolerant sein - und die Existenz einer ganzen Gesellschaft soll von einer Tugend abhängig sein, die nie so richtig ausgeübt wird. Ob die Männer der Wissenschaft das beim Bundespräsidenten abgeschrieben haben oder umgekehrt, ist eine müßige Frage.

"Niemand hat das Recht, sich selbst als im alleinigen Besitz der Wahrheit, den anderen aber als unbelehrbar hinzustellen. Bei aller Notwendigkeit der Auseinandersetzung müssen wir tolerant bleiben. Toleranz schließt die Absage an Gewalt, schließt die Absage an alle Versuche ein, Entscheidungen durch physischen oder psychischen Druck statt durch Argumente zu beeinflussen... Unser demokratisches Zusammenleben beruht darauf, daß Entscheidungen, die in einem rechtsstaatlich gesicherten Verfahren im Parlament fallen, von den Bürgern respektiert werden, auch von denen, die persönlich anderer Meinung sind. Ohne diese Bereitschaft würde der innere Frieden in unserem Lande zerbrechen." (von Weizsäcker, Silvester 1984)

"Ausgehend von der Tatsache, daß Menschen unterschiedliche Interessen haben, wurde Toleranz als sozialethisches Prinzip formuliert. Es verlangt die Duldung anderer Meinungen und Verhaltensweisen. Toleranz hat ihre Grenze dort, wo die Rechte und Entfaltung der Möglichkeiten anderer Menschen verletzt werden. Im Zusammenhang mit der Achtung anderer Menschen und ihrer Selbstbestimmung ist Toleranz eine Grundvoraussetzung der Demokratie. Sie ermöglicht die friedliche Austragung von Konflikten und damit ein humanes Zusammenleben." (Meyers Kleines Lexikon. Politik, S. 415)

Den herzensguten Vorstellungen, wie ein "menschliches Zusammenleben" gehen sollte - Streit vermeiden! -, wären freilich einige Wahrheiten über die Gesellschaft, die es gibt und die so gefeiert wird, zu entnehmen. Offensichtlich ist deren menschliche Qualität so beschaffen, daß in ihr existente Konflikte und streitende Interessen nicht auf ihre Gründe untersucht und kritisiert werden sollen, um ihre Ursachen und sie selbst aus der Welt zu schaffen. Umgekehrt wird mit dem Toleranzgebot eine "Konfiktlösung" propagiert, die das Fortbestehen von vorausgesetzten Interessengegensätzen garantiert.

Respekt vor den Anliegen und Gemütsregungen anderer wird geboten - und die Kosten dieses Respekts für den, der ihn übt, gelten einfach nichts. Wer sich nun aus seiner Beschränkung und dem eigenen Schaden nichts machen soll, ist so schwer nicht auszumachen. Opfer bringen der Toleranz allemal diejenigen Personen, an deren werter Person weniger soziales "Gewicht" hängt, die ökonomisch wie rechtlich minder ausgestattet sind. Das Humanum, dessen tolerante Duldung hier eingefordert wird, besiegelt nicht nur die großen und kleinen Hierarchien des bürgerlichen Lebens, sondern sehr eindeutig die Rechte, die das Geld stiftet - das Privateigentum und dessen Freiheit, mit dem Besitz der Produktionsmittel das Leben einer anderen Klasse von sich abhängig zu machen; es festzulegen auf die Dienstbarkeit für einen gesellschaftlichen Reichtum, von dem deren Produzenten ausgeschlossen sind.

Das hat mit den - zur Verdolmetschung einer menschlichen Notwendigkeit zum Interessenverzicht bemühten - "unterschiedlichen" Interessen nichts zu tun. Die ließen sich ja durchsetzen, wenn ihre Verfechter andere von der Notwendigkeit ihrer Forderungen überzeugen könnten; dann würde sich auch praktisch etwas ändern. Daß jedes Interesse, wenn es sich nicht gleich zurücknimmt, ein ganzes gesellschaftliches Verhältnis ins Chaos stürzen soll, gilt eben nur dann, wo die staatliche Gewalt die Interessen und Bedürfnisse ihrer Untertanen auf den Nutzen und auf die Fortdauer des praktizierten Gegensatzes, der über die Lebensmittel Geld und Kapital abgewickelt wird, festlegt. Dann übersetzt sich die friedliche Idylle eines menschlich-harmonischen Miteinanders zuallererst in die Toleranz gegenüber der staatlichen Gewalt und in das Gebot, das eigene Interesse an dem vorab durch eine ganze Politikermannschaft gesicherten "inneren Frieden" zu messen und zu relativieren. So zählen Interessen weder nach der Vernünftigkeit ihrer Beweggründe noch nach der Bedürftigkeit und Not, der sie bisweilen entspringen, sondern sie bekommen und haben ein Recht; das ist dasselbe wie eine staatliche Erlaubnis. An der und für die haben sie sich zu bewähren - so daß das Recht des Gewährers und seine 'Ordnung' allemal zum Zuge kommen.

Der Staat ist freilich mit der prinzipiellen Einhaltung seiner Friedensregeln in der praktischen Welt nicht zufrieden, sondern erstreckt sein Toleranzgebot auch auf die Welt des theoretischen Meinens. Meinungsvielfalt ist gewährt, damit das eine maßgebliche Interesse in der Gesellschaft, der Umgang der staatlichen Gewalt mit seinem Volk, bei diesem Gehorsam und Respekt findet. Dafür darf die Volksgemeinschaft in all den gesetzlich geregelten und staatlich durchgesetzten Härten ihrer Existenz eine maßgebliche Meinung am Werk sehen, die von geistiger Führerschaft des Kanzlers spricht.

Glaubt man ihren Predigern, dann soll ohne die Bescheidenheit der Toleranz dieses menschliche Miteinander nicht zustandekommen. Da lügen die Apostel dieser Tugend, die die menschliche Natur zum Urheber, Auftraggeber und Gefährder der schönen Harmonie in deutschen Städten und Fabriken erklären, freilich unverschämt. Die Mühe, die eigenen Interessen an den Absichten, die diese nicht zur Geltung kommen lassen, zu relativieren, hat herzlich wenig mit freudigem Entschluß und besserer Einsicht zu tun; schon gar nicht ist sie der Auftakt dazu, daß sich erst Verhältnisse einstellen, die solche Tugend der Selbstverleugnung lohnend machen. Da, wo es darauf ankommt, - in der praktizierten Souveränität der staatlichen Gewalt und ihrer Instanzen und beim Arbeitsklima in bundesdeutschen Fabriken wird vom Verständnis und der Toleranz der Betroffenen nichts abhängig gemacht. Die legen ihrerseits einen berechnenden Umgang mit ihrem Interesse an den Tag; wissen, wo man den Hut zieht und wo man sich etwas herausnehmen kann - auch wenn praktisch nichts daraus erfolgt. Auf ihren Willen, sich unter vorab feststehende Lebensverhältnisse einzurichten, können sie sich theoretisch einen Reim machen: das Lied von den großartigen Chancen, bei denen man es gut getroffen hat oder die einem zu Unrecht versagt werden. So finden sich dann z.B. auch Ehemänner, die sich um die Einlösung ihres Glücksanspruchs betrogen fühlen, zu mehr als der bloß demonstrativen Verachtung ihrer besseren Hälfte berechtigt - so daß die Klage über fortdauernde Intoleranz und Herzlosigkeit nicht ausstirbt und auch der Polizei noch einiges zu tun bleibt.

Da könnte es fast ein Rätsel bleiben, warum die Menschheit fortwährend mit dem Weichspüler 'Toleranz' eingeseift wird, wo sie weder als praktischer Lebensumgang täglich geübt, noch irgendeine der segensreichen Institutionen unserer Gesellschaft von ihr abhängig gemacht wird - gäbe es nicht die Aussage ihrer Befürworter, sie hätte auch Grenzen. Als Verbot entfalten Theorie und Praxis der Toleranz eine beträchtliche Wucht. Gegen die Feinde der Toleranz, die auch gleich als Feinde der Demokratie dingfest gemacht werden, ist der härteste Dogmatismus der Intoleranz geboten und Pflicht.

Wer seine Meinung als begründetes Urteil verficht, aus dem dann auch praktisch etwas zu folgen hätte; wer auf seiner Einsicht besteht, solange sie nicht als falsch widerlegt ist; wer sein Interesse verfolgt, aus dessen Schädigung den Schluß zieht, die Hindernisse, an denen es scheitert, zu kritisieren und zu bekämpfen; wer in praktischen Auseinandersetzungen nicht sofort auf das Gemeinwohl und dessen staatlichen Organisator schielt - der fällt als egoistisch, arrogant, dogmatisch, wahrheitsbesessen und gewalttätig aus dem Konsens der Demokraten heraus. Erwachsene Studenten entfalten ihr Urteilsvermögen, indem sie ein kritisches Argument eines Kommilitonen - an dessen theoretischer Aussage sie der erkennbare Unwille stört, verständnisvoll zu denken -, nicht mehr von einem Messer unterscheiden können wollen. Wenn so ein Vorfall im Seminar stattfindet, finden sich die Anhänger einer Diskussionskultur, die mit "Ich finde" anfängt und sich durch die Konjugation aller Modalverben auszeichnet, nicht bemüßigt, einen Streit anzufangen. Mit dem ins Abseits gestellten Verfasser einer theoretischen Kritik zu argumentieren um ihn nach Kräften zu widerlegen, lassen sie sich nicht zuschulden kommen. Eine weitere Befassung mit unbelehrbaren geistigen Triebtätern verbietet sich; aufgeklärte Demokraten lassen sich nicht manipulieren.

II.

So bekommen Demokraten, die als Staatsbürger und im Arbeitsleben gar keine Chance finden, sich als Helden in Sachen wechselseitiger Duldung auszuzeichnen, ihre Chance, Toleranz zu praktizieren. Sie üben sich in Meinungsfreiheit. Die ist nicht so beschaffen, daß jeder sagt, was er denkt, auf die Richtigkeit seiner Beweisführung achtet, um andere zu überzeugen, und auf praktische Auswege sinnt, wenn mit begründetem Urteil eine Sache der Kritik unterzogen wird, sich als schädlich erweist; im munteren Meinungsstreit der Republik wird der Verstand, der nicht aus dem Intelligenzquotienten besteht, nicht benutzt, um Inhalt und Zwecke der Lebensverhältnisse, für die Staat und Kapital sorgen, objektiv zu prüfen. Leute, die wissen, daß so etwas überhaupt nicht gehen kann, weil sie sich vor der Versuchung gefeit wissen, ihren Verstand so zu überfordern, legen bei allem, was ihnen doch täglich so einfällt, die Bescheidenheit anständiger Menschen an den Tag.

In der festen Überzeugung, daß Meinungen bloß Meinunge sind, und daß von den Leistungen des Verstandes eh keiner nichts erwarten darf, werden sie nicht nachlässig im Gebrauch der Meinungen, sondern unterwerfen sich und sie der strengen Kontrolle einer Sittenlehre anständigen Denkens. Dem Reich der Meinungen und den Persönchen, die darin ihr Selbstbewußtsein bilden und pflegen; gehört bedenkenlose Anerkennung, wenn auch nicht für die dabei zustandekommenden Urteile, sondern für den erkennbar demonstrierten Umgang mit den Abfallprodukten des eigenen Nachdenkens. Im Nachweis der eingehaltenen Denkhygiene, die der theoretischen Leistung des Kopfes so wundersame Eigenschaften wie Höflichkeit und Selbstachtung anempfiehlt, verlassen dann lauter moralische Sieger den Diskussionsplatz. In der Beherrschung der technischen Feinheiten dieses Denksports erweist sich der rhetorische Meister - den Unterlegenen bleibt der Trost, auf die Eitelkeit und Unehrlichkeit nicht hereingefallen zu sein.

Eines wissen beide: Wer es an der gebotenen Höflichkeit gegenüber Professoren und andere Meinungsträgern fehlen läßt, den treibt 'Kritiksucht' und Schlimmeres - und zu Recht wird die Frage aufgeworfen und beantwortet, woher er sich das eigentlich herausnimmt. So ist schon wieder die Frage: Toleranz oder Gewalt? auf dem Tisch. Wer in das eine oder andere Fach fällt, entscheidet sich an der Maxime der Meinungstoleranz, die in ihrer ganzen Dürftigkeit den Verstand aufgeklärter Menschen so in Beschlag nimmt, daß sie zwischen einem theoretischen Urteil, dem Amt und der Stellung von Personen und den Verhaltensregeln gesitteten Benehmens nicht mehr recht unterscheiden können und wollen: Respekt vor der Meinung anderer. Gemeint ist da nicht die vorurteilslose Kenntnisnahme und theoretische Prüfung einer anderen Ansicht und der dafür angeführten Argumente - ein Streit, bei dem sich besondere Verkehrsformen menschlichen Umgangs und die Rücksicht auf das Wer des Gegenübers erübrigen, weil es um die Klärung der Sache geht. Dafür wäre Respekt höchst überflüssig: Entweder man wird sich einig oder entdeckt, daß einen mehr als Meinungsverschiedenheiten trennen. Gefordert ist dagegen die grundsätzliche Anerkennung anderer Meinungen, auch derjenigen, von denen man selbst nichts hält - und dieses Dogma, wie Meinungsfreiheit nur geht, wird nicht bewiesen, sondern im Grundgesetz gewährt. Diese Denkerlaubnis hat mit dem, was da geschützt und freigesetzt wird, nur noch in einem Sinn zu schaffen: als Gebot, eigene und andere Meinungen vor jeder Befassung schon einmal für relativ unerheblich zu würdigen, und als Verbot, sie überhaupt nach den fürs Denken maßgeblichen Kriterien von richtig und falsch wahr- und ernstzunehmen. Respekt gilt dem Menschen, der sie äußert, so daß allein das in Amt, Status und offiziellem Ansehen differenzierte Wer des Meinungsträgers den Gedanken adelt. Diese Sachverhalt hat die moderne Demokratie nicht nur kein Ende bereitet. Sie hat ihm durch den Ruf nach Toleranz und seine gewaltsame Untermauerung das unwidersprechliche Fundament von Moral und Recht verliehen.

Beim anhebenden Meinungsstreit - gesittete Diskutanten wissen, daß sie sich auch im Reich der Gedanken nicht alles durchgehen und alles gefallen lassen brauchen - gilt deshalb auch nicht einfach der simple menschliche Respekt. Wo privat, in der Kneipe oder am Arbeitsplatz Meinungen ausgetauscht werden, zählt in der Regel der friedliche Austausch von Ansichten über Gott und die Welt, der sich aus herzlicher Gleichgültigkeit gegenüber dem Vorgebrachten speist. Zugehört wird schon, um sich wieder einmal das schon feststehende Urteil über charakterliche Mängel des anderen aus dessen Mund bestätigen zu lassen - so kommt auch die Verachtung zu ihrem Recht. Wann ein Streit über die fußballerischen Künste eines Torjägers zur Wirtshausschlägerei führt, hängt ganz von der Laune und der persönlichen Ehre der Streithähne ab. Der berechnende Umgang mit ihr wird zum Inhalt jeder gefaßten und geäußerten Meinung; besonders im Verkehr mit Höhergestellten, wo es darauf ankommt, das richtige Wort zur richtigen Zeit auf den Lippen zu haben. Der Stolz darauf, die geistigen Erwartungen des anderen mit einer fingierten Meinung bedient zu haben, leidet nicht darunter, daß dem Meister der Verstellung als eigene Meinung auch nichts anderes einfällt.

Wo ernsthaft diskutiert wird, da regieren Gefühl und Empfindung als oberster Ausdruck des Urteilsvermögens. In den dazu gehörigen Floskeln, in denen das Bekenntnis zum gegenseitigen Verständnis und die vorab verkündete Unerheblichkeit schon den Wert der Einfälle ausmachen sollen, die noch nachgeschoben werden, wird der Verstand in Form der Heuchelei und der Erpressung gehandhabt. Ausgerechnet die demonstrierte Bescheidenheit, von den eigenen Auslassungen selbst wenig oder nichts zu halten, wird als Durchsetzungsmittel gegen den Rest der Diskussionsmannschaft eingesetzt. Die soll über die geheuchelte Beschränktheit dessen, der sich da "einbringt"; auf eine Anerkennung der eigenen Person und ihres wertvollen Gedankenguts festgelegt werden. So machen denkende Menschen die Lüge von der Manipulation wahr: sie wollen andere für sich vereinnahmen, ohne sie zu überzeugen.

Der billige Eintrittspreis in das freie Reich des Meinungsaustauschs besteht in einem vierfachen Kotau: Was ich sage, ist bloß meine eigene Meinung. Daß sie sich von anderen die eigene Unsicherheit im Urteil beseitigen lassen wollen, haben sie damit nicht ausgedrückt, sondern bestehen darauf, von ihren Gesprächspartnern die gleiche Bescheidenheit abzuverlangen. Selbstbewußte Personen kennen die dämlichen Einfälle, deren sie mächtig sind, umgekehrt als ihren geistigen Besitz, den sie sich von niemandem nehmen lassen. Ihr Gegenüber vertritt dagegen nur seine Meinung, so daß sich die Frage aufdrängt, ob außer ihm sonst noch irgendjemand auf der Welt so bodenlose Spekulationen vertritt. So geht Kritik, ohne daß ein kritisches Wort zu irgendeiner Sache und der dazu vertretenen Ansicht noch fällig wäre die andere Seite der Antikritik, auf die der Andere bezüglich der eigenen Meinung eingeschworen wird. Bevor noch ein Argument zu einer strittigen Sache fällt, wird über die Techniken des ehrenwerten Diskutierens gestritten, und in dieser Auseinandersetzung, in der alle persönlich anerkannt werden wollen, werden Punkte gemacht. So existiert das 'Tolerieren anderer Meinungen' in der praktizierten Meinungsfreiheit noch nicht einmal dem Schein nach, wenn das schlagendste Argument lautet, vom Gegenüber die gebotene Toleranz einzuklagen. Tolerant sind die Teilnehmer an Seminaren und Fernsehrunden lediglich im einvernehmlichen Bekenntnis, sich auf einen Streit samt Klärung gegensätzlicher Meinungen erst gar nicht einzulassen. Ansonsten wissen sie genau, daß vom Bekenntnis zur Toleranz kein Weg zu irgendeiner Stellungnahme führt. Und da sie ihrer werten Meinung allemal ein wenig Gehör verschaffen möchten, äußern sie noch den härtesten faschistischen Einfall wie das trostloseste Geschmacks"urteil" mit dem Zusatz, ihre Einlassung verdiente allemal Beachtung als die Meinung eines Menschen, den man ausreden lassen muß wg. Toleranz. Umgekehrt beherrschen dieselben Zeitgenossen die Kunst, anderen Meinungen das Recht auf Gehör abzusprechen, sobald ihnen die Ehrerbietung gegenüber der Erlaubnis, zu kritisieren, nicht anzumerken ist. Die Frage: Wer darf sich zu Recht eine Meinung herausnehmen? ersetzt den abwegigen Gedanken: Wer hat recht?

Ganz tolerante Meinungshüter, die aus ihrem anerkannten Renommee die Kraft zur Liberalität schöpfen, verleugnen sich umgekehrt selbst. Sie möchten ihr demokratisches Herzblut opfern, damit auch eine Meinung, die sie entschieden ablehnen, zu Gehör kommen kann. Diese zielstrebige Heuchelei der Parteinahme für eine Sache, die von ihnen einer ernsthaften Befassung gar nicht für würdig befunden wird, bringt die allseits geübte Meinungsfreiheit gleich als Prinzip zur Diskussionsgeltung. Als ob ein Gedanke nicht ohne die Geburtshilfe einer fremden Erlaubnis zustande käme, wird seinem Urheber der Dank abgefordert für das Recht, überhaupt denken zu dürfen; und der Entzug des Rederechts steht auf der Tagesordnung.

III.

Alles, was auf ihren wachen Verstand stolze Bürger zustandebringen, wenn sie sich täglich auf diese Weise geistig beharken, zeugt von herzlicher Verachtung dem Mittel gegenüber, das sie so bedenkenlos fürs bloße Meinen einsetzen. "Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldner Baum" - und das trotz Waldsterben. Nicht zufrieden damit, daß in ihrer freien Gesellschaft und in ihrem eigenen Leben sich sowieso nichts weder nach unmaßgeblichen Meinungen noch nach begründeten Urteilen richtet, geht ihr ganzes geistiges Bemühen darauf, die Trennung zwischen Theorie und Praxis wasserdicht zu machen. Dieser Wille, jeden Gedanken als bloß relatives Meinen gelten zu lassen und den Meinungsaustausch als gegenseitige Zensurbehörde zu veranstalten, damit Meinen nur Meinen bleibt, ist ohne den Angriff aufs Denken und ohne eine freiwillige Unterordnung unter praktische Zwänge, die auf ihre Gründe und Zwecke nicht mehr befragt werden sollen, nicht zu haben. Für den theoretischen Beweis, es in Verhältnissen gut getroffen zu haben, weil man sich unter deren Chancen einrichten will, werden dann Argumente fällig, die überzeugender als jeder originelle Einfall zum Gang der Welt sind; und das Denken wird hochgeachtet wegen Leistungen, die der Kopf nicht aushält.

Gestritten wird im Meinungsverkehr einer Gesellschaft, die sich viel darauf zugutehält, daß sie grundsätzlich keine Meinung zensiert und verbietet, bis aufs Messer - mit dem erklärten und geübten Zweck, erst überhaupt keinen Streit aufkommen zu lassen. So disparat und krautundrübenmäßig die Meinungen da antanzen, aus denen erwachsene Menschen ihren geistigen Genuß schöpfen - zur Lichtung des Meinungsdschungels fühlt sich keiner berufen, indem er auch nur eine Ansicht einmal überzeugend widerlegt und für immer ausräumt. Alle drängt es zur Vielfalt der Meinungen, damit jedes geäußerte Vorurteil weiterhin bestehen bleiben kann. Verglichen und auf der Anerkanntheitsskala taxiert werden die Äußerungen der lieben Mitmenschen schon: Wo der Verstand nichts ordnet, da springt die öffentliche Funktion, das Amt und der Bekanntheitsgrad des Gegenübers hilfreich ein, so daß man weiß, was man von einer Meinung zu halten hat und sich auch unerlaubte Zumutungen gedanklicher Art nicht gefallen lassen braucht. Wo Gedanken anerkannt sind, unabhängig von ihrer Begründung, da gilt auch im freien Meinen das, was gilt, obwohl diese Realität ganz ohne logische Schlüsse zustande gekommen ist. Dafür kennen Normalmenschen genügend Situationen, zu denen die beste Meinung 'Schnauze halten' lautet. Wonach sich gerichtet wird, wenn das grundlose Respektieren den Inhalt und die Technik des öffentlichen Meinungsstreits abgibt, sind die Meinungen, die die Macht auf ihrer Seite haben, also gar keine bloßen Meinungen sind.

Nach gründlicher Überprüfung ihrer geistigen Fähigkeiten wollen tolerante Menschen - und das sind alle - sich sicher geworden sein, daß vom Denken nicht zu viel erwartet werden darf. Diese Lüge eines Urteils über das Denken bekräftigen sie mit der Behauptung, mit ihrem Kopf nür lauter mögliche Gedanken verfertigen zu können. Ausgesprochen haben sie, daß ihnen nur an der von vornherein zensierten Geltung aller theoretischen Urteile gelegen ist, die als mögliche gar nicht zustandekommen. An den Staat braucht keiner zu denken, der sich und anderen auferlegt, die eigene Meinung nur nach Maßgabe der Gültigkeit aller anderen für denkbar zu halten andernfalls droht freilich das Chaos. Auf eine begründete und einsehbare Vernünftigkeit ihrer täglichen Lebensverhältnisse wollen es aufrechte Demokraten, denen dazu immerzu die schönsten Sinngedanken einfallen, gar nicht erst ankommen lassen. Lieber werfen sie ihrem Kopf eine praktische Absicht vor, die sie für schwer unpraktisch erachten; sie halten ihren Verstand für grundsätzlich überfordert und mißbraucht, wenn er das einzige macht, dessen er fähig ist: die Welt theoretisch zu beurteilen und die Richtigkeit seiner Urteile zu beweisen; und geben damit kund, daß auch sie wissen, was es mit dem Denken auf sich hat. Daran gewöhnt; daß sich der gesetzlich geregelte bundesdeutsche Alltag und das Geschäftsleben nicht nach ihren unmaßgeblichen Meinungen, die bestenfalls Wünsche sind, richtet, werden sie den Verdacht nicht los, das Nachdenken wäre zumindest bei anderen, ein Hochmut, der vor dem Fall kommt, wenn es nicht gleich seine bloße Möglichkeit beteuert. Sie versichern sich gegenseitig, daß "richtig" und "falsch" im freien Gedankenreich nichts zu suchen haben - so daß die seltenen Exemplare eines "Wahrheitsfanatismus" sofort als Verbrecher gegen den zwischenmenschlichen Benimm und gegen die gebotene Toleranz überführt sind. Kritische Gedanken sterben darüber keineswegs aus; was sie der Sache nach taugen, ist schon damit entschieden, daß ihre Urheber auf das Recht pochen, auch so etwas zu dürfen.

Auf seine Interessen braucht niemand zu verzichten. Im freien Meinungsspiel können die praktischen Anliegen - auch diejenigen, die sich an der Realität ständig blamieren - als theoretischer Standpunkt behauptet werden. Da wird die Lüge wahrgemacht, daß theoretisch dasselbe wie bloß möglich sein soll. Aufs Gemeinwohl besonnenen Bürgern, die gleichwohl wissen, daß auch sie etwas anzumelden haben, kommt das Unterscheidungsvermögen zwischen Interessen und persönlicher Willkür abhanden, so daß schon wieder eine Gelegenheit besteht, den Partner im Meinungsstreit zu überzeugen, indem man ihn der Unehrlichkeit und des Egoismus überführt. Die in der Demokratie gültig gemachten Interessen, die sich in der wirklichen Welt gegensätzlich gegenüberstehen, werden im bloßen Meinen grundsätzlich gleich und vereinbar. Die wechselseitige Duldung gegensätzlicher Interessen, für die die praktische Welt so gar keine Gelegenheit bietet, lassen sich tolerante Menschen so angelegen sein, daß sie zur Komplettierung ihrer Einsichten sich reihum auf alle von maßgeblicher Seite bekannt gemachten Standpunkte stellen. Am schönsten ist es freilich, dem anderen Verstöße gegen sein eigenes Interesse nachzuweisen. Der Erfolg ist ungeheuer: Die geistige Behauptung des eigenen Interesses erfüllt sich im Verzicht auf seine praktische Durchsetzung. Klagen bleiben dennoch nicht aus: Da kennt jeder Standpunkte, die ungerechterweise bevorzugt gelten, wo es doch auf die gerechte Behandlung geistiger Chancen ankäme. Im stolzen Bewußtsein, ihre praktischen Anliegen als möglich einzuklagen, verfallen Bürger ja nicht darauf, sich Gedanken über die so ausgesprochene Unmöglichkeit ihrer praktischen Durchsetzung zu machen, sondern pochen auf das Recht ihrer Erlaubnis. Nicht der eigenen Anstrengung, sondern fremder Gewährung wird das vertretene Anliegen überantwortet, und der hinter ihr stehende Wille trägt sich mit der sprachlichen Beherrschung sämtlicher Modalverben als wünschbar vor. So kommen die mit aller rechtlichen Willkür behaupteten Interessen dem wirklichen Interessenaustrag nicht in die Quere. Für den gilt, daß jedes gesellschaftliche Interesse sich an der Geltung und dem Recht, womit der Staat das ihm entgegengesetzte Interesse ausgestattet hat, beschränkt.

Wo beim Meinen immer noch gedankliche Anstrengungen fällig werden, da feiert gleichwohl die Subjektivität toleranter Persönchen und ihr Selbstbewußtsein Triumphe. Die Objektivität des Gedankens wird durch eine Leistung ersetzt, die gar nicht ins Denken fällt und "selbst" gedacht heißt. Im Nachweis, daß der andere die paar Worte, die dem "ich" noch folgen, nur nachgeplappert hat, beweisen die Diskussionspartner, daß Toleranz ein Mittel zur Wahrheitsfindung ist. Geistige Armut schändet so wenig wie demonstrierte Einbildung, wenn man mit "Ich als Frau kann mich nicht einbringen" den Mund aufmacht. Das stärkt zumindest das eigene Selbstbewußtsein, wenn man so andere auf sich aufmerksam macht und wenn auch nicht wegen des Inhalts der eigenen Meinung, sondern für das Recht auf sie Achtung verlangt. Bescheidenheit ist hier einmal keine Zier: Der Auftakt 'alles, was ich meine, gilt nur für mich' eröffnet das Reich der geistigen Freiheit, in dem sich ohne das Korsett logischer Schlüsse und ohne Rücksicht auf Fakten, die ja nur praktisch gelten, ein Reim und ein Sinn auf die Welt einstellt, der - wenn auch für nichts sonst - für eigenen Durchblick spricht. Solche Individuen lassen sich durch nichts und niemanden etwas vormachen, weil sie ein festes Weltbild haben, von dem sie keiner abbringen darf. Was dann zu Gehör gebracht wird, ist ewig der gleiche Schlager: "Rücksicht, Vorsicht, Nachsicht". Leute, die jede Kritik, die ohne die Bescheidenheit der Toleranz daherkommt, als intoleranten Angriff auf ihre Person nehmen, pflegen nämlich ein grundsätzliches Verständnis für die Welt jenseits des freien Meinens, wenn sie ihre grauen Zellen nicht für ein richtiges Urteil, sondern für ihr Selbst bemühen. Wer Denken mit Selbstbewußtsein verwechselt, ist eben kein hemmungsloser Subjektivist, der zu spinnen anfängt, weil er von der Welt nichts mehr will, sondern auf seine Weise schwer auf Objektivität aus - auch im Reich der Gedanken. Verbürgt und anerkannt ist eine Meinung für das, was hinter ihr steht und ihr Geltung verschafft - und die Macht der Verhältnisse leuchtet geistig ein.

IV.

Demokraten nützen denkend eine Erlaubnis aus und betätigen sich in der staatlich gewährten Meinungsfreiheit. Dieser grundgesetzliche Schutz verbietet keinen Gedanken - anders als die Zensur vergangener Zeiten -, sondern gesteht jeder Meinung ihr Recht auf bloßes Meinen zu. Die praktischen Absichten, von denen Individuen ausgehen, wenn sie ihre Lage überdenken, und auf die die Schlüsse hindrängen, in denen die Menschen sich ihre Gedanken machen, wie die Verhältnisse geändert werden sollten, damit die eigenen Interessen zum Zuge kommen, sind als Meinungen geduldet, wenn sie ihre praktische Belanglosigkeit eingestehen. So ist das freie Meinen und die Welt, in der Interessen nach dem Recht, das ihnen staatliche Gewalt verleiht und entzieht sich richten müssen, gerettet. Dafür gebietet die Meinungsfreiheit bzw. ihr staatlicher Auftraggeber auch im Reich der Meinungen Sauberkeit: Jeder Gedanke ist so weit erlaubt, wie er sich durch Toleranz anderen Meinungen gegenüber auszeichnet, so daß, wenn Leute laut nachdenken, der Inhalt der geäußerten Ansicht mit der Form, sie gesittet bescheiden vorzutragen, zusammenfällt. Wo im Meinungsstreit Interessen artikuliert werden, da gilt die grundsätzliche Anerkennung aller anderen Interessen, auch und gerade derer, die einem nicht gut bekommen; damit unbehelligt jenseits des Meinens der Austrag der Interessensgegensätze gemäß gesetzlichem Recht und staatlicher Gewalt um so unbedingter stattfindet.

Die von seiten des Staates - der nicht einfach gelten läßt, was sowieso ohne ihn durch den Willen und das Bewußtsein denkender Menschen zustandekommt - erlaubte und gebotene Meinungsfreiheit ist der Totschläger jeder Kritik, die als bloße Kritik keiner Widerlegung der Sache nach gewürdigt, sondern als Formverstoß gegen tolerantes Denken praktisch behandelt wird. Raketengegner bekommen zu hören, daß ohne die Bundeswehr und ihre glänzenden Waffen sie noch nicht einmal das Maul aufreißen dürften, sie deswegen auch die Schnauze in Sachen Rüstung zu halten haben. Wo Politiker demonstrativ die Meinungsfreiheit als erlaubte anpreisen, da steht der drohende Entzug - wegen Mißbrauch durch Gegner - Pate. Der schöne Vergleich unserer Demokratie, in der jeder denken und sagen darf, was er will, mit totalitären Systemen - in denen übrigens auch jeder das denkt, was ihm in den Kopf kommt wird öffentlich bemüht, wenn Politiker ihre Unzufriedenheit mit der Dialektik der Meinungsfreiheit - Kritik zu erlauben, um sie gar nicht erst stattfinden zu lassen - ausdrücken. Schon an der Mißachtung der geistigen Umgangstoleranz werden die Leute bemerkt, die "nicht auf dem Boden des Grundgesetzes stehen"; Schulbehörden und öffentliche Gerichte tragen dann keine Meinungsdifferenz aus.

Wo Demokraten sich so das ihnen erlaubte Recht, zu denken, herausnehmen, da kommen im erfüllten Meinungspluralismus nur lauter gleiche Meinungen auf die Welt. Toleranz wissen aufgeklärte Bürger eben nicht als Anstandsregel, beim Diskutieren nicht zu laut zu schreien, sondern als die Bildung passender Gedanken, die durch ihr Verständnis für Verhältnisse, denen sie ihr Staat aussetzt, ihren Dank an den Gewährer der Meinungsfreiheit abstatten. Leute, die immer noch ihren Kopf anstrengen, wenn sie einen Satz formulieren, wollen im Urheber dieser Erlaubnis gleich den Geburtshelfer aller möglichen Auffassungen erblicken, so daß ein geistiges Hallo des Wiedererkennens den Meinungsstreit bestimmt. Ihr Selbstbewußtsein leidet nicht darunter, daß sie den Warenkorb der von Politik und Presse als honorabel verkündeten Meinungen plündern und das ihnen passend Erscheinende heraussuchen. So funktioniert Gleichschaltung, je freier, desto totaler.

Im Dogma, daß die Anerkennung aller Meinungen, die sie so schon vorneweg zensiert haben - mögen sie dann auch noch so disparat sein - die einzige Möglichkeit der Wahrheitsfindung ist, werden sich selbstbewußte Meinungsträger in einem Konsens einig, der überhaupt nur noch Lügen zur Voraussetzung "korrekten" Denkens macht. Ein Politiker versucht beim Wählervolk den Führer der Konkurrenzpartei als Charakterschwein anzuschwärzen, und wird - dank "Spiegel" dabei erwischt. Da meldet keiner die freie Meinung an, daß er dies für recht belanglos hält, verglichen mit den Wirkungen, die er durch die Tätigkeit von Regierungs- und Oppositionspolitikern täglich zu spüren bekommt. Vielmehr sinnt eine ganze Öffentlichkeit und jeder privat zu Hause über mögliche Folgen: Leidet wegen Barschel das Vertrauen der Republik in die Politik, und kippt vielleicht eine Politikerkarriere? Streit gibt es schon auch: Darf ein Hetzblatt überhaupt in das innige Verhältnis der Politiker zu ihrem Wählervolk eingreifen? Oder ist der Glaubwürdigkeit der Politik nicht eher gedient, wenn ein Politiker auch einmal den Hut nimmt, weil er dem Maßstab an saubere Politik, zu dem sich die Öffentlichkeit ein Recht herausnimmt, nicht demonstrativ entsprochen hat? Was Glaubwürdigkeit der Politik für ein Ding ist, will andererseits niemand bemerken können, wenn in einem solchen Skandal die Mittel der Wählerwirksamkeit als dreckige Wäsche auf den Tisch kommen. Statt dessen werden lauter Sorgen und Gefahren gewälzt, damit der gute Glaube an die Sauberkeit der Politik, des politischen Amtes und seiner Inhaber wieder zu seinem Recht kommt - als wäre der bei dieser Diskussion überhaupt in Frage gestellt, bei der es nur um die Radikalisierung blinden Vertrauens geht.

Der oberste Inhaber der staatlichen Geschäfte, für deren Ausübung Gewalt das A und O ist, verkündet lauthals, daß Gewalt kein Mittel der Politik sein darf - und wird nicht ausgelacht. Verstanden und gebilligt ist dieser 'Gewaltverzicht' als drohender Gewaltaufruf gegen alle, die sich in dieser Republik etwas herausnehmen wollen. Das meinungsbewußte Gemüt weiß da ganz richtig zwischen Gewalt und Gewalt zu unterscheiden: Frevelhafte Steinewerfer zerdeppern eine ganze politische Kultur, müssen also aus dem Verkehr gezogen werden; die Vernichtung der Existenz von einigen arbeitslos gemachten Millionen ist ein Problem, mit dem wir leben müssen.

Was da als freies Meinen die Zustände in der Republik begleitet, ohne sie zu überprüfen oder einer Kritik nach Grund und Zweck zu unterziehen, ist nicht einfach purer Gehorsam. Für den, der sich freilich dabei nebenher selbstverständlich einstellt, wäre weder der Gebrauch des Verstandes noch Toleranz erfordert. Die Leistung, die sich in der Übernahme der offiziell verlautbarten Sorgen, Nöte, Gefahren und Notwendigkeiten unserer Gesellschaft und ihres Verwalters betätigt, ist die Verwandlung der staatlichen Gewalt in eine moralische Notwendigkeit. Dann wird sich freilich nicht über verschiedene Maßstäbe der Moral gestritten, sondern sich die von oben angeführte geistige Interpretation aller staatlichen Maßnahmen einleuchtend gemacht. Kritisiert wird wie der Teufel; die Angst vor dem Atomkrieg verschafft sich Luft im Appell an den Kanzler, ihm könne das Regieren über ein in Schutt und Asche liegendes Land doch auch keinen Spaß machen und wird so verabschiedet. So bringen tolerante Menschen, die sich den Willen zur Einsicht erlauben, vor, daß sie in Verhältnissen leben, die sie nicht bestimmen und die ihnen immerzu Verzicht zumuten, um sich geistig über dieses 'trotzdem' hinwegzusetzen.

V.

Den Produkten geistigen Meinungsverkehrs, die ausgetauscht werden, wenn freie Personen sich selbst ins Gespräch bringen, ist der halbherzige Charakter und die bemühte Freiwilligkeit, mit der sich die Welt als passend gedeutet wird, immer noch anzumerken. Die Ansichten, die da vorgebracht werden, haben ihren letzten Grund ja nicht im eigenen Willen, sondern in der Gewalt des Staates und der von ihm geregelten Verhältnisse, auf die sich geistig eingestellt wird, so daß tolerantes Meinen als eigenes Interesse und eigene Leistung nur bedingt zu Geltung kommt. Toleranz als freigewähltes Lebensprinzip und mit dem stolzen Bewußtsein vorgetragen, keinesfalls bloß die matte Reaktion einer Untertanengesinnung zu sein, lebt in der Demokratie nur in der höchsten Sphäre der nationalen Kultur. Dort heißt sie Wissenschaftspluralismus und ist der einzige Gedanke, der in Universitäten und Gelehrtenstuben gewälzt wird.

Wissenschaftliche Einsichten kommen nicht als überprüfbare theoretische Aussagen über die Natur des Gegenstandes, den sie klären wollen, sondern als Ansätze, Methoden und Schulen zur Welt. Vor jedem Streit über die Sache, zu der so lauter disparate und widersprüchliche Auffassungen in wissenschaftlichen Umlauf kommen, wird die grundlose Anerkennung der eigenen Sichtweise eingeklagt, indem jeder anderen das Recht ihres Ansatzes zugestanden wird, so daß sich der Streit auch schon erledigt hat. Gedanken kommen in der Universität dank ihrer "Reichweite" zu Ehren. Toleranz wird als die einzige Leistung, deren denkende Individuen mächtig sind, gepflegt: Sie gilt als Kontrollorgan wissenschaftlichen Streitens und als einziger Urheber zulässiger theoretischer Einfälle, macht also allein Denken möglich, das dann als mögliches Denken Achtung findet. Vor jeder Bemühung des Verstandes gilt ein Konsens der Wissenschaft, der kein Urteil darstellt. Die Skepsis, daß den endlichen Gehirnzellen angesichts einer unendlichen und komplexen Welt ein Wahrheitsanspruch nicht zugemutet werden kann, bildet die sichere Grundlage, die für die in der Universität gehandelten Erkenntnisfortschritte sorgt. Die sind dann subjektive Bekenntnisse zu "erkenntnisleitenden Interessen", unverzichtbaren Wertnormierungen und gebotenen "Methoden". Ganze Abteilungen des Wissenschaftsbetriebs beweisen, daß Theorie nicht anders sein kann, und sei es nur mit dem unbestreitbaren Hinweis darauf, daß Menschen sterbliche Wesen sind. Wer meint, er wüßte schon etwas, und mit diesem Wissen auf Widerlegung anderer Auffassungen dringt, der erweist sich als hochmütig und als Feind der Wissenschaft. Er fordert nicht zur Widerlegung, sondern zu Bekämpfung heraus - als "Feind der offenen Gesellschaft" (Popper), so daß der Ruf nach etwas mehr als wissenschaftlicher Mißachtung ertönt.

Bevor ein Soziologie- oder Ökonomie-Lehrbuch zur Sache kommt, werden künftige Betriebswirte und angehende Mitarbeiter statistischer Landesämter in die Geheimnisse der Wertehierarchie und in die Vielfalt möglicher Betrachtungsweisen eingeführt. Vom Gegenstand, von dem der Titel kündet, bleibt nur der Wille zur Konjunktion "als" und dessen Bebilderung übrig, wenn die bürgerliche Gesellschaft als "strukturelles Gebilde", als "vernetzter Zusammenhang" oder gleich als gern ergriffene Möglichkeit zur "Modellbildung" Berücksichtigung findet. Damit das alles gemäß wissenschaftlichen Regeln stattfindet, gibt es die Erkenntnistheorie als eigenes Fach und als erkenntnisleitendes Interesse jedes Geistesarbeiters. Sie schreibt dem Denken einiges vor, was Objektivität beanspruchen kann, weil es sich gar nicht erst auf das Denken und theoretisch begründete Urteile einläßt: Sie will das, was es gibt, ja erst zustandekommen lassen. Das "Wie sollen wir denken" findet seine moralphilosophische Fortsetzung, die nicht nur Inhaber gleichnamiger Lehrstühle beherrschen.

Als Antwort auf die selbst gestellte Frage: Wie sollen wir handeln" - die eine Erklärung des gesellschaftlichen Treibens, in dem sich auch Professoren umstandslos zurechtfinden erübrigt - soll der wissenschaftliche Erfindungsreichtum durchaus genommen werden. Selbst Modellbauer, die "der Wirtschaft" die es gar nicht gibt, einen Kreislauf zuschreiben, damit man sie so sehen kann, wenn sie so wäre, verzichten nicht auf den Anspruch damit der Menschheit den richtigen Weg gewiesen zu haben. Was sich da der Welt als eines ausgedachten Konjunktivs geistig bemächtigt, macht sich plausibel, indem es den Willen zur Parteinahme für die schon ohne Wissenschaft gültigen Normen und Werte zum Ausdruck bringt. Das geistige Sorgerecht für die von anderen Instanzen bekanntgemachten Nöte der Gesellschaft zu übernehmen, das halten Gesellschaftswissenschaftler für die einzige mögliche, dann aber auch gebotene Dienstleistung des Verstandes. Für die Legitimation von Staat und Gesellschaft - wenn auch für nichts sonst ist Denken brauchbar und kann sich phantasievoll und unter Wahrung wissenschaftlicher Originalität austoben.

Das wissenschaftliche Dogma von der Unmöglichkeit, etwas Genaues wissen zu können, ist nichts weiter als das zum Rang einer Denkqualität erhobene Kritikverbot. So geben tolerante Menschen innerhalb und außerhalb der Wissenschaft zu erkennen, daß ihnen das Wesen des Urteilsvermögens nicht ganz unbekannt ist. Das Toleranzgebot, mehr oder weniger überzeugend zu Herzen genommen, schützt die Existenz des Gedankens vor der ihm einzig möglichen Anwendung: Mit der begründeten Kenntnis über Staat und Gesellschaft eine Anleitung zum praktischen Umgang mit der Natur und dem gesellschaftlichen Reichtum - also gegen die demokratische Lebensordnung und kapitalistisches Geschäft - zu haben und überzeugend einzusetzen.